Jürgen Zurheide: Die Rumänen haben die Ratspräsidentschaft in der Europäischen Union übernommen, und das ist natürlich geschehen mit erheblicher Begleitmusik: Einmal, im eigenen Lande in Rumänien gibt es Konflikte zwischen der Regierung und dem Präsidenten, da geht es dann auch um Korruption oder was manche dafür halten. In Europa selbst gibt es kritische Fragen, ob die Rumänen denn richtig vorbereitet sind auf diese Präsidentschaft. Das alles fügt sich zu einem Bild, und die Frage steht im Raum, nicht nur bei Rumänien, auch bei anderen Ländern: Sind das möglicherweise Europäer zweiter Klasse? Ausdrücklich mit Fragezeichen versehen. Über all das wollen wir reden, und dazu begrüße ich Hannes Swoboda, den österreichischen Europapolitiker, und ich sage, guten Morgen, Herr Swoboda!
Hannes Swoboda: Schönen guten Morgen, Herr Zurheide!
Zurheide: Dieser Hinweis, diese Länder fühlen sich als Länder der zweiten Klasse, ist das richtig oder ist das eher so eine selbst gewählte Opferrolle - wie würden Sie das beurteilen?
Swoboda: Na ja, es ist eigentlich beides. Auf der einen Seite haben viele dieser Länder aus Osteuropa nicht begriffen, dass sie die Entwicklung hin zu Demokratie stärker vorantreiben müssen, dass sie Korruption bekämpfen müssen, dass sie nicht einfach quasi nur Geld empfangen können von der Europäischen Union, aber in den Reformen zurückbleiben oder sogar zurückdrehen. Auf der anderen Seite gibt es sicherlich im Westen, insbesondere auch bei den großen Ländern, nämlich Deutschland und Frankreich, aber nicht nur dort, so ein bisschen eine Einstellung, das sind halt nicht reife Männer oder Frauen, die da zu uns kommen, sondern denen muss man erst etwas beibringen, wie sie in Europa sich verhalten sollen, zum Beispiel auch in der Flüchtlingsfrage. Anstatt mit Incentives und Anreizen zu arbeiten, wollten wir mit Kontingenten Verpflichtungen auflegen, und haben nicht verstanden, warum es diesen Widerstand in manchen Ländern, osteuropäischen Ländern gibt. Da ist schon ein Missverständnis auf beiden Seiten vorhanden.
"Debatte über EU-Zukunft breiter führen"
Zurheide: Die Frage ist ja, Herr Swoboda, wie kann man dieses Missverständnis, was Sie, denke ich, hier zutreffend beschreiben, wie kann man das überwinden? Helfen da solche Hinweise von Herrn Juncker, der dann gesagt hat - ich hab das vorhin nur zwischen den Zeilen angedeutet -, das Land Rumänien sei zwar technisch gut vorbereitet auf diese Ratspräsidentschaft, aber er habe noch nicht den Eindruck, dass die in vollem Umfang begriffen hätten, was es bedeutet, den Vorsitz zu führen. Das ist harter Tobak, oder?
Swoboda: Es ist hart, es ist wahrscheinlich nicht unrichtig, wenn man gerade den permanenten Streit zwischen Regierung und Präsident nicht nur jetzt, sondern seit vielen Jahren sieht. Allerdings, glaube ich, wäre es notwendig, dass das jetzt nicht von der EU-Kommission kommt, sondern auch von den Kollegen innerhalb der Ministerpräsidenten, der Präsidenten, offen miteinander geredet wird, wo die Probleme sind. Die einzelnen Ländern und deren Regierungschefs halten sich da zurück, wollen den anderen sozusagen nie ins Zeug flicken, weil sie selber fürchten, dass sie dann einmal kritisiert werden. Die Parteienfamilien sind viel zu tolerant mit Abwägungen von Grundsätzen der europäischen Rechtsordnung. Das betrifft die Konservativen oder die Europäische Volkspartei genauso wie die Sozialdemokraten. Also die Debatte darüber, was europäisch ist und was den europäischen Rechtsnormen entspricht, das müsste viel breiter geführt werden. Das darf man nicht der Kommission überlassen, weil das ist dann immer Brüssel, die Bürokratie, und das schafft nur noch mehr anti-europäisches Bewusstsein in vielen dieser Länder.
Zurheide: Wo ist denn genau der Ort für diese Debatten, die Sie da ansprechen, die ja absolut notwendig sind, über das auch am Ende europäische Selbstverständnis, die man möglicherweise in früheren Zeiten früher, als man Beitrittsverhandlungen geführt hat, nicht ausreichend klargemacht hat, oder?
Swoboda: Der Europäische Rat ist ja gegründet worden von europäischen Regierungschefs, explizit mit dem Ziel, Leitlinien vorzugeben, die Richtung der Entwicklung vorzugeben. Nur, abgesehen von der Brexit-Frage, behandelt der Europäische Rat weniger diese Fragen, sondern immer nur aktuelle tagespolitische Themen. Da wäre eigentlich der Ort, dass man einmal sich klar wird: was heißt, europäisch sich zu verhalten, was heißt, europäisches Recht zu respektieren. Da müsste man viel stärker vorgehen, und wie gesagt, auch in den Parteienfamilien, denn die meisten dieser Regierungschefs gehören ja entweder der Europäischen Volkspartei oder den Sozialdemokraten an, und die dürften nicht immer nur in einem größeren Ausmaß als notwendig die entsprechenden Regierungschefs verteidigen und akzeptieren, was da geschieht. Da, glaube ich, müsste man viel offener miteinander reden.
"Osteuropäische Staaten leiden unter Abwanderung"
Zurheide: Zumal ja jetzt auch eine Menge Fragen anstehen in Europa, die entschieden werden müssen. Wenn wir noch mal die grundsätzliche Frage wägen und fragen, wie kann man das auflösen, was wir da sehen, das ist ja ein unterschiedliches Verständnis von Europa, und das innerhalb der europäischen Gemeinschaft, eigentlich geht das nicht. Aber jetzt denken wir es nach vorne: Müssen wir nicht akzeptieren, dass es da vielleicht so etwas wie unterschiedliche Geschwindigkeiten gibt, oder ist der Gedanke völlig falsch?
Swoboda: Das ist absolut richtig. Es ist einfach eine viel zu große Erwartung gewesen, dass die verschiedenen Länder sich ganz rasch entwickeln. Viele dieser Länder hatten ja fast nie eine demokratische Phase gehabt oder zumindest nur sehr kurze demokratische Phasen. Es waren nach dem Ersten Weltkrieg gewisse Umbrüche, ohne dass sich die Demokratie schon entwickeln konnte, wenn wir zum Beispiel auch an Ungarn denken. Dann kam der Faschismus, dann der Kommunismus, solche Dinge sind ja nicht von heute auf morgen zu überwinden. Das ist das eine. Das Zweite: Gerade viele dieser Länder leiden unter Abwanderung. Wir sprechen im Westen immer von den Problemen der Zuwanderung, aber die Probleme der Abwanderung, wenn ich an Bulgarien denke, zum Teil auch an Rumänien, sind ja viel größer, oder auch an die baltischen Länder. Die besten jungen Leute gehen weg aus diesen Ländern - man erlebt das ja auch zum Teil im Osten von Deutschland. Auch diese Frage muss man diskutieren und unter diesem Aspekt auch die ganze Flüchtlingsfrage: Was können wir tun, damit einzelne Regionen, Städte sehr wohl bereit sind, Flüchtlinge aufzunehmen? Welche Incentives können wir ihnen geben, welche Mittel zur Verfügung stellen? Anstatt sie nur zu beschimpfen, dass sie nicht die Flüchtlingsquoten erfüllen, die mehr oder weniger vom Westen festgelegt worden sind - aber auch dort nicht von allen erfüllt werden. Also das sind alles Themen, über die man offen und ehrlich miteinander reden müsste. Das wird man nicht von heute auf morgen lösen können, aber zumindest mehr Verständnis füreinander finden können.
Zurheide: Haben Sie die Hoffnung, dass der Wahlkampf zum Europäischen Parlament da etwas mehr Klarheit bringt, oder wird das nicht genau wieder zugekleistert, weil Sie haben die Parteienfamilien angesprochen. Ich sag's zugespitzt: Da rangelt dann jeder, dass er möglicherweise ein Mandat mehr bekommt - und das ist dann wichtiger, als sich über bestimmte politische Dinge zu verständigen?
Swoboda: Das Problem ist, dass in dieser ganzen Situation eher die extremen oder extremistischen Gruppierungen vor allem auf der rechten Seite gewinnen werden, also wenn man so will diejenigen, die ein ganz anderes Konzept von Europa vorhaben, und dass Sozialdemokraten und Volkspartei, zum Teil auch die Liberalen und Grünen schrumpfen oder noch kleiner werden. Das ist dann etwas, was sie eher dazu treibt, noch mehr ihre eigenen Leute zu halten, unabhängig davon, welche demokratische Position sie einnehmen. Insofern wird es schwieriger werden und nicht leichter werden, aber die Debatte, wenn man Europa als ein Grundkonzept, als eine einmalige Konstruktion auf der Welt erhalten möchte, die Debatte ist zu führen. Und das kann man nicht vermeiden, das muss man vor, während, aber vor allem auch nach der Wahl zum Europäischen Parlament führen.
Europa-Zug ist nicht abgefahren
Zurheide: Jetzt könnte man sagen, gerade in Frankreich hat Macron gezeigt, zumindest im Wahlkampf, dass das auch fruchten kann und dass er damit sich Rechten gegenüber durchsetzen kann. Müssen die, die Sie da gerade beschrieben haben, diese Parteienfamilien, das nicht viel offensiver tun, als sie es im Moment tun, oder sagen Sie, der Zug ist abgefahren?
Swoboda: Der Zug ist nicht abgefahren. Ich gebe Ihnen völlig recht, wir haben das auch bei der Wahl zum österreichischen Bundespräsidenten gesehen, man kann mit pro Europa auch gewinnen, und viele oder manche der rechtspopulistischen Parteien, wenn ich zum Beispiel an die österreichische Regierung denke, haben ja inzwischen akzeptiert, dass es dieses Europa geben muss. Der Inhalt, der durch Europa behandelt werden soll, wie Europa konstruiert sein soll, das ist sicherlich die offene Frage. Das muss viel offensiver geführt werden von den Parteien - nicht im Sinne von: wir belehren euch. Sondern im Sinne einer offenen Diskussion, eines Dialogs, und vor allem auch jene mitnehmen, die vielleicht das Gefühl haben, dass sie durch die Politik generell, auch durch die europäische Politik vernachlässigt werden. Wir haben ja gerade in Frankreich gesehen, nur über Europa zu reden allein, genügt nicht - wenn man auf der anderen Seite gewisse Schichten vernachlässigt, dass man gewissen Schichten die finanzielle Last zum Beispiel auch der ökologischen Reformen auferlegt. Das muss schon mitbedacht werden, dass dieses Europa ein soziales sein muss, dass gerade die sozial schwächeren Schichten mitnimmt auf die Reise und nicht wieder als ein Elitenprojekt sich präsentiert.
Zurheide: Und das jetzt noch mal bezogen auf gerade jene Länder im Osten Europas, wie könnte man auch da mehr werben, dass von da nicht eben reaktionäre und ich will nicht sagen faschistische Kräfte, ist vielleicht zu hart der Begriff, aber jedenfalls rechte Kräfte Oberhand gewinnen? Oder ist auch das sehr, sehr schwierig von außen?
Swoboda: Nein, man muss auf der einen Seite schauen, dass man zum Beispiel gerade mit Polen - und es war gut, dass dort auch die Konferenz zur Nachhaltigkeit und zur Umwelt stattgefunden hat, wirklich ein Land, das sehr stark noch auf Kohle basiert, seine Energiegewinnung, wie man ihnen helfen kann, diesen Übergang zu schaffen. Man muss schauen, gerade was die Roma und Sinti betrifft, wie man den Ländern noch stärker helfen kann, die Integration zu schaffen, denn dann sind sie vielleicht auch bereit, Flüchtlinge aufzunehmen, wenn sie im eigenen Land die Integration schaffen. Man muss den Ländern und den Regionen helfen, die besonders von Abwanderung bedroht sind. Abwanderung von besten Kräften, die bei uns arbeiten, aber gleichzeitig eine Lücke hinterlassen in diesen Ländern. Also man muss auch die Probleme, die diese Länder durch die Integration bekommen haben, anschauen, analysieren und ihnen helfen, genau diese Probleme zu überwinden. Ich glaube, das ist ein wichtiger Schritt, und das kann man nur länderweise machen, weil man darf auch nicht alle Länder des Ostens in einen Topf werfen. Gerade zum Beispiel auch das Verhältnis zu Russland ist sehr unterschiedlich, und auch die wirtschaftlichen Probleme sind unterschiedlich. Also nicht immer nur der Westen und der Osten, sondern jedes Land für sich hat seine Probleme und muss stärker in eine gesamteuropäische Lösung einbezogen werden.
Zurheide: Das war ein Plädoyer für Europa, für ein besseres wechselseitiges Hinschauen von Hannes Swoboda, dem österreichischen SPÖ-Politiker. Herr Swoboda, ich bedanke mich heute Morgen für das Gespräch!
Swoboda: Bitte, sehr gerne!
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