Die aktuellen Zuwanderergruppen würden nicht in Arbeitsplätze hinein angeworben, wie die Gastarbeiter vor 50 Jahren, sagte der Historiker. Vielmehr stünden sie hier erst mal in Übergangswohnheimen und vor sehr langfristigen Prozessen der Integration vor Ort.
In der heutigen Situation sind die hohen Flüchtlingszahlen und die größeren kulturellen Unterschiede Herberts Ansicht nach eine besondere Herausforderung. Einwanderungsprozesse ergeben sich langsam. "Schnell geht da gar nichts", sagte der Historiker weiter.
Fachkräftemangel-Diskussion nur bei guter Konjunktur aktuell
Zudem sei der Anteil der Flüchtlinge, die über eine "veritable Ausbildung verfügen", nicht so hoch, wie anfangs vermutet worden sei, sagte der Historiker. Die Wirtschaft stoße diese Diskussion nur in Zeiten der guten Konjunktur an. Wenn eine Rezession anstünde, würden die Zuwanderer aber dem Staat überlassen. "So werden die Gewinne privat abgeschöpft und die Verluste dem Staat abgeschoben", warnte er.
Das Interview in voller Länge
Jasper Barenberg: Verdächtige hat die Polizei seit der Silvesternacht von Köln bisher nur wenige ermitteln können. Wer waren die Täter? Dazu gibt es laut Behörden keine gesicherten Erkenntnisse. Aber einen Wust von Gerüchten und von Meinungen, den gibt es schon bis hin zu all jenen, die es immer schon gewusst haben wollen und jetzt pauschal das Bild von Horden ausländischer Tiere zeichnen, von muslimischen Gewalttätern, die wir als Flüchtlinge in unser Land gelassen haben. Dass die Angst vor Überfremdung auch in der Vergangenheit einen Aspekt der öffentlichen Debatte über Zuwanderung war, das hat der Freiburger Zeithistoriker Ulrich Herbert in seinen Studien auch gezeigt. Darin schlägt er einen Bogen von den Zwangsarbeitern im Nationalsozialismus über die sogenannten Gastarbeiter bis hin zu den Debatten über Flüchtlinge und Einwanderung in den 1980er-Jahren. Ulrich Herbert ist jetzt am Telefon, schönen guten Morgen!
Ulrich Herbert: Guten Morgen!
Barenberg: Dass wir heute so viel Hilfsbereitschaft erleben und in den vergangenen Monaten erlebt haben, aber auch einiges an Abwehr und an Ängsten, dass Offenheit und Ängste sich mischen im Moment, ist das geradezu typisch für den Umgang mit Zuwanderung in Deutschland auch in historischer Perspektive?
Herbert: Ja, ich glaube, das trifft es nicht ganz. Es ist nicht so, dass diese Struktur sich die ganze Zeit über die Jahrzehnte durchzieht. Wir haben in den vergangenen nun mehr als 50 Jahren eher eine Art von Lern- und Erfahrungsprozess durchlaufen. Man darf nicht vergessen, Anfang der 60er- und dann in den 70er-Jahren waren die Irritationen in der Bundesrepublik durch die ankommenden Gastarbeiter aus Italien, aus Jugoslawien, später aus der Türkei massiv. Und erst durch Kontakt, durch Kennenlernen und insbesondere durch den Arbeitsplatz sind diese Irritationen abgebaut worden und ist es dann zu allmählichen Annäherungen gekommen und dann erst in den 80er-Jahren zu einer Normalisierung. Und heute hat jeder fünfte Deutsche einen Migrationshintergrund. Wir sehen also, das hat sich sehr stark verändert im Verlaufe der Zeit. Insofern sind die Kategorien Hilfsbereitschaft oder Abwehr nur begrenzt historisch erkennbar.
"Es gibt kein Rezept"
Barenberg: Aber Sie sprechen von den Vorbehalten, die es natürlich damals gegenüber den sogenannten Gastarbeitern ja auch gegeben hat. Nun haben wir in diesem Programm vor einigen Tagen gehört, dass es auch damals Zuschreibungen gegeben hat, gerade gegenüber italienischen Gastarbeitern, den ersten, die hier nach Deutschland kamen, von denen es hieß, die werden dann unsere blonden Frauen vergewaltigen. Das scheint ja auf den ersten Blick ein ganz ähnliches Muster zu sein. Was ist denn das Rezept, um solche Ressentiments zu überwinden?
Herbert: Ich glaube, es gibt kein Rezept. Deutlich wird, dass sozusagen solche Ressentiments, auch solche Abwehr nur überwunden worden ist durch Kontakte, durch Zusammenleben. Das Entscheidende waren hier vermutlich die Kontakte in den Betrieben. Wer jahrelang neben einem italienischen Arbeiter am Band bei Ford steht, um ein Beispiel zu nennen, verliert diese Ressentiments in aller Regel. Hier in den Betrieben waren übrigens die Ressentiments am geringsten. Das ist das eine. Und das andere ist natürlich auch, dass sozusagen Prozesse von beiden Seiten aufeinander zu gemacht worden sind. Man darf nicht vergessen, die Gastarbeiter wurden ja als vorübergehendes Phänomen wahrgenommen, und zwar sowohl von den Ausländern wie von den Deutschen. Die Ausländer wollten für ein paar Jahre hier arbeiten und dann wieder zurück und noch in den frühen 80er-Jahren waren über 80 Prozent der Deutschen der Meinung, die Gastarbeiter sollten wieder zurückgehen. Und erst langsam hat sich daraus ein Einwanderungsprozess ergeben, der auch lange Zeit nicht als solcher begriffen wurde von beiden Seiten. Also, auch hier ist es eine Frage der Zeit, der Kontakte. Schnell geht da gar nichts.
Barenberg: Schnell geht nichts und es geht auch nur, wenn beide Seiten sich aufeinander zubewegen, haben Sie eben angedeutet. Macht Sie das, was die aktuelle Diskussion angeht auch über kulturelle Unterschiede und Konflikte, macht Sie das eher optimistisch?
Herbert: Derzeit eher nicht. Ich glaube, das ist vor allen Dingen auch eine Frage der Zahl. Wir haben in diesem Jahr eine Einwanderung von mehr als einer Million, das ist eine Größenordnung, wie wir sie noch nie hatten, ausgenommen die Vertriebenensituation unmittelbar nach dem Krieg. Das sind andere Herausforderungen, zumal es sich ja um Menschen handelt, die in der Regel nicht in Arbeitsplätze hinein angeworben werden so wie die Gastarbeiter, sondern hier erst mal in Übergangswohnheimen und sehr langfristigen Prozessen der Integration vor Ort stehen. Das ist doch sehr schwierig, zumal auch der kulturelle Unterschied - noch mal zu Italienern - zwischen den Italienern in den 60er-Jahren und etwa Syrern oder gar Afghanen heutzutage doch einen Unterschied oder eine Differenz ausmacht, die man nicht übersehen kann. Insofern bin ich, was die gegenwärtige Situation angeht, jedenfalls was schnelle Lösungen angeht, auf keinen Fall optimistisch, eher skeptisch.
Herbert: In der Krise überlässt die Wirtschaft die Zuwanderer dem Staat
Barenberg: Und da beruhigt es Sie auch nicht, dass ja gerade Vertreter der Wirtschaft darauf verweisen, wie groß der drohende Mangel an Arbeitskräften, insbesondere an Fachkräften ist und dass es gute Chancen gibt, viele dieser Zuwanderer in den Arbeitsprozess, in das Arbeitsleben in Deutschland zu integrieren?
Herbert: Na ja, diese Diskussion, diese Entwicklung hatten wir schon mehrfach in den letzten Jahrzehnten. Das wird von der Wirtschaft sehr deutlich und markant in Phasen der guten Konjunktur gesagt. Die aber gehen, wie wir wissen, zurück und es wird Krisen geben, es wird auch in Deutschland in absehbarer Zeit wieder eine Wirtschaftskrise geben, das ist gar nicht zu vermeiden. Und dann stellt sich die Frage anders, dann werden nämlich die Zuwanderer dem Staat überlassen, weil es keine Arbeitsplätze mehr für sie gibt, und gewissermaßen so werden dann die Gewinne privat von den Unternehmen abgeschöpft und die Verluste dem Staat zugeschoben.
Das ist, glaube ich, eine problematische Entwicklung, zumal ja der Anteil der Ausländer oder der Flüchtlinge, die jetzt kommen, die tatsächlich über eine veritable Ausbildung verfügen, nicht besonders groß ist oder jedenfalls nicht so hoch, wie es anfangs vermutet wurde, obwohl die Zahlen da ja sehr durcheinandergehen. Außerdem wissen wir das überhaupt nicht, weil ein Großteil der Ausländer ja gar nicht registriert worden ist.
Barenberg: Sagt Ulrich Herbert, der Historiker aus Freiburg hier live im Deutschlandfunk heute Morgen. Vielen Dank für das Gespräch, Herr Herbert!
Herbert: Ich danke auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.