Als vor gut fünf Jahren Hunderttausende Geflüchtete hierherkamen, galt es auch im schulischen Bereich zu improvisieren. Turnhallen wurden zu Schlafsälen umfunktioniert, Vorbereitungsklassen eingerichtet, in denen die neue Schülerschaft schnell die deutsche Sprache lernen sollte. Für alle Beteiligten eine Herausforderung.
Der Journalist Anant Agarwala hat sich über den Zeitraum von fünf Jahren angeschaut, wie Schule, Lehrkräfte, Schüler und Politiker ihre Aufgaben bewältigt haben, und darüber ein Buch geschrieben, das nächste Woche erscheint: "Das Integrationsexperiment".
Anant Agarwala: Der Titel soll auf zweierlei verweisen: erstens darauf, dass man 2015 nicht wusste, wie es ausgehen würde. Als mehrere Hunderttausend geflüchtete Kinder und Jugendliche in die Schulen integriert werden mussten, ohne ein Wort Deutsch zu sprechen, wusste man natürlich nicht wirklich, wie das ausgehen würde. Das ist das eine. Das andere ist, dass man überall improvisiert hat und herumprobiert. Es herrschte eigentlich in fast jeder Schule zu Beginn Chaos und Überforderung. Es fehlten Konzepte, aber es fehlten auch Lehrer, die überhaupt wussten, wie man Ausländern Deutsch beibringt. Jede Schule suchte so ein bisschen ihren eigenen Weg. Man wusste sozusagen, die geflüchteten Schüler sollen in die Regelklassen integriert werden und sollen im besten Fall auch Abschlüsse schaffen, die irgendwie ihren Fähigkeiten entsprechen, aber wie man dieses Ziel erreichen sollte, das war unklar. Es war ein großes gesellschaftliches Experiment mit offenem Ausgang.
"Die Erfahrungen, die gemacht wurden, sind unterschiedlich"
Regina Brinkmann: Sie haben ja mit 70 Lehrkräften und Schulleitungen gesprochen, außerdem mit Ministerialbeamten, Schülern und Schülerinnen und Wissenschaftlern. Welche Äußerungen haben Sie da besonders überrascht beziehungsweise sind Ihnen besonders hängen geblieben?
Agarwala: Insgesamt muss man sagen, dass es keine eindeutige Wahrheit gibt. Die Erfahrungen, die gemacht wurden, sind unterschiedlich. Es ist wenig überraschend, dass die Ministerien grundsätzlich überzeugter davon waren, wie gut es gelaufen ist, als die Schulen selbst. Ein Beispiel, an dem man vielleicht etwas ganz gut veranschaulichen kann, sind zwei syrische Mädchen, Zwillinge, die heute in der Nähe von Stuttgart wohnen. Auf der Flucht damals aus der Nähe von Damaskus sind sie in der Türkei getrennt worden, kamen also unterschiedlich in Deutschland an. Die eine kam nach Baden-Württemberg, die andere nach Berlin. Heute ist die eine an einem beruflichen Gymnasium, hat einen guten Realschulabschluss geschafft und macht schon eine schulische Ausbildung. Die andere ist noch in der Hoffnung, einen Realschulabschluss im zweiten Anlauf zu schaffen an der Schule vorher. Wenn Sie mögen, kann ich Ihnen genauer erklären, warum ich dieses Beispiel wähle.
"Es ist symptomatisch, dass sehr viel von Zufällen abhängt"
Brinkmann: Ja, gerne.
Agarwala: Das ist aus meiner Sicht ganz symptomatisch, dass es sehr viel von Zufällen abhängt. Die eine kam wie gesagt nach Berlin, hatte monatelang gar keinen Schulunterricht, hing da am Tempelhofer Feld in diesem Camp fest, ohne Sprachunterricht zu bekommen. Die andere bekam in Baden-Württemberg relativ schnell Schulunterricht, hatte zusätzlich noch nachmittags Unterricht, wurde gewissermaßen gefördert und auch unterstützt. Die andere hatte keine Unterstützung, verpasste monatelang, den Stoff nachzuholen und auch den Anschluss zu schaffen. So gerieten zwei Mädchen, die die gleichen schulischen Voraussetzungen aus dem Heimatland mitbrachten, die das gleiche Elternhaus mitbrachten, die sehr ähnliche Voraussetzungen hatten für schulischen Erfolg, kommen dann zu zwei ganz unterschiedlichen Ergebnissen. Das ist nicht jetzt Zufall bei den beiden, sondern das ist ganz typisch. Im Durchschnitt dauert es über ein halbes Jahr zwischen der Einreise und dem ersten Schultag. Das ist aus meiner Sicht extrem problematisch, wenn man weiß, wie wenig Zeit bleibt, um eine Sprache zu lernen und dann auch noch möglicherweise einen Abschluss zu schaffen in wenigen Jahren. Das zweite Problem, was sich auch bei den beiden zeigt: Die eine bekam Unterstützung über einen Verein, also nicht über den Staat oder dass das irgendwie vorgesehen war, sondern über einen Verein, die andere bekam das nicht, und dementsprechend fehlte ihr sprachliche Förderung und sie fand den Anschluss im Regelunterricht ist. Auch das ist ganz typisch, die sprachliche Förderung über die Vorbereitungsklasse hinaus hat an ganz vielen Stellen nicht funktioniert.
Eine gewisse Offenheit sei richtig, doch es brauche einen Rahmen
Brinkmann: Schulen haben ja sehr oft ganz unterschiedlich die Bildung und Integration der neuen Schüler und Schülerinnen organisiert. So etwas wird ja auch gern mal als Flickenteppichmethode kritisiert, Sie können dem aber durchaus auch etwas abgewinnen. Warum?
Agarwala: Ich glaube schon, dass es insgesamt absolut richtig ist, den Schulen eine gewisse Offenheit zu geben, ihnen Möglichkeiten zu geben, auf die eigenen Gegebenheiten, also welche Schüler haben wir überhaupt, welche Lehrer mit welchen Qualifikationen haben wir, welche Möglichkeiten für den Ganztag zum Beispiel haben wir, sozusagen auf die eigenen Gegebenheiten der Schüler und der Schule insgesamt einzugehen. Ich glaube, das ist total richtig. Gleichzeitig hat das natürlich Grenzen. Dass es gewisse Vorgaben, einen Rahmen geben muss, unter welchen Bedingungen Integration abläuft, wie man den Erfolg bestmöglich sicherstellt, das ist, glaube ich, eine Sache, wo es noch sehr stark hapert.
"Kaum ein Bildungsministerium weiß, ob seine Maßnahmen richtig waren oder nicht"
Brinkmann: Was würden Sie denn sagen, wie geht es weiter? Wird weiter experimentiert, oder werden die Ergebnisse des bisherigen Experiments in irgendeiner Weise mal ausgewertet?
Agarwala: Es wird extrem wenig ausgewertet. Man kann immer nur hoffen, dass sich irgendwelche Wissenschaftler zu Studien entschließen, die dann Erkenntnisse bringen, weil die Bundesländer selber, die Bildungsministerien, die gehen da erstaunlich lax mit um. Die statistische Aufarbeitung der Integration in den Schulen findet quasi nicht statt. Man kann also sagen, dass eigentlich kaum ein Bildungsministerium weiß, ob die Maßnahmen, die es ergriffen hat, richtig waren oder nicht. Man kann es sich kaum vorstellen, aber das ist heute der Stand. Mangels Daten, zum Beispiel was Abschlüsse angeht oder Wechselquoten von der Grundschule auf weiterführende Schulen, gibt es quasi nicht. Man kann nicht wirklich überprüfen, was gut läuft und was nicht, zumindest wenn man jetzt sozusagen über quantifizierbares Wissen spricht.
"Bis heute sind keine Standards entwickelt worden"
Brinkmann: Also kurzes Fazit beziehungsweise Ausblick: Es wird weiterexperimentiert?
Agarwala: Es wird definitiv weiterexperimentiert, wobei man natürlich sagen muss, dass in den letzten fünf Jahren erstens sehr viel gelernt wurde in den Schulen, viele Erfolge auch gefeiert wurden. Es haben ja Tausende geflüchtete Schüler und Schülerinnen bereits Abschlüsse geschafft. Es ist ja nicht so, als könnten Experimente nicht gelingen, das möchte ich nicht sagen, aber bis heute sind keine Standards entwickelt worden, die man überprüfen könnte oder an denen sich Schulen ausrichten können. Das halte ich schon für ein Problem.
Schulpflicht stärker verfolgen
Brinkmann: Welche Standards würden Sie sich da konkret wünschen?
Agarwala: Zunächst einmal, um Standards zu entwickeln, müsste man natürlich eine Wissensgrundlage schaffen, also gesichertes Wissen darüber, wie erfolgreiche schulische Integration aussieht, wie gestaltet man den Wechsel von der Vorbereitungsklasse, also der Deutschförderung, Sprachförderung, in den Regelunterricht. Wie sieht die sprachliche Förderung nach dem Wechsel aus, weil daran hapert es ganz besonders. Wie viele Stunden stehen einem Schüler, einer Schülerin zu, welche Inhalte werden auch in den Vorbereitungsklassen vermittelt. All das sind Fragen, die man zunächst klären müsste und für die man auch eine gewisse Wissensgrundlage braucht. Das ist das eine.
Dann andere Sachen wie Schulpflicht, dass die sofort greift, sozusagen ganz banale Dinge müssten meiner Meinung nach stärker verfolgt werden, und letztlich auch die Verteilung der Schüler. Das ist bis heute auch ein Problem, das sich sehr stark konzentriert und man ganz wenig darüber weiß, wen man eigentlich wohin schickt und weder die Fähigkeiten noch Begabungen der geflüchteten Schülerinnen und Schüler berücksichtigt.
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