"Die Menschen wollen zu den Kursen", sagte Dagdelen. Das Kernproblem sei, dass es keine ausreichenden Angebote gebe. Die Flüchltinge seien in aller Regel hoch motiviert, würden aber durch gesetzliche Verbote oder Einschränkungen in der Praxis, wie die unzureichenden Sprachkursangebote, zur Untätigkeit gezwungen.
Mithilfe der im Gesetz vorgesehenen Wohnsitzzuweisung würden Asylbewerber zudem bewusst in strukturschwache Regionen gebracht, aus denen die ansässige Bevölkerung "in Scharen" auswandere, so Dagdelen.
Die Große Koalition hatte das Integrationsgesetz heute Morgen bei ihrer Klausurtagung auf Schloss Meseberg beschlossen und als "Meseberger Erklärung" veröffentlicht. Geplant ist in dem Gesetz unter anderem, dass der Staat anerkannten Flüchtlingen künftig unter bestimmten Bedingungen für mehrere Jahre den Wohnort vorschreiben kann. Diese sogenannte Wohnsitzzuweisung wird für drei Jahre befristet eingeführt.
Weiterhin sollen anerkannte Flüchtlinge eine unbefristete Niederlassungserlaubnis in Deutschland künftig nur noch dann bekommen, wenn sie über "hinreichende Deutschkenntnisse" verfügen und ihren Lebensunterhalt "überwiegend" selbst sichern können - und dies erst nach fünf Jahren Aufenthalt in der Bundesrepublik. Bislang gilt hier eine Wartezeit von drei Jahren. Leistungskürzungen könnte es bei einer Verweigerung von Integrationsangeboten geben.
Das Interview in voller Länge:
Jasper Barenberg: Fragwürdig, fehlgeleitet und populistisch - Menschenrechtsorganisationen, aber auch Kirchen und Gewerkschaften haben viel auszusetzen am Integrationsgesetz von SPD und Union, weil es in ihren Augen unterstellt, dass Flüchtlinge und Zuwanderer sich gar nicht integrieren wollen. Die Koalition dagegen spricht von einer guten Balance von Fordern und Fördern und dazu gehöre eben auch, Erwartungen an Zuwanderer zu formulieren. Auf ihrer Kabinettsklausur in Meseberg haben die Kanzlerin und ihr Vize diese Pläne nun vorgestellt.
Die Koalition feiert sich für Handlungsfähigkeit und dafür, die Themen der Zukunft in den Blick zu nehmen. Dazu zählen Union und SPD natürlich auch das Integrationsgesetz. Das sehen andere kritisch, zum Beispiel Sevim Dagdelen, in der Fraktion der Linkspartei zuständig für die Themen Migration und Integration. Schönen guten Tag, Frau Dagdelen.
Sevim Dagdelen: Schönen guten Tag, Herr Barenberg.
Barenberg: Wir wollen über dieses Integrationsgesetz sprechen. Ist es denn gut und richtig, Flüchtlingen und Zuwanderern klar zu machen, was wir von ihnen erwarten, damit das Zusammenleben hier in Deutschland gut klappt?
Dagdelen: Es ist immer gut und richtig zu sagen, was die Grundlage unseres friedlichen Zusammenlebens ist. Allerdings geht dieser Gesetzentwurf der Bundesregierung von zwei Grundannahmen aus, die meiner Meinung nach beide unzutreffend sind, und das haben ja auch beide Kirchen, das Institut für Menschenrechte, Pro Asyl, selbst der Hohe Flüchtlingskommissar des UN-Werkes gesagt. Es trifft weder zu, dass Schutzberechtigte grundsätzlich und überwiegend integrationsunwillig oder integrationsunfähig wären. Und noch weniger trifft es zu, dass ein unsicherer Aufenthaltstitel und der drohende Verlust einer langfristigen Aufenthaltsperspektive sich positiv auf die Integrationsleistungen der Betroffenen auswirken. Das Gegenteil ist nämlich der Fall. Wer sich auf die Stabilität eines Aufenthaltstitels nicht verlassen kann und seine Perspektive in Deutschland als unsicher betrachten muss, wird in seinen Integrationsbemühungen eher geschwächt als gestärkt. Das sagt alle Erfahrung.
"Unser Kernproblem besteht darin, dass es nicht genügend Integrationskurse gegeben hat"
Barenberg: Sie haben es gesagt: Eine wesentliche Kritik an diesem Gesetz lautet, es unterstelle, dass die Zuwanderer unfähig oder unwillig wären, sich in Deutschland zu integrieren. Wo lesen Sie das in dem Gesetzentwurf?
Dagdelen: Es sind die Leistungsbeschränkungen, die dort gemacht werden. Ständig wird gesagt, bei Integrationsverweigerung gibt es diese Leistungskürzungen, es wird Sanktionen geben. Und selbst die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Aydan Özoguz, hat gesagt, dieses Gesetz ist integrationsfeindlich, unüberlegt und es ist reine Stimmungsmache des Bundesinnenministeriums. Weil das Problem besteht nicht darin, dass Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten kein Interesse hätten an Integrationsangeboten, sondern unser Kernproblem besteht darin, dass es nicht genügend Integrationskurse zum Beispiel seitens des BAMF, seitens der Bundesregierung bisher gegeben hat.
"Es wird wieder zu wenig an Kursen angeboten"
Barenberg: Da soll ja nachgebessert werden, was die Kurse angeht. Die Wartefristen oder die Fristen, bis es zu einem solchen Kurs kommt, sollen zum Beispiel verkürzt werden. Wir hatten anfangs darüber gesprochen und Sie hatten gesagt, es ist gut und richtig, dass man die Grundlagen nennt, unter denen das Zusammenleben hier funktionieren soll. Dann gehen wir doch in ein Detail und ich möchte Sie gerne fragen: Die Flüchtlinge sollen Deutsch lernen, sollen die Deutschkurse bestehen und nach fünf Jahren ihren Lebensunterhalt nach Möglichkeit zu weiten Teilen selbst sichern können. Was ist daran eine Zumutung?
Dagdelen: Das Erste ist: Es soll Verbesserungen geben bei den Integrationskursen. Aber ich sage Ihnen eine Zahl: 2016 werden 559 Millionen Euro für Integrationskurse bereitgestellt. Das ist gerade mal genug für ungefähr 300.000 TeilnehmerInnen. Aber realistisch muss man davon ausgehen, dass wir bis zu 800.000 Plätze brauchen dieses Jahr, 800.000 Plätze, und es stimmt dann von vorne bis hinten nicht die Rechnung der Bundesregierung. Es wird wieder zu wenig an Kursen angeboten und dann wird den Flüchtlingen zur Last gelegt, dass sie nicht die Kurse besuchen würden.
"Ich bin gegen Sanktionen, weil Sanktionen bringen nichts"
Barenberg: Aber bei dem Grundsatz sind Sie einverstanden, es ist gut, wenn man den Flüchtlingen sagt, den Zuwanderern sagt, ihr habt die Pflicht, Deutsch zu lernen, weil nur so kann das Zusammenleben hier funktionieren?
Dagdelen: Ich bin aber gegen Sanktionen, weil Sanktionen bringen nichts. Alle Erfahrungen beweisen das und das wissen wir auch beispielsweise bei Hartz IV, und nicht umsonst trägt ja auch dieses neue sogenannte Integrationsgesetz auch das Motto von Hartz IV, Fördern und Fordern. Die Asylbewerber sollen möglichst knallhart in dieses Hamsterrad des deutschen Dumpinglohn- und Armutsarbeitsmarktes auch reingepresst werden. Es geht nicht nur um die Kurse, das ganze Gebilde, etwas sanktionieren zu müssen, was überhaupt nicht an Angebot da ist, was Menschen annehmen können, das ist meiner Meinung nach Stimmungsmache, das ist Populismus. Das ist auch ein Vortäuschen von Aktivität der Bundesregierung. Das wirklich Notwendige, nämlich ausreichende Sprachkursangebote, schnellere Asylverfahren, dort wird nichts getan.
"Die Menschen wollen zu den Kursen"
Barenberg: Aydan Özoguz - Sie haben sie erwähnt - hat zu dem Gesetz aber auch gesagt, dass diese Deutschkurse und die Pflicht, Deutsch zu lernen, eine gute Motivation sind, weil die Menschen sich dann darauf verlassen können, wenn sie das machen, dann haben sie auch eine Bleibechance hier in Deutschland.
Dagdelen: Ich sage Ihnen noch einmal: Die Menschen wollen zu den Kursen. Ich bin seit 2005 im Bundestag und bearbeite diese Themen. Seit 2005 weiß ich nachweislich, dass es immer mehr Bedarf gegeben hat und Nachfrage, als es Angebote gegeben hat. Das Kernproblem ist, dass es keine ausreichenden Angebote gibt, und Flüchtlinge sind in aller Regel hoch motiviert und werden eigentlich eher durch gesetzliche Verbote oder Einschränkungen in der Praxis wie die unzureichenden Sprachkursangebote zur Untätigkeit gezwungen.
Barenberg: Wenn es um dieses Prinzip Fordern und Fördern geht, dann würden Sie als Linkspartei dafür plädieren, Fördern ja, Fordern nein?
Dagdelen: Das ist ja auch eine Anforderung. Aber ich halte nichts davon. Ich glaube, dass das Prinzip von Sanktionierung von vor allen Dingen etwas, was nicht da ist, eigentlich falsch ist und Sanktionen bringen nichts. Deshalb setzen wir uns als Linke auch dafür ein, dass die Sanktionspraxis bei Hartz IV auch abgeschafft gehört, weil das die Menschen immer mehr in die Not bringt und auch Unsicherheiten dadurch schafft.
"Soziale Brennpunkte kann man nicht handhaben durch Wohnsitzauflagen"
Barenberg: Lassen Sie uns über einen zweiten strittigen Punkt sprechen. Es geht um die sogenannte Wohnsitzzuweisung, das Recht, das die Länder erhalten sollen, je nach Situation in den Kommunen und Landkreisen die Flüchtlinge zu verpflichten, über drei Jahre an einem Wohnsitz zu bleiben. Was ist daran schlecht? Die Wirtschaft fordert es und beispielsweise auch der Deutsche Städtetag, die Vertretung der Kommunen und Städte sagt, das brauchen wir ganz dringend.
Dagdelen: Ich verstehe natürlich, dass der Bedarf besonders in den Kommunen da ist. Ich komme ja selbst aus dem Ruhrgebiet. Da ist es wichtig, irgendwie eine Planbarkeit zu haben, besonders zum Beispiel natürlich in den sozialen Brennpunkten. Aber soziale Brennpunkte kann man nicht handhaben durch Wohnsitzauflagen. Das ist absurd. Da müsste man ja generell eine Wohnsitzauflage für alle Menschen machen, auch die einkommensschwachen sozusagen, die nicht in bestimmte Gebiete ziehen sollten, sondern vielleicht in eine andere Umgebung, um einen Ausgleich zu schaffen. Ich finde erstens: Völkerrechtlich verstößt es gegen die Genfer Flüchtlingskonvention und auch gegen die europäische Menschenrechtskonvention, hier diese geplante Wohnsitzauflage. Aber ich habe auch Zweifel an der Wirksamkeit bei dieser Wohnsitzauflage, weil Flüchtlinge so bewusst in strukturschwache Regionen gebracht werden, dort gehalten werden sollen, wo es Wohnungen gibt, weil die ansässige Bevölkerung ja in Scharen diese Gebiete verlässt, aber es gibt keine Arbeitsmöglichkeiten und dies behindert dann natürlich die Arbeitssuche. Nicht zuletzt, glaube ich, ist es wichtig, dass man darüber nachdenkt, dass Wohnsitzauflagen auch eine Arbeitssuche verhindern, da sie familiäre und freundschaftliche Bande wie zum Beispiel soziale Netzwerke überhaupt nicht berücksichtigen, die für eine Beschäftigungssuche in der Praxis aber enorm wichtig sind.
"Integration hängt ja nicht nur von den Wohnungen ab"
Barenberg: Ich weiß ja nicht, wie Ihre Erfahrungen sind. Meine ganz persönlichen sind, dass es in ländlichen Gebieten oft leichter ist, gute Wohnungen für die Flüchtlinge zu organisieren, dass es viel Unterstützung aus der Bevölkerung gibt, und auch, was den Spracherwerb angeht. Kann man nicht doch sagen, dass da, wo es Sinn macht, es auch Sinn macht, die Flüchtlinge gleichmäßiger zu verteilen, damit wir nicht diese Probleme haben in sozialen Ballungsräumen?
Dagdelen: Aber die Integration hängt ja nicht nur von den Wohnungen ab. Sie hängt natürlich vor allen Dingen davon ab, dass ich eine soziale Teilhabe durch den Zugang und die Beschäftigung auf dem Arbeitsmarkt erreiche. Und ich weiß aus Erfahrung, viele Flüchtlinge, die auch zu den Beratungen kommen, die sagen selbst, sie haben ja auch diese Residenzpflicht etc., und wenn sie dann in bestimmte Gebiete zugeteilt werden, dann schreiben sie Hunderttausend Bewerbungen, aber es gibt einfach keine Arbeit. Und da muss man gucken, wie kann ich dem entgegenwirken, nicht durch eine Auflage, sondern eine Öffnung für den Arbeitsmarkt, eine Qualifizierung, Arbeitsmarktintegration zu verbessern, die Ausbildung zu verbessern und wirklich dort anzusiedeln, wo auch Arbeit ist. Ich meine, Sie und ich würden ja auch nicht irgendwo hingehen, wo wir keine Arbeit finden.
Barenberg: Völlig richtig. - Sevim Dagdelen von der Linkspartei. Vielen Dank für das Gespräch heute Mittag.
Dagdelen: Ich danke Ihnen auch, Herr Barenberg.
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