Wer nicht "woke" ist, also ein waches Bewusstsein für soziale Ungleichheiten und Fragen von Geschlecht, Rasse oder Religion hat, der fühlt sich heutzutage offenbar oft als reaktionär abgestempelt - vor allem in den USA. Konservative und gegen den "linken Mainstream" angehende Meinungen würden dort nicht toleriert, kritisieren Vertreter dieser Meinungen.
Dass da etwas dran ist, zeigt der Fall der New York Times-Kolumnistin Bari Weiss, die ihren Arbeitgeber verließ. Begründung: Sie habe es sattgehabt, von ihren Kollegen als Nazi oder Rassistin diffamiert zu werden. Jüngst sorgte auch ein offener Brief im Harper’s Magazine für Aufsehen, der den freien Austausch von Ideen als gefährdet diagnostizierte. Gegen diese vermeintliche politisch korrekte Meinungsdiktatur formiert sich Widerstand in Form einer Bewegung, die sich als "Intellectual Dark Web" bezeichnet.
Das "Intellectual Dark Web" ist eine Gruppe von Akademikern und Publizisten. Wie der Name bereits suggeriert, handelt es sich um eine Gegenbewegung. Denn das "Dark Web" ist ein versteckter Teil des Internets, eine digitale und oftmals kriminelle Gegenwelt, in der es keine Filter gibt – also ein anarchischer Ort, wo man tun und lassen kann, was man will.
Dieses libertär kolorierte Sinnbild greift diese Bewegung auf, indem sie gegen eine ihrer Meinung nach an US-Universitäten und in den US-amerikanischen Leitmedien vorherrschende linke Meinungsdiktatur protestiert. Diese bestraft ihrer Ansicht nach abweichende Positionen mit moralischem Boykott, der gravierende Konsequenzen für die Betroffenen haben kann. Das "Intellectual Dark Web" tritt für etwas ein, das eigentlich selbstverständlich sein sollte: einen konfrontativen Meinungsaustausch und das Aushalten und Debattieren unbequemer Meinungen.
Diese Gruppierung ist ziemlich heterogen. Gegründet wurde sie von dem Mathematiker Eric Weinstein, der den Begriff 2017 erstmals zu gebrauchen begann. Mit dabei sind der Psychologe Jordan Peterson, ein scharfer Kritiker von intersektionalem Denken und von allem, was mit Identitätspolitik zu tun hat. Außerdem der Traditionalist Ben Shapiro, der in den USA berühmte Podcast-Host Joe Rogan oder die Aktivistin Ayaan Hirsi Ali.
Keines wie in den USA, aber es gibt schon Vergleichbares hierzulande - zumindest gewisse Protagonisten und Medien, die mit der Agenda des "Intellectual Dark Web" sympathisieren.
Man könnte beispielsweise auf die "Achse des Guten" verweisen, die Meinungen abbildet, die sich gegen einen linken Zeitgeist richten. Aber auch Schreiber aus dem Umfeld der Tageszeitung "Die Welt", also Journalisten wie Ulf Poschardt, Henryk M. Broder, der auch für die "Achse des Guten" tätig ist oder Rainer Meyer, der unter dem Namen Don Alphonso publiziert.
Damit wäre ich vorsichtig. Ich würde zwischen den USA und Deutschland stark unterscheiden, weil der Diskurs in den Vereinigten Staaten viel schärfer als hierzulande geführt wird.
Ähnlich ist, dass sich offenbar zwei privilegierte Gruppen miteinander streiten. Progressive bildungsbürgerliche linke Aktivisten mit akademischer Ausbildung und rechte Konservative, die ebenfalls nicht aus bildungsfernen Schichten stammen.
Die tatsächlich Benachteiligten bleiben in der Regel außen vor. Denn: Diese Debatten, die zwischen diesen beiden Gruppierungen ausgetragen werden - von einer sogenannten "linken Sprachpolizei", korrektem Gendern, einer weißen Erbschuld und so weiter, die helfen natürlich nicht diesen Menschen. Es ist also ein elitärer Diskurs, der hauptsächlich im Netz und in den sozialen Medien stattfindet.
Blickt man in diese digitalen Hallräume, so ist der Vorwurf, die Meinungsfreiheit sei heutzutage gefährdeter denn je, schlichtweg absurd. Denn: Wo sonst als im Netz werden radikale Positionen geäußert. Da ist das gesamte Meinungsspektrum vertreten, von Attila Hildmann bis Hengameh Yaghoobifarah.