Michail Bulgakows tiefgründig fantastischer Roman "Der Meister und Margarita" ist nicht nur in Russland, sondern auch bei uns zum immer wieder neu interpretierten, populären und legendenumwobenen Kultbuch geworden. Dabei ist das andere, so reiche und vielfältige literarische Werk dieses großen russischen Schriftstellers des 20. Jahrhunderts allzu sehr in den Hintergrund getreten und droht in Vergessenheit zu geraten - obwohl es ja in der 13-bändigen Ausgabe des leider abgewickelten Verlags Volk und Welt fast komplett und gut kommentiert auch in Deutsch vorliegt.
Es ist deshalb sehr verdienstvoll, dass die Sammlung Luchterhand Bulgakows wichtigste Bücher in einer äußerst preiswerten und originell gestalteten Taschenbuchausgabe wieder für jeden zugänglich gemacht hat.
Gerade sind unter dem Titel "Arztgeschichten" seine faszinierenden frühen "Aufzeichnungen eines jungen Arztes" wieder erschienen. Sie waren 1926 /27 in der Arztzeitschrift "Medizinskij Rabotnik / Der Mediziner" einzeln publiziert worden und sind erst Jahrzehnte nach dem Tod des Schriftstellers als Buch erschienen.
Schon der Publikationsort in einer Zeitschrift für Ärzte weist darauf hin, dass hier ein ganz anderer Bulgakow vor uns steht, als der spätere groteske Gesellschaftssatiriker.
In diesen stark autobiografisch geprägten Erzählungen nämlich hat Bulgakow realistisch, lebendig und äußerst anschaulich seine eigenen Erfahrungen als junger Arzt verarbeitet. Nachdem er im Sommer 1916 sein Medizinstudium an der Kiewer Universität wegen des Kriegs vorzeitig abgeschlossen hatte, war er – nach kurzem Studenteneinsatz in einem Frontlazarett – sogleich als Arzt in ein abgelegenes Landkrankenhaus im Dorf Nikolskoje, Gebiet Smolensk geschickt worden. Bulgakow war dort neben wenigen Feldschern, Hebammen und Krankenpflegern der einzige Arzt, der die ganze Last der Verantwortung für alles zu tragen hatte. Die realen Umstände, Ortsbeschreibungen und medizinischen Gegebenheiten dieser Erzählungen sind – wie wir aus den Erinnerungen von Bulgakows erster Frau Tatjana Lappa sowie aus einem in dem Band abgedruckten Zeugnis über seine damalige Tätigkeit wissen - in den Fakten und den vielen genau beobachteten Details authentisch. Und auch die längste Geschichte "Morphium", das Tagebuch eines Suchtkranken, die durch die Herausgeberfiktion des Ich-Erzählers größere Distanz zum Geschehen signalisiert, beruht auf eigener Erfahrung. Bulgakow war zeitweilig morphiumsüchtig.
Aber trotz dieser autobiografischen Materialgrundlage stellt das Buch ein Stück meisterhaft gestalteter fiktionaler Dichtung in der Tradition der Arztgeschichten von Anton Tschechow dar. Da das Figurenensemble immer gleich bleibt, verbinden sich die Geschichten zu einem spannungsgeladenen Roman über das erste Berufsjahr eines jungen Intellektuellen in der finstersten russischen Provinz.
Der blutjunge, unerfahrene Arzt, direkt von der Universitätsbank in das einsame Schneesturmrevier verschlagen, muss mit den dramatischsten Krankheitsfällen und Notsituationen fertig werden: da ist die schöne junge Frau in der Erzählung "Das Handtuch mit dem Hahn", die bei Erntearbeiten in die Flachsbreche geraten ist und deren zerschmettertes Bein sofort amputiert werden muss; das um Atem ringende dreijährige kleine Mädchen mit Diphtherie in der Geschichte "Die stählerne Kehle", das nur durch einen gewagten Luftröhrenschnitt gerettet werden kann; komplizierte Entbindungen bei Querlage des Kindes, das der junge Ich-Erzähler, der das noch nie gemacht hat, im Mutterleib wenden und am Beinchen herausziehen muss.
Die furchtbare Einsamkeit, Angst und Nervosität des jungen Arztes, der manchmal in den Vorbereitungspausen zu einer Operation hektisch in den entsprechenden medizinischen Fachbüchern blättert, findet Ausdruck in erregten inneren Monologen und Zwiegesprächen. Aber wenn er dann bei seiner gefährlichen und verantwortungsvollen Arbeit ist, wundert er sich selbst über seine Ruhe und wie er mit fester Stimme die nötigen Anordnungen trifft. Durch sein Können erlangt der Doktor einen beachtlichen Ruf und immer mehr Patienten drängen sich in seiner Praxis. Zu verdanken aber hat er diesen Erfolg auch seinen beiden Hebammen und dem Feldscher mit ihrer jahrzehntelangen praktischen Erfahrung, die treu an seiner Seite stehen im Kampf mit der "ägyptischen Finsternis" – so der Titel einer Erzählung – der Unwissenheit und dem Aberglauben der meisten Patienten. Da kommt es vor, dass das Senfpflaster nicht auf die Haut, sondern auf den Pelz geklebt, das verschriebene Chinin gleich packungsweise geschluckt wird, oder mit Zucker im Geburtskanal das Kind herausgelockt werden soll. Die genauen, lebendigen, häufig auch komischen Dialoge mit den Patienten zeigen den künftigen erfolgreichen Theaterautor Bulgakow.
Wesentliches Thema der Erzählungen ist die Konfrontation des jungen städtischen Intellektuellen mit der Dumpfheit und Unaufgeklärtheit der Menschen auf dem Lande. In der Erzählung "Ein Ausschlag wie ein Sternbild" wird dem jungen Arzt zum Beispiel schmerzlich bewusst, dass die Syphilis deshalb so schrecklich ist, weil sie den Bauern nicht wirklich Furcht einflößt. Kaum sind die ersten Krankheitssymptome abgeheilt, brechen sie die notwendige jahrelange Behandlung ab und verschwinden aus dem Blickfeld des Arztes.
Das harte Arbeitsjahr in dem abgelegenen Hospital mit seinen geglückten Heilerfolgen und bedrückenden Niederlagen haben den jungen Arzt verändert und stärker gemacht.
Interessanterweise spielt die Revolution in der 1917 spielenden Handlung überhaupt keine Rolle. Aber die Erzählungen, die noch die vorrevolutionäre Tradition der Verantwortung der fortschrittsgläubigen russischen Intelligenzija gegenüber dem Volk spiegeln, strahlen kraftvolle Energie und Hoffnung aus.
Mit Bitterkeit denkt man an das spätere tragische Schicksal Bulgakows in der Sowjetunion, der in seinem schmerzerfüllten kurzen Leben in Depressionen versank und seinen überragenden posthumen Schriftstellerruhm nicht mehr erlebte.
Michail Bulgakow: "Arztgeschichten". Erzählungen. Aus dem Russischen von Thomas Reschke, Sammlung Luchterhand 2009, 142 Seiten, 8,00 Euro.
Es ist deshalb sehr verdienstvoll, dass die Sammlung Luchterhand Bulgakows wichtigste Bücher in einer äußerst preiswerten und originell gestalteten Taschenbuchausgabe wieder für jeden zugänglich gemacht hat.
Gerade sind unter dem Titel "Arztgeschichten" seine faszinierenden frühen "Aufzeichnungen eines jungen Arztes" wieder erschienen. Sie waren 1926 /27 in der Arztzeitschrift "Medizinskij Rabotnik / Der Mediziner" einzeln publiziert worden und sind erst Jahrzehnte nach dem Tod des Schriftstellers als Buch erschienen.
Schon der Publikationsort in einer Zeitschrift für Ärzte weist darauf hin, dass hier ein ganz anderer Bulgakow vor uns steht, als der spätere groteske Gesellschaftssatiriker.
In diesen stark autobiografisch geprägten Erzählungen nämlich hat Bulgakow realistisch, lebendig und äußerst anschaulich seine eigenen Erfahrungen als junger Arzt verarbeitet. Nachdem er im Sommer 1916 sein Medizinstudium an der Kiewer Universität wegen des Kriegs vorzeitig abgeschlossen hatte, war er – nach kurzem Studenteneinsatz in einem Frontlazarett – sogleich als Arzt in ein abgelegenes Landkrankenhaus im Dorf Nikolskoje, Gebiet Smolensk geschickt worden. Bulgakow war dort neben wenigen Feldschern, Hebammen und Krankenpflegern der einzige Arzt, der die ganze Last der Verantwortung für alles zu tragen hatte. Die realen Umstände, Ortsbeschreibungen und medizinischen Gegebenheiten dieser Erzählungen sind – wie wir aus den Erinnerungen von Bulgakows erster Frau Tatjana Lappa sowie aus einem in dem Band abgedruckten Zeugnis über seine damalige Tätigkeit wissen - in den Fakten und den vielen genau beobachteten Details authentisch. Und auch die längste Geschichte "Morphium", das Tagebuch eines Suchtkranken, die durch die Herausgeberfiktion des Ich-Erzählers größere Distanz zum Geschehen signalisiert, beruht auf eigener Erfahrung. Bulgakow war zeitweilig morphiumsüchtig.
Aber trotz dieser autobiografischen Materialgrundlage stellt das Buch ein Stück meisterhaft gestalteter fiktionaler Dichtung in der Tradition der Arztgeschichten von Anton Tschechow dar. Da das Figurenensemble immer gleich bleibt, verbinden sich die Geschichten zu einem spannungsgeladenen Roman über das erste Berufsjahr eines jungen Intellektuellen in der finstersten russischen Provinz.
Der blutjunge, unerfahrene Arzt, direkt von der Universitätsbank in das einsame Schneesturmrevier verschlagen, muss mit den dramatischsten Krankheitsfällen und Notsituationen fertig werden: da ist die schöne junge Frau in der Erzählung "Das Handtuch mit dem Hahn", die bei Erntearbeiten in die Flachsbreche geraten ist und deren zerschmettertes Bein sofort amputiert werden muss; das um Atem ringende dreijährige kleine Mädchen mit Diphtherie in der Geschichte "Die stählerne Kehle", das nur durch einen gewagten Luftröhrenschnitt gerettet werden kann; komplizierte Entbindungen bei Querlage des Kindes, das der junge Ich-Erzähler, der das noch nie gemacht hat, im Mutterleib wenden und am Beinchen herausziehen muss.
Die furchtbare Einsamkeit, Angst und Nervosität des jungen Arztes, der manchmal in den Vorbereitungspausen zu einer Operation hektisch in den entsprechenden medizinischen Fachbüchern blättert, findet Ausdruck in erregten inneren Monologen und Zwiegesprächen. Aber wenn er dann bei seiner gefährlichen und verantwortungsvollen Arbeit ist, wundert er sich selbst über seine Ruhe und wie er mit fester Stimme die nötigen Anordnungen trifft. Durch sein Können erlangt der Doktor einen beachtlichen Ruf und immer mehr Patienten drängen sich in seiner Praxis. Zu verdanken aber hat er diesen Erfolg auch seinen beiden Hebammen und dem Feldscher mit ihrer jahrzehntelangen praktischen Erfahrung, die treu an seiner Seite stehen im Kampf mit der "ägyptischen Finsternis" – so der Titel einer Erzählung – der Unwissenheit und dem Aberglauben der meisten Patienten. Da kommt es vor, dass das Senfpflaster nicht auf die Haut, sondern auf den Pelz geklebt, das verschriebene Chinin gleich packungsweise geschluckt wird, oder mit Zucker im Geburtskanal das Kind herausgelockt werden soll. Die genauen, lebendigen, häufig auch komischen Dialoge mit den Patienten zeigen den künftigen erfolgreichen Theaterautor Bulgakow.
Wesentliches Thema der Erzählungen ist die Konfrontation des jungen städtischen Intellektuellen mit der Dumpfheit und Unaufgeklärtheit der Menschen auf dem Lande. In der Erzählung "Ein Ausschlag wie ein Sternbild" wird dem jungen Arzt zum Beispiel schmerzlich bewusst, dass die Syphilis deshalb so schrecklich ist, weil sie den Bauern nicht wirklich Furcht einflößt. Kaum sind die ersten Krankheitssymptome abgeheilt, brechen sie die notwendige jahrelange Behandlung ab und verschwinden aus dem Blickfeld des Arztes.
Das harte Arbeitsjahr in dem abgelegenen Hospital mit seinen geglückten Heilerfolgen und bedrückenden Niederlagen haben den jungen Arzt verändert und stärker gemacht.
Interessanterweise spielt die Revolution in der 1917 spielenden Handlung überhaupt keine Rolle. Aber die Erzählungen, die noch die vorrevolutionäre Tradition der Verantwortung der fortschrittsgläubigen russischen Intelligenzija gegenüber dem Volk spiegeln, strahlen kraftvolle Energie und Hoffnung aus.
Mit Bitterkeit denkt man an das spätere tragische Schicksal Bulgakows in der Sowjetunion, der in seinem schmerzerfüllten kurzen Leben in Depressionen versank und seinen überragenden posthumen Schriftstellerruhm nicht mehr erlebte.
Michail Bulgakow: "Arztgeschichten". Erzählungen. Aus dem Russischen von Thomas Reschke, Sammlung Luchterhand 2009, 142 Seiten, 8,00 Euro.