Der letzte gemeinsame Vorfahre von Menschen und Oktopussen war wohl ein wurmartiges Wesen, das vor vielleicht 600 Millionen Jahren gelebt hat. Seitdem verlief die Evolution auf ganz unterschiedlichen Wegen. Auch mit Blick auf die Entwicklung des Gehirns, erklärt der Verhaltensforscher Dominic Sivitille von der University of Washington:
"Oktopusse haben parallel zu den Wirbeltieren ein komplexes System für die Verarbeitung von Umweltreizen entwickelt – allerdings eines, das vollkommen anders aufgebaut ist als unsere Gehirne und Nervensysteme. Der größte Teil ihres Nervensystems sitzt als verteiltes Netzwerk in den Armen."
Dezentrale Reizverarbeitung
Während bei Wirbeltieren das Gehirn die Kontrolle hat und alles sozusagen von oben nach unten regelt, ist es bei den Oktopussen genau umgekehrt: Das Netzwerk in den Armen verarbeitet die von den Saugnäpfen einlaufenden Informationen – und alles, was notwendig ist, um einen Körper ohne Knochen, aber mit unendlich vielen Freiheitsgraden für die Bewegung zu kontrollieren:
"In jedem Saugnapf sitzen Zehntausende chemischer und mechanischer Rezeptoren. Zum Vergleich: In unseren Fingerspitzen sind es nur ein paar hundert mechanische Rezeptoren. Die Informationsflut dieser Rezeptoren wird an jedem Saugnapf in einem eigenen Cluster von Nervenzellen verarbeitet, einem Ganglion. Das fungiert als lokales Rechenzentrum, steuert die Muskulatur um den Saugnapf und gibt unter anderem Reize an die benachbarten Ganglien weiter. An der Basis der Arme verläuft ein neuronaler Ring, der alle miteinander verbindet und über den sie sich austauschen können, ohne Informationen an das Gehirn zu senden."
Das Gehirn hält sich zurück
Während die acht Arme also immer wissen, wo sich die anderen gerade im Raum befinden und Bewegungen koordinieren können, hat das Gehirn anscheinend nur eine sehr vage Vorstellung davon, denn die Experimente von Dominic Sivitelli zeigen, dass es das Gros der Informationen erst gar nicht erhält:
"Wenn ein Saugnapf ein Objekt greift, sendet er ein kurzes Signal in Richtung des Gehirns. Dieses Signal läuft durch den Arm, sodass auch die benachbarten Saugnäpfe es erhalten und darauf reagieren. Noch bevor das Signal das Gehirn erreicht, agiert der Arm also und greift beispielsweise das Futter. Wenn notwendig, kann der eine Arm über den neuronalen Ring einen weiteren Arm rekrutieren. Und erst, wenn die Signale, die dabei an das Gehirn gesendet werden, sehr viel stärker werden und eine bestimmte Schwelle erreichen, übernimmt es die Kontrolle und bestimmt die Strategie."
Alternatives Modell für Intelligenz
Und zwar auf Basis der bereits im peripheren Nervensystem der Arme verarbeiteten Signale - das Gehirn wird also nicht mit der Unmenge an Ausgangsinformationen belastet. Die Entscheidungsfindung läuft von Sauger zu Sauger, Arm zu Arm und erst, wenn es notwendig ist, wie etwa bei der Jagd, von Arm zu Gehirn:
"Wir können das verfolgen, indem wir uns den Ablauf von synchronen und asynchronen Bewegung in den Armen ansehen – denn sobald die Bewegungen synchron sind, greift das Gehirn ein, um die Bewegungen der Arme zu steuern."
Oktopusse seien ein alternatives Modell für Intelligenz, urteilt Dominic Sivitilli. Sie zeigten, wie unterschiedlich Erkenntnisse über die Umwelt gewonnen und verarbeitet werden könnten – auf der Erde und vielleicht auch irgendwo im Weltraum.