Birgit Wentzien: Herr Steul, die Zeit vor einem Viertel Jahrhundert war ebenso weltbewegend, wie sie jetzt eigentlich im Frühjahr 2015 weit, ganz weit weg erscheint. Erinnern Sie sich selber noch an diese Zeit? Sie waren, wenn Sie gestatten, sehr weit weg, nämlich in Baden-Baden beim Südwestfunk und da Chef vom Dienst in der Abteilung „Aktuelles Zeitgeschehen". Gab es einen Ort, der weiter weg war von Berlin?
Willi Steul: Ja, man hätte noch in Freiburg sitzen können an der Schweizer Grenze. – Ja, ich erinnere mich sehr genau daran. Ich erinnere mich auch an die Nacht des Mauerfalls. Das ist ja eine Fügung gewesen. Ich war tatsächlich mit einem Einreisevisum, für den 10. November hatte ich ein Einreisevisum, für Freunde in der DDR zu besuchen. Meine Frau und die Kinder schliefen im Auto. Ich habe überhaupt erst das Radio angemacht kurz vor dem Hotel, was wir reserviert hatten, vor der DDR-Grenze, weil wir am nächsten Morgen dann darüber wollten. Da habe ich erfahren, dass die Mauer gefallen ist. Ich habe Frau und Kinder ins Hotel gebracht und bin nach Berlin gefahren und war dann morgens um sieben Uhr wieder da, und wir sind dann in die DDR eingereist. Und das war, es ist unvergesslich.
Wentzien: Kamen Ihnen mehr entgegen, oder waren Sie in der richtigen Richtung unterwegs?
Steul: Bei der Einreise dann am nächsten Morgen, am 10. morgens um acht in die DDR – ich habe auf den Kilometerzähler meines Autos gedrückt -, da kamen uns exakt 1,4 Kilometer Trabi gegenüber. Und ich erinnere mich: Unser heute 30jähriger Sohn – der war damals fünf -, der saß im Auto und der sagte plötzlich, Papa, sind das alles Deine Freunde, weil man sich zuwinkte und eine Frau mich durchs offene Fenster umarmte. Es war schon großartig. Und die Nacht in Berlin auch.
Regelmäßiger Austausch mit den Hörerinnen und Hörern
Wentzien: Die deutsche Einheit dominierte, und der Intendant des Deutschlandfunk damals hieß Edmund Gruber. Und im „Journal am Vormittag" im Februar 1990 hat er zum Gespräch mit dem Intendanten geladen, in diesem Format der Hörer auch viele dezidierte Kenner, die sich ganz bewusst an den Intendanten wandten. Wenn Sie jetzt heutzutage – wir springen – 2015 im Februar ein Format suchen, wie können Sie sich als Intendant des Deutschlandfunk heute an die Hörerinnen und Hörer wenden?
Steul: Ich tue das einmal im Jahr, mindestens einmal im Jahr im Deutschlandfunk und auch einmal im Jahr im Schwesterprogramm Deutschlandradio Kultur, zusammen mit dem Programmdirektor. Das ist in aller Regel an einem Samstag und das machen wir dann eineinhalb beziehungsweise zwei Stunden lang. Da können Hörer anrufen und alle Fragen stellen, die ihnen so einfallen, und so sind wir in einem direkten Gesprächskontakt mit den Hörern. Und dann: Das Internet und E-Mail ist heute der ganz starke Kommunikationsweg und da kommen auch sehr viele und richten sich an mich persönlich und jeder, der schreibt, hat das Recht auf eine Antwort.
Wentzien: Wir sind nicht mehr nur Sender, wir sind auch Empfänger geworden und wir sind Buch, wir sind nachschlagbar.
Steul: Ja.
Der neue Auftrag des Deutschlandfunks
Wentzien: Wenn wir über den Auftrag nachdenken – Wiedervereinigung haben Sie gerade erwähnt; Heinrich Lübke hat damals immer von der Funkbrücke gesprochen -, die Sache hat sich ja jetzt erledigt, die Brücke hat ausgedient. Was für einen Job hat der Deutschlandfunk heute?
Steul: Na ja, wir sind der Sender, der die tiefgründige, erläuternde, nicht nur die saubere Nachrichtengebung, sondern der die Erläuterung der Hintergründe und der Zusammenhänge – das gilt für die Kultur wie für die Politik – am breitesten darstellt in dieser Republik. Wir erreichen auch damit unter den anspruchsvollen Programmen – nur mit denen können wir uns ja messen – ein volles Drittel der Menschen, die an diesen Programmen interessiert sind. Wir müssen sehr selbstkritisch auch uns ständig prüfen, machen wir das richtig. Auch das Gute kann man immer besser machen.
Wentzien: ist unser Deutschland heute vom Auftrag her Europa?
Steul: Ja und nein. Ich kann mich gut erinnern an diese manchmal etwas verstiegene Diskussion gerade nach dem Mauerfall und nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, jetzt hat das Nationale ausgedient. Das habe ich immer für Unfug gehalten. Menschen haben eine Wurzel in ihrer Kultur, sie haben eine Wurzel in ihrer Heimat, und diese Heimat ist historisch geprägt, ist durch die Sprache geprägt. Das Nationale muss man abschleifen, da wo es zum Nationalistischen wird, aber diese Identität, die bleibt. Deutschland als Nation oder Frankreich – ich bin ja in beiden Ländern zuhause, ich habe auch die französische Staatsangehörigkeit -, in Frankreich haben wir einen ganz anderen Begriff von unserer Nation, Deutschland in Europa. Die Wiedervereinigung ist für uns noch nicht erledigt in Deutschland. Das wird noch eine, vielleicht sogar zwei Generationen dauern, bis sich das ausgewachsen hat.
Wentzien: Bei mir ist der Intendant des Deutschlandfunk. Schön, dass Sie da sind, Herr Steul. Und bei mir ist auch der damalige Chefredakteur des Schwesterprogramms, nämlich von Deutschlandradio Kultur in Berlin. 1994 bis 1998 waren Sie auf dieser Wiese zugange.
Steul: Es ist dasselbe, ja.
Das Zusammenwachsen des Deutschlandradios
Wentzien: Das war damals ja nach einigem Hin und Her – inzwischen sind es 20 Jahre – ein Zusammengehen von zwei ganz unterschiedlichen Körpern, nämlich dem RIAS und dem DS Kultur Sender. Und wenn ich da so den Chefredakteur frage, war das auch ein bisschen eine anarchistische Zeit?
Steul: Es war unglaublich spannend. Der RIAS, „Rundfunk im amerikanischen Sektor", das war die freie Stimme der freien Welt. So hat man sich auch bezeichnet. Das war auch so. Der RIAS wurde viel gehört in der ehemaligen DDR und das war die freie Stimme der freien Welt. Und jetzt kamen in dieser Fusion – es wurden ja RIAS und das in der Wendezeit entstandene Programm DS Kultur zusammengeführt in Berlin und wiederum zusammengeführt dann mit dem Deutschlandfunk hier in Köln, und da traf die freie Stimme der freien Welt auf sozusagen das staatliche Rundfunk-Komitee. So hieß der Rundfunk in der DDR.
Wentzien: Und Sie so mittendrin.
Steul: Und ich kam von draußen, weder Berliner, und ich muss auch sagen, ich hatte davor den größten Teil meines Berufslebens als Auslandskorrespondent verbracht. Ich bin Ethnologe, Völkerkundler vom Studium her, und ich habe immer gedacht, das hier ist wie eine Feldforschung, hier kommen zwei Mentalitäten, zwei Kulturen aufeinander. Für mich war das unheimlich spannend. Es war auch für meine damalige Direktorin Gerda Hollunder, von der ich sehr viel gelernt habe, die vom WDR kam. Wir waren sozusagen die Gestalter. Daran konnte man Freude haben unter dem Intendanten Elitz. Für viele war das so, wir werden gestaltet und damit etwas ganz Neues.
Wentzien: Sie haben es angedeutet: Die Wiedervereinigung ist noch längst nicht fertig und aus der Erfahrung und dem Umgang und der Diskussion möglicherweise zu diesem Thema können wir dann auch Europa noch ein Stückchen besser machen und sind auch an der Stelle unterwegs. Von daher ist es ein weiter gültiger Auftrag, Funkbrücke zu sein mit Heinrich Lübke.
Steul: Da kann ich nur ja sagen. – Da kann ich nur ja sagen. Neuer Auftrag, der eine ist erledigt, die Mauer ist weg, Deutschland ist wiedervereinigt, aber daran teilzunehmen und wesentlich auch die Diskussion abzubilden, die gesellschaftliche und politische Diskussion, das ist weiterhin unser Auftrag. Was wir damit erreichen, zum Beispiel jetzt in dieser Islam Islam/Islamismus, das ist ein wesentliches Thema. Ich beneide manchmal die Kollegen so wie Sie, Frau Wentzien, die aktiv jeden Tag als Journalisten tätig sind. Ich schiebe ja meistens Papier von links nach rechts. Ich nehme an Ihrer Diskussion teil, aber ich bin kein aktiver Journalist mehr. Ich beneide Sie manchmal.
Wentzien: Aber es ist gut zu wissen, dass Sie da sind, wo Sie sind, weil Sie das können, was Sie tun.
Steul: Okay, wenn Sie meinen.
Wentzien: Vielen Dank!
Steul: Bitte schön.