Karin Fischer: Die Aufregung um die Nachfolge von Frank Castorf an der Berliner Volksbühne wurde angemessen dramatisch orchestriert und wochenlang aufgeblasen und ist am Freitag in sich zusammengestürzt wie ein Soufflee an der frischen Luft. Der Kunstmann Dercon hat schnell auch die kritischsten Berliner Kultur-Journalisten für sich eingenommen.
Und in der Tat klingt die Truppe, die er mitbringt, nicht nach dem Untergang des Abendlandes: Boris Charmatz, Romuald Karmakar, Alexander Kluge, Susanne Kennedy. Allerdings: Charmatz etwa gehört genau zu jenen festivalerprobten Künstlern, die zwischen Avignon, Wien, der Ruhrtriennale oder dem Berlin Festival "Foreign Affaires" koproduziert werden.
Thomas Oberender verantwortet die Berliner Festspiele. Kommt jetzt noch mehr vom Selben nach Berlin, habe ich ihn gefragt?
Thomas Oberender: Ich hoffe, weil es ist ja noch lange nicht genug. Berlin ist eine große Stadt und wir können uns nur freuen, wenn es ein immer größeres Angebot aufregender Kunst in dieser Stadt gibt.
Insofern habe ich überhaupt nicht das Gefühl, dass es davon zu viel geben kann, und wünsche mir, dass es so viele gute Künstler wie möglich sind, die Berlin bereichern mit ihrer Arbeit.
"Einer der beweglichsten Betriebe"
Fischer: Sie selbst, Thomas Oberender, haben vor Jahren ja die Theater-Kollektive als Kern einer neuen avantgardistischen Theatersprache gerühmt. Demgegenüber hat ein Supertanker wie die Volksbühne, die gerade ja ihren 100. Geburtstag gefeiert hat, einen Charme, der doch sehr in Stein gemeißelt scheint.
Oberender: Oh! Ich glaube, die Volksbühne war in den letzten, ich sage mal, 25, obwohl es inzwischen wahrscheinlich mehr Jahre sind, in diesem viertel Jahrhundert einer der beweglichsten Betriebe. Die Volksbühne war ein Haus, in dem im Grunde fast jede Art von Kunstgattung stattgefunden hat, ob das Filme sind, ob das Musik ist und natürlich die verrücktesten Formen von Sprechtheater. Bildende Künstler arbeiten da.
Sie war in einer Weise offen und neugierig, was die Erprobung und Erforschung von dem ist, was Theater heute sein kann und wie sich das Medium selber reflektiert, wie kein anderes Haus. Und es hat dafür auch Betriebsbedingungen hergestellt, wie sie eigentlich sonst in der deutschsprachigen Theaterlandschaft sehr, sehr selten geworden sind, obwohl wir immer noch eine sehr wohlhabende Theaterlandschaft haben.
Fischer: Welche wären das?
Oberender: Das Wesen, glaube ich, der Volksbühne ist, dass sie immer um die Bedürfnisse der Produktion selber herum den Betrieb organisiert hat. Das heißt, dort ist die Kernzelle, das, was als Projekt entsteht. Wir haben ein relativ kleines fixes Ensemble, aber dafür eine große Anzahl von Künstlerfamilien, um Pollesch, um Marthaler, um Castorf herum, die auch selber immer wieder beweglich sind, die an das Haus trotzdem langfristig gebunden bleiben. Sie brauchen einen Hochleistungs-KBB, um diese ganzen Solistenstars zu managen und letztlich an diesem Haus präsent zu halten. Aber diese Aufwände hat man betrieben genauso wie in den Werkstätten.
Berliner Theater haben kaum noch eigene Werkstätten. Die Volksbühne ist eine rühmliche Ausnahme und da entstehen eben auch Ausstattungen auf einem Niveau, wo man andernorts inzwischen die Ohren anlegt.
Fischer: Bringt Chris Dercon etwas mit, von dem Sie sagen, Berlin hätte es noch nicht?
Oberender: Oh ja. Chris Dercon ist ein internationaler Produzent, jemand, der ein ganzes Stück weite Welt mit in die Stadt bringt. Es ist jemand, der in ganz anderen Netzwerken drinsteht. Das ist bereichernd für Berlin. Ich glaube, dass der Vorgang der Stadt Berlin ein relativ aggressiver ist. Eine Umwandlung eines Künstlertheaters in so ein Kunstcluster vorzunehmen, das ist sehr dicht an dem, was wir in den letzten Jahren angefangen haben, an den Berliner Festspielen zu machen. Das ist aber vielleicht für das How noch das viel größere Problem als für die Berliner Festspiele. Es verändert die gesamte Berliner Kulturlandschaft.
"Ich werde diese Intelligenz vermissen"
Fischer: Nun wird also das Ende der Ära Castorf eingeleitet. Was werden Sie mit ihm vermissen?
Oberender: Na ja, die Volksbühne ist erst mal - ich habe es vorhin schon gesagt - ein Ort, wo eigentlich alles ging, von Gregor Schneider über Jonathan Meese, Ragnar Kjartansson, das Babelsberger Filmorchester, aber eben Pollesch, Castorf selber ist ein begnadeter Collageur. Ich werde vermissen diese Art von Truppe. Dass es erst mal eine Männertruppe ist, dass das alles noch ziemlich irgendwie Ostkerle sind, auch wenn sie es gar nicht mehr alle sind, das ist sicher was sehr besonderes, diese Art von gebrochenem Glamour, die das Haus hergestellt hat und das eigentlich für mich bis heute was sehr Berlinerisches ist, das werde ich vermissen. Ich werde aber auch die Intelligenz vermissen.
Ich werde irgendwie diesen inneren Anspruch einer ganz alten Bewegung, die die Volksbühne ja ist seit über 100 Jahren, eine Art von Kultur-Gegenentwurf herzustellen, der eine andere Art von Gesellschaft träumt. Ja, das war die Volksbühne. Man hat sie gegründet, weil es Zensur gab. Die junge Volksbühnenbewegung hat den Hauptmann engagiert, damit er ihr Stücke schreibt, die es bis dahin nicht gab. Und das, dieser antibürgerliche aber gleichzeitig hoch reflektierte Zugang zum Theater, der ist immer das Besondere dieses Hauses gewesen und unglaublich erblüht in den letzten Jahren, sehr modern, sehr radikal. Es gibt tausend Wege, dass sich das fortsetzen kann, aber diese besondere Familienatmosphäre aus Lässigkeit, Aggressivität und Avantgardismus, die habe ich schon sehr, sehr gern gehabt.
Fischer: Thomas Oberender, Intendant der Berliner Festspiele, zur neuen Ausrichtung der Berliner Volksbühne.
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