Es war eine Marathon-Sitzung im Kanzleramt – über acht Stunden und bis in den späten Abend hinein: Zwar standen am Ende zumindest teilweise einheitliche Regeln zur Bekämpfung von SARS-CoV-2, doch die Kritik ließ nicht lange auf sich warten, und sie kam von höchster Stelle, nämlich von der Kanzlerin selbst.
Die Zahl der registrierten Neuinfektionen ist auf einem neuen Höchststand – genauer: 6.638. Und nach einem ruhigen Sommer füllen sich die Krankenhäuser langsam wieder. Im Dlf schätzte Professor Uwe Janssens, Chefarzt der Klinik für Innere Medizin im St. Antonius Hospital in Eschweiler und Präsident der Vereinigung der Deutschen Intensivmediziner, die Situation für die kommenden Monate ein.
Philipp May: Wird das ein schlimmer Winter?
Uwe Janssens: Es wird ein sehr spannender Winter. Wir blicken schon mit einer großen Sorge, die deutschen Medizinerinnen und Mediziner, Intensivmediziner, Notfallmediziner, auf die Situation jetzt. Wir haben einen kleinen Vorteil im Vergleich zu März und April. Sie haben gerade berichtet, dass wir heute über 6.600 Fälle haben, die höchste Zahl an Infektions-Neuerkrankungen, die wir in Deutschland bisher überhaupt hatten. Höchststand war so um den 10., 12. April bei uns und mit einer zeitlichen Verzögerung hatten wir dann zwei Wochen später den Höchststand an COVID-19-Patienten auf deutschen Intensivstationen, nämlich 2.600.
Jetzt haben wir gestern Morgen 603 gehabt. Ich bin mal gespannt, wie viele wir heute haben werden. Ich schätze mal 620, 630. Dann sind wir ja tatsächlich in der Relation entfernt davon. Das ist natürlich Ergebnis der Infektionssituation in den etwas jüngeren Populationen. Das Erkrankungsalter ist ja deutlich jünger. Im Augenblick liegt es, glaube ich, bei 38, 39; im März/April war es 52. Die Älteren, die sind natürlich deutlich mehr im Risiko und haben auch mehr Begleiterkrankungen. Deshalb sind die Verläufe schwieriger gewesen.
Dennoch müssen wir immer auf die nächsten 10, 14 Tage blicken. Das heißt, heute, 6.600, kann ich Ihnen erst in 14 Tagen sagen, wie sich das letztendlich auf die Zahl der intensivbehandelten, schwerkranken COVID-19-Patienten auswirken wird.
Nicht mit dem Finger auf irgendwelche jüngeren Menschen zeigen
May: Sind Sie auch bei den Experten – da gibt es ja einige Kollegen von Ihnen, die zur Besonnenheit aufgerufen haben in letzter Zeit und sagen, diese Fixierung auf die Neuinfektionen, die führt eigentlich in die Irre, wir müssen uns auf ganz andere Kennzahlen fokussieren, zum Beispiel die Zahl der freien Intensivbetten, und da ist die Lage deutlich besser, also alles noch gar nicht so dramatisch?
Janssens: Die Zahl der freien Intensivbetten ist damals übrigens wie heute stabil. Das ist nicht die Sorge. Die Sorge ist tatsächlich, dass es infektiologisch doch aus dem Ruder läuft. Deshalb springe ich da wirklich unserem Bundesgesundheitsminister bei, der zur Besonnenheit, aber auch zur Mitwirkung aller Bevölkerungsschichten aufruft. Ich bin auch ein ganz großer Gegner davon, mit dem Finger auf irgendwelche jüngeren Menschen zu zeigen, sondern ich glaube, wir müssen gerade alle mitnehmen. Alle müssen mitgenommen werden. Die Älteren haben es schon verstanden. Das merke ich auch bei mir in meinem Patienten-Klientel. Seit Monaten schon sind die sehr zurückhaltend, so dass sie sich auch von möglichen Infektionsquellen ferngehalten haben. Das ist im Moment unsere einzige Waffe im Kampf gegen diesen verflixten SARS-CoV-2-Virus, der wirklich heimtückisch, wie er nun ist, viele Leute infiziert, die keine Symptome haben. Und das sind dann die kräftigen jungen Menschen. Aber – Achtung: Auch die jungen Menschen können einen deletären schwierigen Verlauf haben, wenn sie einmal schwer erkranken, denn dann ist die Sterblichkeit auch nicht unbeträchtlich. Wir haben gerade amerikanische Daten gesehen: 18 bis 34-Jährige. Da war die Sterblichkeit tatsächlich bei 2,7 Prozent. Das ist viel für so eine junge Population. Und ich glaube deshalb, auch hier – Achtung: Haltet euch an die Maßnahmen. Und in der Tat: Es macht Sinn, von größeren Versammlungen abzusehen. Es macht totalen Sinn, die Maske zu tragen. Ich widerspreche da allen, die das bisher betont haben, und ich war auch entsetzt zu sehen, dass im Deutschen Bundestag eine Partei aus der Rechtsaußen-Ecke so verwegen ist und demonstrativ die Maske abreißt. Das sind Signale, das macht mich wütend. Das macht mich auch als Mediziner wütend und auch die Schwestern verstehen es nicht, die dann nachher unter Umständen die Patienten betreuen, die sich durch solche Irrwege infiziert haben.
"Deshalb alle Anstrengungen unternehmen"
May: Herr Janssens, lassen Sie mich auch noch eine Frage stellen. Sie meinten die AfD. – Eine ganz kurze Fachfrage: Sie haben gesagt, 2,6 Prozent ist die Sterblichkeit bei jüngeren Leuten, bei über 30-Jährigen. Wie hoch ist die Sterblichkeit bei über 60-Jährigen? Können Sie das auch sagen?
Janssens: Ich kann Ihnen das schon sagen. Wir haben erschreckende Daten schon gehabt aus unserer ersten Phase. Wir haben ja 10.000 Patienten analysiert, die im Krankenhaus waren. Wir reden nur von Krankenhaus-Patienten. Da haben wir die Patienten uns angeschaut. Insgesamt war da schon eine Sterblichkeit von um die 20 Prozent. Das ist viel!
May: Eine deutliche Zunahme.
Janssens: Und jetzt kommt es: Im Alter nimmt das dramatisch zu. Wenn sie auf die Intensivstation kommen und wenn sie beatmet werden – das ist der schwerste Verlauf -, da haben wir eine Sterblichkeit von 50 Prozent. Bei den über 70-Jährigen geht das auf 70 Prozent. Das ist schon verdammt viel und deshalb alle Anstrengungen unternehmen. Die Jugendlichen: Steckt euch nicht an und steckt eure Eltern und eure Großeltern nicht an. Dann wird alles relativ gut verlaufen. Das ist unsere feste Überzeugung. Die Ambulanzen werden freigehalten und wir können dann mit Spannung, aber mit Gewissheit, dass wir das schaffen, in die Zukunft blicken.
May: Noch eine Frage zu den politischen Beschlüssen gestern. Können Sie auch den Frust von Angela Merkel verstehen? Hätten Sie sich ein stärkeres Signal gestern gewünscht und verschärfte Maßnahmen, schärfere Maßnahmen von Bund und Ländern?
Janssens: Wir sind ja schon froh in der Intensivmedizin, dass es endlich dann doch eine nationale Strategie gibt. Wir haben von Anfang an (und ich persönlich auch) versucht, ein Signal zu senden, dass wir in dieser Corona-Pandemie unglücklich über die sektoralen Vorgehensweisen sind. Das hat Sinn in der lokalen Infektionsbekämpfung. Aber für generelle Regelungen hat das überhaupt nichts gebracht, sondern hat uns eher verunsichert. Soweit sind wir jetzt mittlerweile. Nichts desto trotz: Offensichtlich gab es dann wieder links und rechts und in der Mitte Leute, die wieder was anderes für sich sehen und wollen. Ich kann die Frustration von Frau Merkel an dieser Stelle wirklich verstehen. Wenn sich die Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten da schon nicht einig sind, was soll denn dann die Bevölkerung sagen. Wir Mediziner, wenn wir eine Leitlinie schreiben, dann schreiben wir sie für 16 Bundesländer, und zwar uni sono. Dann wird das nicht für Bayern geschrieben und auch nicht für Nordrhein-Westfalen. Dann geben wir eine Leitlinie heraus, wie wir mit COVID-19-Fällen umgehen. Ich glaube, das macht Sinn. Wenn wir da jedes Mal lokale Gepflogenheiten mitberücksichtigen würden, dann würden wir in einer Katastrophe münden und keiner würde uns in unseren Empfehlungen ernst nehmen.
"Wir haben die Abläufe viel besser organisiert"
May: Herr Janssens, nun haben Sie gerade gesagt, Sie haben im Prinzip immer noch keine Waffen, außer Abstand halten im Kampf gegen das Virus. Jetzt ist das Virus aber schon ein dreiviertel Jahr in der Welt, hier in Deutschland. Sie haben Erfahrungen gesammelt in der Bekämpfung von COVID-19, in der Behandlung von COVID-19. Hat das Virus für Sie immer noch nichts von seinem Schrecken verloren?
Janssens: Das Virus, wenn es einmal auf die Intensivstation gelangt ist und Patienten dort in die Knie zwingt, dann hat es nach wie vor seinen Schrecken. Ganz eindeutig! Aber – und das ist auch die gute Nachricht: Wir haben die Abläufe viel besser organisiert. Wir können viel besser koordinieren in den Krankenhäusern. Und wir sind nicht so ganz waffenlos. Ich will noch mal erwähnen, dass das Kortison-Präparat, was auch ein prominenter amerikanischer Politiker bekommen hat, schon sehr hilfreich ist.
May: Donald Trump?
Janssens: Ja! – Und ich möchte auch betonen: Wir haben auch das Remdesivir, was wir auch bei Patienten einsetzen, die noch nicht auf Intensiv sind, die aber schon sauerstoffpflichtig sind, und wir führen Blutverdünnungen durch. Wir haben schon in der Strategie einiges dazugelernt. Prinzipiell handelt es sich um eine schwere Lungenerkrankung mit Auswirkungen auf den gesamten Organismus, und das ist doch Kernkompetenz der Intensivmedizin. Dann haben wir aber zusätzlich noch sehen müssen, dass das etwas ganz anderes ist und viel, viel schwerer verläuft, wenn es denn so schlimm kommt, als zum Beispiel eine Virus-Influenza-Pneumonie.
May: Uns läuft ein bisschen die Zeit davon. Eine Frage habe ich aber noch. In der ersten Infektionswelle waren Sie aufgrund Ihrer Position als Präsident der Deutschen Intensivmedizinervereinigung die Stimme der Mangelverwaltung. So habe ich Sie zumindest im Ohr, als es wirklich an elementaren Sachen wie Masken und Schutzkleidung fehlte. Ist zumindest diese Gefahr jetzt gebannt?
Janssens: Im weitesten Sinne ja. Das kann man sagen. Nichts desto trotz überblicken wir immer noch nicht ganz Deutschland so tiefgehend, dass ich sagen könnte, hier ist die maximale Entspannung eingetreten. Es gibt immer noch tatsächlich Mangel zum Beispiel bei Handschuhen. Das hat sich auch ein bisschen jetzt herausgemendelt in den letzten Wochen. Daran muss weiterhin konsequent gearbeitet werden, und zwar wirklich dann, wie ich finde, in diesem Fall auch wieder auf nationaler Ebene, dass hier sichergestellt wird, dass alle Bundesländer gleichermaßen versorgt sind. Wenn Mangel sind, zum Beispiel in NRW, dass zum Beispiel in Ländern, wo gar nicht so viele Corona-Patienten sind, dass man sich da endlich gegenseitig auch koordiniert hilft. Das hat mir damals zum Beispiel gefehlt. Wenn das jetzt eintreten würde, dann müssen wir überregional Verteilungen schaffen, wie wir mit Ressourcenmangel von persönlicher Schutzausrüstung, die dringend notwendig ist in der Betreuung der Patienten, umgehen. Das wäre ein klarer Appell noch mal zurück in die Politik.
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