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Interdisziplinäre Konzertforschung
Klassische Musik neu erleben

Eine Oper in der Maschinenhalle, eine Sinfonie zwischen Dinosaurierskeletten: Ein interdisziplinäres Forscherteam untersucht die Wirkung verschiedener Konzertformate. Es geht auch darum, junge Menschen für klassische Musik zu begeistern und alte Routinen aufzubrechen.

Von Dörte Hinrichs | 06.09.2018
    Der kleine Niklas fasst sich am 21.11.2012 in Heilbronn (Baden-Württemberg) vor Beginn des Babykonzerts des Württembergischen Kammerorchesters Heilbronn an sein Ohr. Eltern mit ihren Babys besuchten das ausverkaufte Konzert des Orchesters, das klassische Musik spielte.
    Forscher analysieren gerade, wie klassische Musik für das Publikum besser erlebbar werden kann (picture alliance / dpa / Marijan Murat)
    "Das Stück ist aus der Peer Gynt, Suite Nr. 1, die Morgenstimmung. Und für die Kinder ist natürlich entscheidend, diese Morgenstimmung auch tatsächlich nachzuempfinden, ganz besonders das Farbenspiel, das am Himmel sich zeigen kann zwischen den beiden wichtigsten Farben des Morgenhimmels: zuerst die blaue und dann die rote Farbe. Die blaue wird mit der Flöte zusammengedacht und die rote mit der Oboe.
    Versucht mal den Wechsel genauso schnell zu machen, damit wir alle gleichzeitig dieselben Wechsel machen. Machen wir mal blau zuerst hoch, und das darf sich auch ein bisschen bewegen. Und jetzt denken wir uns, die Oboe, die klingt und zack, eins geht runter, eins geht hoch. OK, das bleibt ziemlich lange oben, und dann erklingt die Flöte wieder, nur noch blau und dann den Wechsel, und Achtung: wieder Wechsel, Wechsel, Wechsel, Wechsel."
    Projekt "Sinfonik für Kindergärten" erfolgreich
    Proben zum ersten Konzertbesuch in der Alten Oper in Frankfurt am Main. Kindergartenkinder lauschen Edvard Griegs "Morgenstimmung" und schwingen mal blaue, mal rote Tücher durch die Luft. Christoph Gotthardt, Musikpädagoge des Landes Hessen, leitet für die Stadt Frankfurt den Bereich Musikvermittlung/Konzertpädagogik. Dort präsentiert er die Schülerkonzerte und auch das Projekt "Sinfonik für Kindergärten", das sich seit über zehn Jahren der frühkindlichen musikalischen Bildung widmet.
    "Damals war in Hessen die Zeit als der Bildungsplan 0-10 aufkam vom Kultus-und Sozialministerium aus. Und ein großes Glück war, dass die Stiftung Polytechnische Gesellschaft gesagt hat, wir wollen gerne helfen, dieses Modell zu etablieren. Und das Kultusministerium hat dann dieses innovative Projekt, was gut in den Bildungsplan hineinpasste über zehn Jahre gefördert, sodass das Programm "Sinfonik für Kindergärten" mittlerweile zum städtischen Geschehen dazugehört. Die Erfahrungen sind außergewöhnlich gut.
    "Ich fand es auch überraschend, wie Kinder sich überhaupt begeistern für klassische Musik, ich habe mich nie getraut, meine Kinder mitzunehmen in so ein Konzert, weil ich dachte, die schlafen ja ein oder mosern nach fünf Minuten, aber als ich mich umgeguckt habe, waren alle Kinder begeistert und fanden es toll."
    "Ich glaube für alle Orchestermitglieder, die hier mitmachen, ist das eine Herzensangelegenheit. Die machen das wirklich aus Überzeugung und Leidenschaft, die meisten haben sowieso auch Kinder und sie wissen, wie wichtig es ist, Kindern diese Chance zu geben, mit klassischer Musik live und nicht über ein Medium, über CD oder TV in Berührung zu kommen. Dass die das hautnah erleben und auch spüren können."
    Dimiter Ivanov, 1. Violinist im Frankfurter Opern- und Museumsorchester begleitet seit Jahren die "Sinfonik für Kindergärten". Nicht nur in der Alten Oper, auch im Senckenberg-Museum zwischen Dinosaurier- und Walskeletten wird musiziert, hier lauschen die Kleinen dem "Karneval der Tiere". Die Musiker werden genauso wie Erzieherinnen, Eltern und Kinder, auf die besonderen Konzertbesuche vorbereitet.
    Konzertpublikum wird immer älter
    Möglicherweise wird hier der Keim gelegt für eine längerfristige Begeisterung, werden hier schon Elemente der Konzertforschung aufgegriffen, die aus den drei- bis sechsjährigen Mädchen und Jungen die dringend benötigten Konzertgänger von morgen machen. Die viel zitierte Krise der klassischen Musik beschäftigt auch den Kulturwissenschaftler Prof. Martin Tröndle von der Zeppelin- Universität Friedrichshafen. Er zeichnet ein differenziertes Bild der aktuellen Situation:
    "Man sieht ganz klar, dass bei den Festivals, die funktionieren sehr gut, und die haben durchaus auch einen Publikumszulauf, und es gibt immer mehr Festivals. Der Vorteil der Festivals ist, dass sie in ihrer Programmierung relativ frei sind und auch in der Wahl ihrer Orte relativ frei sind. Wer hingegen ein größeres Problem hat, das sind klassische Liederabende, Kammermusikabende oder das Abonnementen-Konzert."
    Diese Konzertformate sprechen immer weniger jüngere Menschen an, sind aber noch relativ gut besucht:
    "Wir profitieren davon, dass es relativ viele Leute zwischen 60 und 80 gibt, und dass diese Leute über Geld und Freizeit verfügen. Und deshalb steigt – und das wird auch noch die nächsten Jahre so sein - das Publikum leicht an. Diese Altersdelle wird zurückgehen, das hängt einfach mit dem demografischen Wandel zusammen."
    Neues Forschungsfeld "Concert Studies"
    Martin Tröndle hat gerade einen zweiten Band zum noch recht jungen Forschungsfeld der "Concert Studies" herausgegeben. Analog zu den Museumsstudien, die sich schon seit rund 90 Jahren mit der Zukunft der Museen beschäftigen, ist man dabei, interdisziplinär die klassische Konzertlandschaft zu analysieren und innovative Konzertformate zu erforschen.
    "Dafür machen wir jetzt ein mehrjähriges, sehr großes Forschungsprojekt, gefördert durch die VW-Stiftung. Und das ist ein Forschungskonsortium mit dem Max-PIanck-Institut und der Universität Bern, der Universität York und das führen wir hier im Konzerthaus und im Radialsystem durch. Und das wird sozusagen eine experimentelle Forschungsreihe, hochgradig technisch in dem Versuch zu messen, was die Besucher da empfinden. Nicht alle empfinden dasselbe, nicht alle haben dieselben Bedürfnisse und Ansprüche an diesen Abend. Und da werden wir eben z. B. mit Moderationen, mit unterschiedlichen Begleittexten, mit unterschiedlichen Programmen, mit unterschiedlicher Dramaturgie, mit einer Inszenierung des Konzerts zu arbeiten, um zu sehen, was wie wirkt."
    Das Berliner Konzerthaus und das Radialsystem werden dann auch zu Forschungsstätten. Beide Orte sind schon jetzt bekannt für klassische Konzertaufführungen jenseits des Mainstreams. Das Radialsystem ist ein 2006 eröffnetes Kultur- und Veranstaltungszentrum an der Spree, in einer denkmalgeschützten Maschinenhalle eines ehemaligen Pumpwerks. Hier zirkulieren heute Ideen, werden neue Programm- und Veranstaltungsformate entwickelt und aufgeführt, gibt es Freiraum für Neues und Unerwartetes.
    Freiraum für Neues und Unerwartetes
    Bei dieser Vivaldi-Produktion bewegen sich die Streicher auf der Bühne, folgen einer Choreografie, wirbelt ein Tänzer die Geigensolistin beim Spiel herum. Die Dramatik der Musik spiegelt sich in der Bewegung, in den Gesichtern der Musiker wieder – ein Konzerterlebnis, das alle Sinne gefangen nimmt. Für Folkert Uhde, Mitbegründer des Radialsystems, war das 2007 der Urknall des Konzertdesigns:
    "Es geht nicht darum, Konzerte bunter, fröhlicher, lauter zu machen, oder zu einem Event, wie man so hässlich sagt. Also die Frage ist immer, welches Setting, welches Ambiente, welchen Raum, welche Anordnung der Musiker ist dafür geeignet, das Musikerleben als solches zu verstärken."
    "Eine sehr gute Antwort darauf habe ich bei der Merz-Musik erlebt, die von Bernd Udo Polzer initiiert ist. Bei diesem Programm "the long now". Da kann man 30 Stunden Musik hören in dem Kraftwerk Berlin, das ist eine riesige alte Industriehalle und die Leute bringen da ihr Bettzeug mit, und liegen dann auf den Liegen: Und interessanterweise, die hören sehr konzentriert zu, das sind also Hunderte von Personen, aber die Personen haben die Freiheit, in dem Moment zu tun, was sie wollen."
    Klassik-Konzerte in Routinen erstarrt?
    Das klassische Konzertformat, wie wir es heute kennen, folgt häufig immer denselben Mustern und Routinen: Das betrifft sowohl die Abfolge des musikalischen Programms als auch den äußeren Rahmen. Das Gemeinschaftserlebnis, das viele Menschen bei Popkonzerten erleben, sei im klassischen Konzert in den letzten 50 Jahren weitgehend verloren gegangen, meint Martin Tröndle.
    "Also man kommt da rein, parkt in der Tiefgarage, fährt nach oben, gibt seinen Mantel ab, geht noch kurz auf Toilette, dann klingelt es schon drei Mal, dann setzt man sich hin, dann wird das Saallicht runtergefahren, dann applaudieren die Leute, dann kommen die Musiker rein, dann ist kurze Stille, dann applaudieren sie noch mal, dann kommt der Dirigent rein, dann fängt das Konzert schon an und nachher geht man schnell nach Hause. Und vielleicht müssen wir auch ein bisschen zurückkommen, dass Musik eben nicht nur ein ritualisiertes, ökonomisches Gut ist, sondern etwas, was Gemeinschaften entstehen lässt und was man in der Gemeinschaft zusammen erlebt. Dann ist das Konzert glaube ich ein sehr bewegender Moment."
    "Und das Format, gerade auch mit diesen restriktiven Verhaltensregeln ist eben auch ein Spiegel der Gesellschaft der Menschen des 19.Jahrhundert. Und das sind wir nicht mehr. Also warum müssen wir heute die Menschen mit Macht dafür passend machen, lasst uns doch lieber überlegen, ob das Konzert als Format sich so ändern kann, dass es zum 21.Jahrhundert passt – und die, wie ich immer noch fest überzeugt bin, tollen Erlebnismöglichkeiten für Musik, die es bietet, dann auch zum Ausdruck bringen können."
    Sagt Prof. Melanie Wald-Fuhrmann, Direktorin für Musik am Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik in Frankfurt am Main, das ebenfalls in das internationale Konzertforschungsprojekt involviert ist. Sie kann dabei auch die Erkenntnisse aus bereits existierenden Studien einfließen lassen. So hat man z. B. 2015 gemeinsam mit der Museumgesellschaft das Abo-Publikum der Frankfurter Museumskonzerte nach den Motiven für ihren Konzertbesuch befragt.
    Motive für Konzertbesuche analysiert
    "Und da ergaben sich so drei Richtungen von Antworten und Motivationen. Und eine ging stark in die Richtung, die Musik hören in neuen Interpretationen von spannenden Interpreten auf eine neue Art und Weise, die war gerichtet auf die Musik. Dann gab es eine Gruppe von Antworten, die sich herauskristallisiert hat, da ging es mehr um den Selbstbezug, also das besonderes Erleben in der Atmosphäre eines Konzertsaals, besonders intensive musikalische Erfahrungen machen, intensive Emotionen empfinden. Und einen dritten Bereich von Motivation stellte tatsächlich den geselligen Aspekt des angenehmen abendlichen Zeitvertreibs zusammen mit Bekannten und Freunden in den Mittelpunkt."
    Um der Konzertwirkung auf die Spur zu kommen, gibt es am Max-Planck-Institut für Empirische Ästhetik eine Art Kammermusikraum, der wie ein psychologisches Labor funktioniert: Während die Probanden verschiedenen klassischen Konzerten lauschen, wird z. B. der Hautleitwert gemessen, die Herzrate, die Mimik und die Atemfrequenz:
    "Wir verkabeln Menschen während sie Musik hören und fragen sie hinterher immer noch: Hat das irgendwie gestört, wie hat das ihr Musikerleben beeinflusst? Und zu unserem großen Erstaunen: Eigentlich sagen alle, anfangs war es vielleicht ein bisschen ungewohnt und komisch, aber das haben sie schnell vergessen. Und es gibt selbst Leute, die sagen uns, sie hätten die ganze Zeit geweint vor Rührung, weil das so schöne Musik war."
    Auch bei welcher Musik jemand eine Gänsehaut bekommt lässt sich so feststellen:
    "Also wenn eine Stimme einsetzt in einem Stück, wenn es plötzlich laut wird – das sind Momente, wo ziemlich häufig bei Menschen Gänsehaut ausgelöst wird, aber ob jetzt die rein physiologische Reaktion Gänsehaut auch wirklich ein subjektiv empfundenes intensives ästhetisches Erleben ist, das halte ich nicht in jedem Fall für ausgemacht."
    Messbarer "Gänsehautfaktor"
    "Wenn Sie sozusagen wirklich mitgenommen sind, dann findet so was wie Immersion statt, also das Eintauchen, dann auch ein Erleben mit den ganzen Sinnen, manche bekommen dann ggf. Gänsehaut oder halten den Atem an, und das kann man natürlich messen. Was wir machen ist, - ausgehend von verschiedenen Thesen, dass diese Aufmerksamkeit gesteigert würde- tatsächlich unterschiedliche Konzertformen auszuprobieren."
    Ergänzt Konzertforscher Martin Tröndle. Um die Aufmerksamkeit zu fördern und das Konzerterlebnis zu intensivieren, wird mit verschiedenen Elementen experimentiert: Ein Moderator erklärt z. B. die Werke und man wird messen, inwieweit dieses zusätzliche Wissen das Konzerterlebnis beeinflusst, es wird mit einer veränderten Dramaturgie gearbeitet, auch mit Lichteffekten und Videoinstallationen.
    Interaktive Elemente hat schon Leonard Bernstein bei seinen Konzerten eingebracht, indem er dem Publikum etwas über das jeweilige Stück erzählt und Hörbeispiele gebracht hat. Und auch Karl-Heinz Stockhausen und andere Komponisten haben in den 1970er Jahren mit partizipatorischen Elementen experimentiert. Die Besucher sollten nicht nur passive Rezipienten sein, sondern auch Mitgestalter. Das ist auch im Sinne des Konzertdesigners Folkert Uhde.
    "Zum Beispiel, dass das Publikum eine Auswahl hat zwischen verschiedenen Angeboten im gleichen Gebäude. Man kann sich ein Programm selber zusammenstellen, wird als Zuschauer selbst zum Kurator, also da gibt es sehr vielfältige Möglichkeiten."
    Die Beteiligung des Publikums, das kennen schon die Kleinen, die bei der "Sinfonik für Kindergärten" in der Frankfurter Alten Oper dabei sind.
    Publikum soll sich an Aufführungen beteiligen
    "Das geht so weit, dass die Kinder aus Strohhalmen das Doppelrohrblatt der Oboe imitieren und darauf versuchen dann Töne zu erzeugen."
    "Das sieht schon gut aus, und jetzt schneiden wir den schräg an, ich helfe euch dabei, schaut mal, jetzt hat der eine Spitze, Blasgeräusch. Probiert mal, die Lippen festzudrücken, aber nicht zu fest, Blasgeräusch – ja!"
    "Wenn Sie das geschafft haben, haben sie ein optimales Empfinden dafür, was ein Oboist zu tun hat, um aus diesem Instrument schöne Töne herauszulocken", so Christoph Gotthardt, Leiter des Frankfurter Projektes "Sinfonik für Kindergärten".
    "Bei der "Morgenstimmung" ist es so, dass das Blau der Flöte und das Rot der Oboe mit Farben, Tüchern agiert wird. Aber es gibt es eben auch andere Stellen, die diese Innigkeit und diese Konzentration fast noch besser abbilden."
    "Zum Beispiel bei "Solveigs Lied" am Anfang, das unisono im Orchester, eine langsame Passage, das bedeutet für uns, in unserer Fassung für die Kindergärten, wird das Buch des Lebens aufgeschlagen und dieses Aufschlagen des Buches vollführen die Kinder mit einer Handbewegung mit. Und der entscheidende Punkt ist, dass diese Bewegung sehr langsam ist und sie muss so taxiert sein in der Geschwindigkeit, dass es genau mit dem Orchesterklang der Melodie zusammengeht. Und das ist ein Punkt, der sehr schön zu erleben ist, wie die Kinder mit aller Andacht dieses Buch auf und auch wieder zuklappen und dazwischen mit großer Konzentration auch die Emotionen von Solveigs Lied wahrnehmen."
    Weitere Themen der Sendung vom 06.09.2018:
    Über die Vielfalt des Alterns
    Ergebnisse einer Repräsentativbefragung in NRW
    Interview mit Prof. Dr. Susanne Zank, Humanwissenschaftlerin an der Universität Köln
    Papier macht Geschichte
    Eine Spurensuche im neu eröffneten Dürener Papiermuseum
    "Wir zuerst! Nationalismus in Europa und Deutschland"
    Fachtagung der Bundeszentrale für politische Bildung in Mainz
    Am Mikrofon: Bettina Köster