Archiv


"International spielt deutsche Dichtung keine Rolle"

Die deutsche Lyrik gehört zu den besten weltweit, findet der Leiter der Literaturwerkstatt Berlin, Thomas Wohlfahrt. Doch der Zugang zur Poesie sei verstellt. Das Zentrum für Poesie solle "in einer Art Mediathek das Gedächtnis von Dichtung reorganisieren".

Thomas Wohlfahrt im Gespräch mit Christoph Schmitz |
    Christoph Schmitz: Die Literaturwerkstatt Berlin, die gibt es seit 1991. Sie hat ihren Sitz in der Kulturbrauerei. Dort trinkt man nicht nur Bier, sondern organisiert eine Menge: das jährliche Berliner Poesiefestival, alle zwei Jahre das ZEBRA Poetry Film Festival, die Webseite lyrikline.org und vor allem den Literaturwettbewerb samt Preis "Open mike". Neben dem Ingeborg-Bachmann-Preis ist "Open mike" vielleicht eines der wichtigsten Foren für den deutschsprachigen literarischen Nachwuchs. Die Literaturwerkstatt Berlin will jetzt noch mehr für die filigranste, zerbrechlichste und kleinste aller Wortkunstwerke tun: für die Poesie. Ein Zentrum für Poesie soll ins Leben gerufen werden. Ein Zentrum für Poesie soll "Strahlkraft auf die gesamte Kulturlandschaft entfalten und weit darüber hinaus", heißt es in einer Ankündigung der Werkstatt. Ein Ort für Service, Information, Arbeit, Begegnung rund um die Lyrik. Was konkret stellen Sie sich vor, habe ich den Leiter der Literaturwerkstatt gefragt, Thomas Wohlfahrt?

    Thomas Wohlfahrt: Ein Zentrum für Poesie gibt es in Deutschland nicht. Es geht um einen Quantensprung, damit in diesem Land etwas wirklich für die Dichter auch geschieht - der Gestalt, dass sie herausgehoben werden, international wieder wahrgenommen werden können, dass Poesie auch als Art und Weise, Wirklichkeit zu bauen, zu beschreiben, in den Griff zu bekommen, wieder tiefer in unser Bewusstsein gerät und wieder Teil hat am gesellschaftlichen Leben. Weil die Dichterinnen und Dichter haben viel zu sagen und die in diesem Land, unserem Land geschriebene Dichtung gehört - das kann ich sagen, weil ich international sehr arbeite, unterwegs bin - wirklich zu den besten, die man weltweit vorfinden kann.

    Schmitz: Die Dichtung ist ja etwas Fragiles, etwas Kammerspielartiges, Zartes, eher für den kleinen Kreis …

    Wohlfahrt: Na ja, na ja!

    Schmitz: …, und da frage ich mich, ob das dann, ein Zentrum, nicht etwas groß bemessen ist.

    Wohlfahrt: Schauen Sie, das liegt wo möglich daran, dass genau immer das Schwanenlied gesungen wird auf die Dichtung, dass Nische gesagt wird, dass fragiles Blümchen gesagt wird, und dann braucht man ein Orchideenfach eigentlich noch. Ich glaube, das stimmt nicht. Wie gesagt, das Poesiefestival Berlin hat in einer Woche etwa 12.000 Besucher. Wir haben in den letzten Jahrhunderten den Begriff oder den Zugang zur Poesie ziemlich zerstört. Wenn man ein bisschen kulturell weiterschaut, sagen wir mal in den arabischen Raum, dann hat der Dichter seinen Stuhl neben dem des Propheten, also ein unglaublicher gesellschaftlicher Stellenwert, hoch gefährlich. Schaut man nach Lateinamerika, dann hat Medellín, das weltgrößte Poesiefestival, etwa im gleichen Zeitraum, eine gute Woche, nicht nur runde 12.000, sondern 120.000, 130.000 Besucher. Das ist ein anderes Umgehen damit. Wir haben – wir meint jetzt in unseren kulturellen Breiten – dafür gesorgt in den letzten wie gesagt Jahrhunderte sind dafür verantwortlich, dass man den Zugang zur Poesie verstellt hat.

    Schmitz: Literaturhäuser gibt es nicht nur in Berlin, sondern deutschlandweit eine ganze Menge, ein Haus der Poesie noch nicht. Aber diese Literaturhäuser präsentieren ja nicht nur Belletristik, sondern auch Poesie. Aber warum glauben Sie, dass es für das Publikum eines Zentrums der Poesie dennoch bedarf?

    Wohlfahrt: Also wie gesagt, wir haben ja ein Ganzjahresprogramm und können uns über Publikumsschwund oder wenig Publikum nicht beklagen. Es gibt einen Ort, der konzentriert sich um Dichtung kümmert: Das ist das Lyrik-Kabinett in München. Das ist eine privat finanzierte Stiftung. Warum braucht es ein Zentrum für Poesie? Ich will es Ihnen sagen oder versuche, es Ihnen zu sagen: Es geht darum, in einer Art Mediathek das Gedächtnis von Dichtung zu reorganisieren. Ein Beispiel: Der doch bekannte Dichter Uwe Kolbe ging vor geraumer Zeit, er schrieb da einen Artikel im "Tagesspiegel" zu, in die für ihn vorgesehene Bibliothek oder zuständige, und in Berlin sind ja Stadtteile so groß wie mittlere Großstädte, also nach Charlottenburg in die Bibliothek und versuchte, ganz einfach einen Band von der wichtigen deutschen Dichterin Sarah Kirsch zu bekommen. Und siehe da: Es gab ihn nicht nur nicht, sondern man kannte sie auch gar nicht und man wusste damit gar nichts anzufangen. Also ich will sagen: Hier bricht uns richtig was weg, das ist das eine. Das zweite: Deutsche Dichtung im internationalen Raum. Seit Benn/Brecht – und das kann man nachweisen – ist der Zugang oder das Verständnis dafür, überhaupt nur das Habhaftwerden von Dichtung aus diesem Land, weggebrochen. Hin und wieder kommt da schon mal eine Übersetzung, Doris Grünmeier erscheint demnächst im Türkischen, toll, aber das sind Ausnahmen und international spielt deutsche Dichtung keine Rolle. Wenn man da was ändern will, muss man international arbeiten, und das heißt also die doppelspurige Autobahn, wenn man das will. Also Austausch ist ganz wichtig.

    Schmitz: Herr Wohlfahrt, Sie sagten, dass das Zentrum für Poesie unter dem Dach Ihrer Literaturwerkstatt fungieren soll und die verschiedenen Aktivitäten auch bündeln soll.

    Wohlfahrt: Ja.

    Schmitz: Wie kommen Sie an Geld, wer kann realistischerweise Geld geben? Das klamme Berlin?

    Wohlfahrt: Das klamme Berlin hat immerhin zugesagt, dass es - das sind im Moment 515.000 Euro im Jahr - dafür zur Verfügung stellen würde. Somit hätte man das Land drin. Ein entsprechender Antrag ist beim Bund gestellt. Wir starten jetzt eine Kampagne, um das deutlich und wichtig zu machen, weil die Zeit ist reif und irgendwann ist sie überreif und dann ist das weggeschüttet und weggekippt auf bis Sankt Nimmer.

    Schmitz: Thomas Wohlfahrt war das, Leiter der Literaturwerkstatt Berlin, über die Kampagne für ein Poesie-Zentrum.


    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.