Michael Köhler: Die Meinungs-, Kunst-, Wissenschafts- und Redefreiheit sind in modernen, liberal verfassten Gesellschaften hohe Güter, um die lange gerungen wurde. Meist haben sich Schriftsteller und Autoren gegen Zensur und die Fesseln der Fremdbestimmung erst lange zur Wehr setzen müssen. Heinrich Heine und das Junge Deutschland konnten ein Lied davon singen. Ein Anwalt des freien Wortes ist seit 1921 die Schriftstellervereinigung PEN. Sie versteht sich unter anderem als Stimme verfolgter und unterdrückter Schriftsteller.
Vom 85 . Internationalen Kongress PEN- Schriftstellerkongress in Manila auf den Philippinen ist Regula Venske, die Präsidentin des deutschen PEN Zentrums, zurückgekehrt. Wir sind im internationalen Jahr der indigenen Sprachen. Ihr Motto war "Speaking in Tongues: Literary Freedom & Indigenous Languages." Frau Venske, warum dieses Thema?
Regula Venske: Das Thema passte sehr gut zu den Philippinen, denn – was ich vorher auch nicht wusste – auf den Philippinen werden etwa 170 verschiedene Sprachen und Dialekte gesprochen. Es ging auch ganz konkret um die Rechte dieser indigenen Muttersprachen im Verhältnis zu den Hauptsprachen, die sich ja auch weltweit immer mehr durchsetzen. Auf den Philippinen wird ja sehr viel Englisch gesprochen. Die Sprachgerechtigkeit und der Schutz der kulturellen Integrität der indigenen Völker der Philippinen – das steht auch im Zusammenhang mit einem wichtigen Schwerpunkt des Internationalen PEN.
Es gibt ja verschiedene Komitees im PEN International. Das wichtigste Komitee ist natürlich das "Writers in Prison"-Komitee, das es seit 1960 gibt. Da setzen wir uns ja ein für Autoren und Autorinnen, die im Gefängnis sind und deren Leben bedroht ist aufgrund dessen, was sie geschrieben haben. Dann gibt es die Komitees "Women Writers Committee" und "Writers for Peace Committee". Und als viertes ganz wichtig das "Translation and Linguistic Rights Committee". Und da geht es wirklich um die Bedeutung der Übersetzung und um die linguistischen Rechte und ganz stark um die Muttersprachen, die weltweit durch die Konzentration auf wenige, meist ja dann Sprachen der Eroberer bedroht sind.
Sprache der Wahrheit
Köhler: Wenn in der Bibel von Zungenrede die Sprache ist, wird meist damit ein unverständliches Reden in Lauten und Worten bezeichnet. Welche Sprachen sind nach Ihrer Auffassung bedroht im eigentlichen, aber auch im übertragenen Sinne? Denn Sie haben sich auch über Sprache der Demokratie, Freiheit und Hassrede Gedanken gemacht.
Venske: Zum einen geht es ja um die ganz konkrete Bedrohung der Muttersprachen. Und da ist es ja gerade nicht wie in der Bibel das unverständliche Reden sondern eher die Hoffnung auf das Pfingstwunder, dass wir uns trotz der verschiedenen Sprachen verstehen.
Im übertragenen Sinne: Es ist natürlich schon ein Thema, wenn sich "Hate Speech" und "Fake News" immer weiter durchsetzen. Das Wichtigste, was uns da im übergeordneten Sinne am Herzen liegt, ist die Sprache der Wahrheit. Angesichts dieser Bedrohungen durch hasserfüllte Rede und durch Propaganda, die dann Lügen verbreitet, um dann irgendwelche Dinge durchzusetzen, geht es immer wieder um die Ausrichtung, sich an der Wahrheit zu orientieren: im Journalismus, aber auch in der Politik und wo immer man gerade arbeitet.
"Literatur kennt keine Grenzen"
Köhler: Ein Ergebnis Ihrer Tagung war auch ein Manifest unter dem Titel "Democracy of Imagination" – "Demokratie der Einbildungskraft". Was muss ich mir darunter vorstellen?
Venske: Das richtet sich an diese Auseinandersetzungen und Debatten, die es im Zusammenhang mit der so genannten kulturellen Aneignung gibt. Da wird ja manches immer schwieriger zu schreiben. Stichwort ist dann auch: Was ist politisch korrekt? Was kann man etwa schreiben, wenn man Reisejournalist oder Reiseschriftsteller ist? Diesem Protest gegen diese so genannte kulturelle Aneignung wird entgegengehalten, dass die Einbildungskraft, die Fantasie, die Literatur keine Grenzen kennt – auch keine Grenzen des Geschlechts oder irgendwelcher kultureller Zugehörigkeit. Sondern dass die Fantasie uns ermöglicht, uns unsere eigene Rolle, unsere Zeit, unsere gesellschaftliche Begrenztheit zu transzendieren und auch zumindest zu versuchen, sich auch in andere Menschen hineinzuversetzen. Natürlich tragen wir aber trotzdem diesem Bedenken Rechnung. Das muss natürlich mit Empathie gehen.
Und daran wird sich dann auch die Größe eines Schriftstellers oder einer Schriftstellerin zeigen, mit wieviel Empathie und wieviel Einbildungskraft es einem gelingt, sich dann in einen anderen Menschen aus einer anderen Kultur hineinzuversetzen. Das soll natürlich keine Appropriation sein, die dann nochmal das Fremde ausbeutet. Sondern inwieweit gelingt es einem, wirklich eine andere Perspektive einzunehmen. Das ist eine Diskussion, die es ja gibt. Dieses Manifest, als die Präsidentin Jennifer Clement es vorlas – da ist es, glaube ich, vielen so gegangen wie mir, dass man eigentlich Gänsehaut hatte, weil es doch sehr schön ist. Ich empfehle dringend, es auf der Website des Internationalen PEN nachzulesen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.