"Wir haben eine kosmopolitische Herausforderung. Die Welt ist irgendwie in Unordnung, anders als sich das manche nach dem Ende des Ost-West-Konflikts vorgestellt haben. Da war ja so die Vorstellung, die westliche Ordnung breitet sich aus weltweit. Und dann ist eigentlich alles erreicht, was man nur sich wünschen kann. Und in der Wolle gefärbte Hegelianer sagen dann: Das ist dann endgültig das Ende der Geschichte. Es ist ganz anders gekommen. Es sieht ziemlich danach aus, dass wir mitten in historischen Umbruchphasen stehen."
Der westliche Interventionismus der vergangenen Jahrzehnte sei vorbei, stellt Julian Nida-Rümelin, Professor für Philosophie und politische Theorie an der Uni München, fest. Die Europäische Union, die derzeit keine abgestimmte Außenpolitik betreibe, sei nun als Akteurin herausgefordert.
Auch die Theoretiker unterschiedlicher Disziplinen wie Jurisprudenz, Politikwissenschaft und Philosophie ruft er dazu auf zu klären, wie eine humane, zivile, möglichst rechtlich verfasste Weltordnung der Zukunft aussehen kann. Gibt es jenseits der Nationalstaaten eine demokratische politische Legitimation – und wie kann diese aussehen?
Unterschiedliche Vorstellungen von Gerechtigkeit und Freiheit
Keine leicht zu beantwortende Frage, stellt Barbara Zehnpfennig, Passauer Professorin für politische Theorien und Ideengeschichte, fest. Außer der zunehmenden Re-Nationalisierung spricht sie ein weiteres Problem an: Die Staaten bräuchten eine gemeinsame Wertebasis, um in Einigkeit und effektiv zu handeln.
"Nun ist bei der staatenübergreifenden Zusammenarbeit, die so unendlich nötig wäre, eines wohl nicht zu leugnen. Die entscheidende Vorstellung, wie man international kooperieren und Gerechtigkeit, aber auch Frieden und Sicherheit durchsetzen könnte, sind westlichen Ursprungs. Die Menschenrechte zum Beispiel fußen auf einem Glauben an den Wert des einzelnen Lebens, der in kollektivistisch orientierten Kulturen keineswegs selbstverständlich ist."
Stefan Gosepath stimmt ihr zu und spricht von einem Rechtfertigungsnarrativ in den westlichen linksliberalen Milieus, das derzeit stark unter Druck stehe:
"Was wir auch sehr häufig sehen, ist, dass von anderen Staaten, den dann nach wie vor doch sehr wirkungsmächtigen Staaten, die bis vor kurzem eben die liberale Ordnung verteidigt haben, also der Westen, dem wird vorgeworfen, dominant zu sein, seine Ordnung anderen aufzudrücken, eine Hegemonie zu haben, diese Ordnung vorzuschreiben und den Rest der Welt zu kolonialisieren. Damit meine ich intellektuell zu kolonialisieren."
Das chinesische Modell als Anfechtung des liberalen Ordnungssystems
Als Beispiel nennt der Professor für praktische Philosophie an der Freien Universität Berlin China. Der Globalplayer, einer der militärisch-ökonomisch mächtigsten Staaten der Welt, wehre sich nicht nur gegen eine Intervention in seine Angelegenheiten. China strebe außerdem eine internationale Führungsrolle an. Diese irritiere deshalb,...
"...weil die eben anders aussieht als die liberale Ordnung. Weil die in gewisser Weise die Einzelstaaten in ihrer Souveränität unangetastet sein lassen wollen und nur Verträge zwischen den Staaten haben wollen und keine menschenrechtlich globale Ordnung, die alle Staaten auch innerstaatlich verpflichtet."
Das chinesische Modell bezeichnet Stefan Gosepath in einer Zeit, die von neuen Schlagwörtern wie "post-truth", "post-capitalism" und "post-liberalism" geprägt sei, als Anfechtung des liberalen Ordnungssystems.
Er selbst macht sich für die liberale Ordnung stark, die auf Individualismus und Autonomie fußt. Immerhin hätten die meisten Staaten sich auf eine gemeinsame Moral verpflichtet und die Wahrung der Menschenrechte unterschrieben:
"Also meine These ist ja, dass es einen Menschenrechtskonsens gibt, einen überlappenden Konsens, zwischen verschiedenen Moralauffassungen – und zu Moralauffassungen zähle ich jetzt auch die großen Weltreligionen. Es gibt viele Gebote in allen großen Weltreligionen, die ziemlich ähnlich klingen. Und das wäre dann zum Beispiel so ein überlappender Konsens. Das heißt, ein Muslim und ein Christ kann sich darin einig sein, dass man bestimmte Sachen nicht tun sollte, Menschen ermorden zum Beispiel, hat aber eine unterschiedliche religiöse Begründung dafür."
Ist Gerechtigkeit global zu verstehen?
Mit der Idee einer gerechten Ordnung haben sich nicht erst die politischen Denker und Philosophen der 1970er Jahre wie John Rawls in seiner "Theory of Justice" befasst. Zwanzig Jahre zuvor prägte die politische Theoretikerin Hannah Arendt das Schlagwort vom "Recht auf Rechte".
Georg Nolte, Professor für Völkerrecht an der Berliner Humboldt-Universität, erinnert daran, dass die Frage nach globaler Gerechtigkeit schon in der Präambel der UN-Charta 1945 gestellt wird.
Als Mitglied der UN-Völkerrechtskommission schildert er, wie schwierig es dort ist, sich über die Frage der internationalen Gerechtigkeit zu einigen:
"Man versucht, die Frage der Gerechtigkeit meistens auszuklammern, da bei Vertretern 34 verschiedener Herkunftsländer meistens über die Frage, was ist gerecht, unterschiedliche Auffassungen herrschen. Und man bemüht sich aber sehr häufig überraschend erfolgreich, dass man trotz der unterschiedlichen Gerechtigkeitsvorstellungen zu Formulierungen kommt, die rechtlich sinnvoll sind und auch verhaltensleitend sind."
Unterschiedliche Auffassungen herrschten etwa bei Themen wie dem globalen Wohlstandsausgleich und dem Schutz der Erdatmosphäre. Gerungen wird um die Frage, wie viel Verantwortung industrialisierte oder nicht-industrialisierte Länder übernehmen müssen. Für Georg Nolte stellt sich die Gerechtigkeitsfrage heute wieder neu:
"Ist die Gerechtigkeit nur global zu verstehen oder kommt es auf die Gerechtigkeit bei uns zu Hause an? Geht es um unsere Armen hier oder unsere Armen dort außerhalb Europas? Das ist jetzt die politische Frage."
Eine unparteiliche Weltpolizei in einer globalen Ordnung
Die Weltgemeinschaft muss in anderen Staaten eingreifen können, fordert Stefan Gosepath. Die Lösung besteht für ihn aber weder in einem Weltstaat, noch in einer so genannten Koalition der Willigen, die aus Eigeninteresse zu handeln im Verdacht steht.
Der Philosoph hält vielmehr eine Art unparteiliche Weltpolizei in einer globalen Ordnung für nötig,...
"...die wenigstens stark genug ist, jeden einzelnen Staat daran zu erinnern – um es mal ganz vorsichtig zu formulieren -, seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen. Und das heißt, dass die Staaten auch von außen sanktioniert werden können. Und im schlimmsten Fall, dass von außen in die Staaten interveniert werden kann, wenn die Menschenrechte mit Füßen treten. Es kommt jetzt sehr stark darauf an, dass wir auch geregelt bekommen auf der UN-Ebene, wer autorisiert ist, dort entsprechend einzugreifen."