Man muss sich nicht einem Adler gleich in die Lüfte schwingen, um auf den Gletscher zu gucken. Die Plattform am Bettmerhorn bietet beste Aussicht. Um uns die Bergdohlen und unter uns zieht der Gletscher eine weite Kurve zwischen den Felshängen. Wir können nicht sehen, woher er kommt und ahnen nur sein unteres Ende. Hier ist der Aletsch nur 1,5 Kilometer breit, doch so viel hätte ich nicht geschätzt. Das macht die Höhe.
"Wir sind jetzt hier auf einer Höhe von ca. 2.500 Meter. Um runter zu laufen dauert es etwa eine Stunde bis man wirklich am Gletscherrand ist. Das sind schon 600 bis 800 Höhenmeter.
Längs auf dem Gletscher ziehen sich zwei dunkle Streifen, wie Fahrbahnen. Doch dazu später. Der Eisrand sieht schrundig aus, als ob da eine Riesentatze gekratzt hätte. Dabei sind es richtige Gletscherspalten, in denen ich wohl verschwinden könnte. Die Höhe lässt auch diese kleiner wirken.
"Es ist wirklich ein Eisgigant. Von oben sieht es aus wie eine Autobahn. Aber wenn man dann unten auf diesem Gletscher steht und diese geführte Wanderung macht, sieht man diese Dimensionen, die dieser Gletscher hat. Dann sieht man auch, wie tief die Spalten sind. Es ist auch nicht ungefährlich, man muss schon einen Führer dabei haben, sonst ist es zu riskant."
Ich genieße den Blick von oben zusammen mit Monika König-Gottsponer vom Feriengebiet Aletsch Arena, auf der Bergkette, die den Gletscher im Süden begrenzt, weit oben über dem Rhône-Tal. Hoch kommt man nur mit der Bergbahn, Autos bleiben unten. Oben fährt man mit dem Elektrobus oder wandert. Ursprünglich war es die weitläufige Sommeralpe für die Tiere aus dem Tal. Jetzt tummeln sich je nach Jahreszeit Wanderer und Skifahrer, wobei der berühmte Gletscher frei ist von Skipisten. Von oben sehe ich auch eine Kante am gegenüber liegenden Felsen, weit über dem Eis, die trennt Grünschimmer von grauem Fels darunter.
"Man sieht da die Grenze, wo es noch grün ist. 1850 ungefähr war der Gletscher noch so hoch. Das ist doch 200 Meter Höhenunterschied. Auch jährlich schmilzt er weg. Bis zu 200 Meter verliert er an Länge."
Rückgang der Gletscher beschleunigt
Das ist auch Thema beim Schweizer Umweltverband Pro Natura. Der betreibt auf der Riederalp mit der Villa Cassel ein Bildungs- und Informationszentrum, seit 41 Jahren schon. Laudo Albrecht ist dessen Leiter.
"Wir wissen, dass der Aletsch-Gletscher zwar immer noch der längste Gletscher der Alpen ist, mit seinen knapp 23 Kilometer. Wir wissen aber auch, dass er sehr stark zurückgegangen ist. Allein in den 40 Jahren ist er um 1.300 Meter kürzer geworden. Nun kann man natürlich sagen: Das haben die Gletscher immer gemacht, die sind immer mal vorgestoßen und dann zurückgeschmolzen. Wir beobachten aber jetzt, dass sich dieser Rückgang beschleunigt. Nicht die Abschmelzung an sich, aber die Geschwindigkeit ist für uns ein ganz klarer Hinweis, dass die Klimaerwärmung einen ganz wesentlichen Anteil an dieser Abschmelzung hat."
Die Villa Cassel ist ein romantisch wirkendes Fachwerkhaus, wie ein kleines Schlösschen. Gebaut an exponierter Stelle von Sir Ernest Cassel, der stammte aus Deutschland, hat als Bankier in England eine Blitzkarriere gemacht bis in die high Society und zum Burnout.
"Und sein Arzt, der englische Hofarzt Dr. William Broadbent, hat ihm dann Ruhe und frische würzige Alpenluft verschrieben und hat ihn auf die Riederalp geschickt. Und so ist das Haus, die Villa Cassel, zwischen 1900 und 1920 gebaut worden und bildete dann bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs den Treffpunkt der englischen High Society, denn Cassel hat dieses riesige Haus natürlich nicht für sich alleine bauen lassen, sondern er wurde begleitet von Leuten, die er extra nach einem ganz bestimmten Schema ausgewählt hatte. Er hat zwar die Aufenthalte hier gebraucht, um sich zu erholen, hier wurden aber auch Geschäfte gemacht."
Sogar Winston Churchill kam. Später war die Villa ein nobles Berghotel. Doch als das Noble verstaubte, für die gründliche Renovierung das Geld nicht reichte, stand sie leer, bis Pro Natura das Haus zum Bildungszentrum am Gletscher machte. Übrigens waren es schon vor Ernest Cassel die Engländer, die vor 150 Jahren den Tourismus in den Schweizer Alpen begründeten.
"Ich erinnere z. B. an die Erstbesteigung des Matterhorns. Das war ja ein Engländer. Also das waren nicht nur die Bergsteiger, die in die Alpen kamen. Angelockt wahrscheinlich auch durch diese Berichte, die diese Bergsteiger veröffentlicht haben, kamen auch andere in diese Region um Ferien zu machen. Die Anfänge des Tourismus waren alles Engländer."
Der Place de la Concorde der Natur
Unterhalb der Villa Cassel, am Hang über dem Gletscher erholt sich gerade der Aletsch-Wald von der Übernutzung und wird wieder zum Urwald. In der letzten Eiszeit lag der Gletscher Eifelturm-hoch auf dem Berggrat, nach der Schmelze ist in Jahrtausenden der Wald am Hang gewachsen. Die Bauern haben reichlich Holz geschlagen, ließen ihre Tiere im Wald weiden. Das Waldgefüge kam durcheinander. Schon 1933 wurde der Aletsch-Wald unter Schutz gestellt, denn das Besondere: hier kann man beobachten, wie sich die Pflanzenwelt die vom Gletscher freigegebenen Hänge erobert, wie hier ein neuer Wald entsteht. Die verschiedenen Stadien finden sich dicht beieinander, von kleinen Moospolstern auf dem nackten Geröll bis hin zu uralten Arvenbäumen, einer Kiefernart. Trotz des strengen Schutzes dürfen Wanderer den Wald erkunden. Ich bin mit Irina Butschek unterwegs, Praktikantin bei Pro Natura. Deutlich ist zu sehen, wie vor dem Felshang ein Wall aufgeschüttet ist. Jetzt sind wir auf der Seitenmoräne, sagt Irina, holt aus ihrem Rucksack ein Beutelchen mit Steinen und erklärt.
"Wir stellen uns jetzt mal vor, das hier ist der Boden, dann haben wir hier unser Geröll. Steine, die am Boden liegen, loses Material bzw. auch Material, das von dem Gletscher abgeschliffen wird. Jetzt kommt hier die Gletscherzunge und schiebt das Geröll vor sich her. Und schiebt es aber auch an den Rand. Wenn jetzt der Gletscher abschmilzt, sehen wir hier die Seitenmoränen, vorne die Endmoräne und hier die Grundmoräne."
Und wo zwei Gletscher zusammenfließen, bilden die Seitenmoränen eine Mittelmoräne, die von weit oben wie eine Fahrspur aussieht. Was uns in Norddeutschland die Eiszeiten hinterlassen haben, baut also der Gletscher auch, nur in anderer Form. Im Aletsch-Wald sind wir dem Eis-Giganten viel näher als oben am Bettmerhorn. Wir sehen die Spitze des Gletschers, schwarz wie ein Kohlehaufen, und sehen, dass auch die beiden dunklen Längsstreifen auf dem Eis aus Geröll bestehen. Beim Aletsch sind es gleich zwei Mittelmoränen, denn weit oben auf dem Konkordiaplatz fließen drei mächtige Firnströme zusammen, Firn ist alter Schnee, der zu Eis wird. Der Konkordiaplatz ist eine recht ebene, sechs Quadratkilometer große Eisfläche, umgeben von einigen 4000 Gipfeln.
"Den Namen Konkordiaplatz hat er erhalten, weil ein französischer Journalist um 1900 geschrieben hat, dass dieser Platz der Place de la Concorde der Natur sei. Der Gletscher ist dort 900 m tief", sagt Mario Gertschen im nagelneuen World Nature Forum in Naters, im Rhônetal unterhalb der Aletsch Arena. Hier wird das Leben eines Gletschers erklärt, der ja kein starres Gebilde ist, sondern ein Fluss aus Eis, der mal schneller mal langsamer fließt, der wächst und abschmilzt. Was macht nun den Großen Aletsch zum Weltnaturerbe? Er erfüllt gleich drei von vier Kriterien, wobei eins schon reichen würde.
"Das ist einmal die Einmaligkeit. Also es ist die größte zusammenhängende vergletscherte Zone Europas mit dem größten Gletscher Europas, dem Aletsch-Gletscher, der 22 Km lang ist. Wenn man den heute schmelzen würde, könnte die gesamte Weltbevölkerung 4,5 Jahre lang jeder täglich einen Liter Wasser trinken. Das zweite Kriterium, das wir erfüllt haben, ist die Vielfältigkeit. Wir haben sehr unterschiedliche Lebensräume auf kürzester Distanz. Also oben das Jungfrau-Gebiet, die ganze Gletscherlandschaft ist eher arktisch. Hier auf der Walliser Seite fast mediterran, Steppenlandschaft, viele Reptilien kommen dort vor. Und auf der Berner Seite hingegen haben wir sehr wasserreiche Landschaft, wir haben die großen Wasserfälle, wie Staubbachfall, Reichenbachfall. Und das dritte ist die Schönheit. Es wird bei der UNESCO so definiert, dass es sich in der Kultur, in der Literatur niedergeschlagen hat. Die ganze Gebirgsmalerei hat hier im Berner Oberland ihren Ursprung. Literaten wir Goethe oder auch Tolkien, der Herr der Ringe geschrieben hat, ließ sich hier vom Lauterbrunnental als Bruchtal beispielsweise inspirieren."
Der Gletscher wird noch lange bleiben
Wenn Mario Gertschen vom größten Gletscher Europas spricht, dann meint er Zentraleuropa, denn in Norwegen, auf Island gibt es noch größere. Ein kleiner Waggon im Info-Zentrum steht für ein verwegenes Projekt von 1910 etwa. Ein Gegenstück zur Jungfraubahn sollte es werden, eine Süd-Anfahrt. Im Waggon kann man die Vision nacherleben.
"Also hier der Aletsch-Wald und jetzt ist man schon auf dem Gletscher drauf. Kann man also filmisch nachfahren, was damals visionär geplant wurde. So eine Bahn sollte durch den ganzen Gletscher fahren? Zumindest bis auf die Fiescheralp und dann hätte man ein Schlittenbahnsystem angewandt, also wie ein Skilift, an den Schlitten angehängt werden. Dann wäre man so hinauf zum Jungfraujoch gefahren, über den Aletsch-Gletscher. Anfangs war der Kanton Wallis dagegen, hat dann aber langsam Freude am Projekt bekommen. Dann war der Bundesrat dagegen. Und als dann eigentlich alle Hürden aus dem Weg geschafft waren, brach der 1. Weltkrieg aus und das Geld war nicht mehr vorhanden."
Auch wenn sich der große Aletsch-Gletscher zurückzieht, wird er uns noch sehr lange erhalten bleiben. Doch die vielen kleinen Gletscher…
"Wo wir eigentlich immer am Ende des Tals einen kleinen Gletscher haben, der das Wasser spendet für die Landwirtschaft und Energiegewinnung. Es wird so sein, dass die in 30 Jahren weg sind. Wir müssen uns jetzt überlegen, was machen wir in Zukunft, damit wir auch im August noch Wasser haben für die Landwirtschaft. Denn so bis Mitte Juli hat man Schmelzwasser vom Winter und dann kommt nur noch Gletscherwasser. Und da muss man sich jetzt überlegen, ob man Stauseen bauen will."
Weil das Wallis ziemlich trocken ist, wird schon seit Jahrhunderten Gletscherwasser über weite Strecke geleitet. In zum Teil waghalsigen Bauwerken.
"Wir wissen nicht genau, seit wann. Aber die erste Erwähnung stammt von 1307. Da wurde nicht geschrieben, dass 1307 eine Suone gebaut wurde, nein, da wurde geschrieben, dass die Person, die Wasser von dieser Suone entwendet, dass die ihre Hand verliert. Amputé."
50 Km weiter westlich, an den Hängen oberhalb von Sion wurden drei solcher Wasserleitungen, Suonen oder (französisch) Bisse genannt, zu einem besonderen Wanderweg verbunden. Die einfachste Variante: ein Graben wurde ausgehoben und mit dem Aushub daneben der Weg angelegt, denn die Suone musste regelmäßig gereinigt werden. Anne Carron Bender zeigt Ausbau-Varianten.
"Zwischen 1901 und 1903 wurde diese Wassersuone gebaut. Zu dieser Zeit hatten wir schon moderne Bautechnik. Haben wir diesen Teil mit Metall gebaut. Aber wenn wir diese Wasser-Suone im 15. Jh. gebaut hätten, dann wäre das Holz."
Meist schlängelt sich die Suone mehr oder weniger befestigt neben dem Weg dahin. Wir kommen aber auch an eine Felswand, an der eine Bretterkonstruktion hängt, wie sie um 1380 gebaut wurde. Am senkrechten Felsen, an vermeintlich unzugänglicher Stelle.
"Das ist das Wunder. Unglaublich. Man musste, man wollte unbedingt Wasser auf dem Abhang bekommen. Warum?"
Interessant sind die Querverbindungen die Anne Carron zieht. Im Mittelalter reichte der Ertrag der kleinen Felder an den Hängen gerade für die Eigenversorgung mit Gemüse und Getreide. Doch dann kam…
"…die Pest, 1349. Zwischen 30 Prozent und 50 Prozent der Bevölkerung stirbt durch die Pest. Viele Felder werden frei. Möglichkeit, eine neue Landwirtschaft zu entwickeln." Nämlich Rinderzucht.
Fernwasserleitungen und Wanderwege
In Italien gab es zahlungskräftige Abnehmer. Die Tiere brauchten saftige Weiden und Heu für den Winter, also Wasser. Die Gebirgsbäche bringen zwar im Frühjahr viel Schmelzwasser, sind im Sommer jedoch meist trocken. Also wurde Wasser von den Gletschern über viele Kilometer an den Berghängen entlang geleitet bis dorthin, wo es gebraucht wurde. Auch im 19. Jahrhundert gab es einen Grabe-Boom. 1859 kam die Eisenbahn nach Sion, zehn Jahre zuvor war der Rhône begradigt worden, der nun nicht mehr das ganze Tal überschwemmte. Es wurde Platz für Siedlungen und Landwirtschaft.
"Mit dem Zug können wir Getreide importieren, können wir andere Waren exportieren, Trauben exportieren, Wein exportieren. Man legt viele Weinberge an."
Die auch wieder Wasser brauchten. Oberhalb von Sion, aber nicht nur dort, ziehen sich die Wassergräben wie ein Spinnennetz über die Berghänge. Und wenn die Suone einen Bergbach kreuzt, dann entweder in einem kleinen Tunnel oder mit einer Trogbrücke über dem Bach.
"Niemals gibt es eine Kreuzung zwischen einer Wasser-Suone und einem Gebirgsbach. Niemals."
Weil der reißende Bach Holz, Geröll, Sand mitbringt und die Suone verschütten würde. Man hat sich was einfallen lassen. Einst standen an den Wasserläufen Hütten für die Wärter, dahinter haben kleine Wasserräder Hämmer angetrieben. So konnte der Suonen-Wärter hören, ob das Wasser läuft oder er Hindernisse beseitigen musste. Die Jahrhunderte alten Suonen dienen im Wallis immer noch als Fernwasserleitungen und sind auch wunderschöne Wanderwege mit einem historischen und wirtschaftlichen Hintergrund.
Die Recherche wurde vom Schweiz Tourismus mit 3 Hotel-Übernachtungen unterstützt.