Musik: Naftule Brandwein – "Nifty‘s freilach"
"Ein Freund von mir hat eine CD von der Bibliothek mitgebracht, wir haben sie angehört und ich war sofort verzaubert. Das war eine CD mit Klezmermusik drauf. Mit Aufnahmen von Naftule Brandwein, ein jüdischer Klarinettist der nach Amerika ausgewandert ist Anfang des 20. Jahrhunderts. Ich hab mich fast so gefühlt, als ob ich verliebt war."
Das sagt der Violinist Nicolaas Cottenie. Er hat daraufhin unzählige Klezmerstücke nach Gehör spielen gelernt, und das Ensemble Halva gegründet, dessen zweites Album "Dinner in Sofia" kürzlich erschienen ist. In den nächsten knapp 45 Minuten folgen wir in den "Lied- und Folk-Geschichten" Halva in die weite Welt des Klezmer und der traditionellen Musikstile Südosteuropas. Am Mikrofon begrüßt Sie Anke Behlert.
Musik: Halva – "Turns out it‘s a Sher"
Nicolaas Cottenie wurde 1983 im belgischen Gent geboren. Er hat eine Ausbildung als Toningenieur und ein abgeschlossenes Musikstudium, war arbeitete einige Jahre als Aufnahmeleiter beim Film beschäftigt. Vom ersten Kontakt mit Klezmer bis zu seinen eigenen Stücken hat es 15 Jahre gedauert. Denn Cottenie wollte das Thema nicht nur praktisch, sondern auch theoretisch durchdringen.
"Am Anfang war ich eher daran interessiert, was macht die Musik mit mir persönlich, was bedeutet sie für mich. Und an einem Punkt ist die Frage reingekommen: wo kommt sie her, die Musik und was ist der Kontext, wer hat sie gespielt und für wen? Und dann habe ich angefangen zu lesen, Unterricht zu nehmen und Workshops und das hat meine Fähigkeiten verbreitet. Das alles zusammen hat dann dazu geführt, dass ich selber Musik in dem Stil schreibe."
Und diese Musik spielt er nicht alleine, sondern mit seiner Band Halva.
"Wir sind bei Halva sechs Musiker. Ich hab mit jedem von denen schon in verschiedenen Projekten zusammengespielt, also ich habe mit jedem auch eine persönliche Verbindung. Aber ich habe sie natürlich vor allem gefragt, weil ich sie sehr schätze als Musiker. Ich hab dabei versucht, darauf zu achten, dass jeder eine eigene Spezialität hat, damit wir verschiedene Elemente in der Band zusammenbringen können und wir voneinander lernen können und das macht Riesenspaß."
Mit dabei sind der Akkordeonist Ira Shiran aus Israel, der Perkussionist Robbe Kiekens und die Cellistin Eline Duerinck aus Belgien, die Violinistin Alina Bauer und die Klarinettistin Anja Günther aus Deutschland.
Musik: Halva – "Dinner in Sofia"
Gesang mit Schluchzen und Trillern
Klezmer ist eine Volksmusiktradition, die aus dem aschkenasischen Judentum stammt. Die Aschkenasim kommen meist aus Mittel-, Ost- und Nordeuropa. Sie bilden vor den Mizrachim und den Sephardim die größte ethno-religiöse Gruppe im heutigen Judentum. Die Melodielinien beim Klezmer erinnern nicht zufällig an die menschliche Stimme, es ist eine bewusste Nachahmung des paraliturgischen Gesangs mit Schluchzen und Trillern.
Musik: Halva - "Tsvey Strunen Terkish"
"Klezmermusik ist kein homogenes Konzept, weil die Aschkenasim gewohnt haben in einem riesigen geographischen Gebiet. Von Deutschland bis zur östlichen Ukraine, sogar die Türkei und vom Baltischen Meer bis zum Schwarzen Meer. Das ist echt eine Riesenmenge an verschiedenen Völkern und Kulturen. Und es ist ein Genre, das über viele Jahrhunderte entstanden ist. Das heißt, je nachdem wann und wo man kuckt, Klezmermusik anders klingt. Irgendwann ist mir klar geworden, eigentlich kann ein Mensch das niemals alles erforschen, dafür ist ein Leben einfach zu kurz. Aber letztendlich ist mein Ziel nicht, eine These zu beweisen. Ich bin daran interessiert so gut wie möglich Musik zu machen. Der Forschungsaspekt ist für mich vor allem eine Inspiration."
Musik: Halva – "Freylekh"
Das war das Stück "Freylekh" von Halva und ihrem Debütalbum "The Sweetest Klezmer Orchestra" aus dem Jahr 2019. Ein Freylekh, oder wie es vollständig heißt "freylekhs shtikele", ist ein – genau – fröhliches Stück im 2/4-Takt. Freylekhs gehören zum Kern des Klezmer-Repertoires.
"Es gibt eine Kategorie an Tänzen und Stücke, die verbunden sind mit jiddischer Identität und nicht mit anderen Kulturen. Das heißt das ist Repertoire, das nicht von Rumänen, Polen, Griechen oder sonstwas gespielt oder getanzt wurde, sondern nur von Juden, von Aschkenasen. Und das ist zum Beispiel Sher, Freylekhs, Khosidl und so weiter. Und dann gibt‘s eine Kategorie von Stücke und Tänze, die eigentlich zu anderen Kulturen gehören, die aber den Juden auch gefallen haben und die sie übernommen haben in ihre eigene Tanzkultur. Und ein Beispiel dafür ist Kolomeyke."
Musik: Halva – "Kolomeyke"
Üppiger Sound
Auf "The Sweetest Klezmer Orchestra" bleiben Halva noch relativ nah am Klang traditioneller jiddischer Musik und dem eines kleinen Klezmer-Kammerorchesters. Auf ihrem neuen Album "Dinner in Sofia" sucht Nicolaas Cottenie den Ort, wo jüdische, bulgarische, rumänische, griechische und nahöstliche Musik zusammentreffen. So wächst der Sound, klingt üppiger und nach größeren Folkensembles.
"Natürlich ist das Element Klezmermusik immer noch präsent auf "Dinner in Sofia". Es ist aber auch mehr differenziert, in dem Sinne, dass ich bei einem Stück den alten europäischen Klezmer-Stil im Kopf gehabt habe, wie z.B. in "Khosidl für das neue Leben". Und bei anderen Stücken hab ich mich inspirieren lassen von amerikanischen Bigbands, die Klezmer gespielt haben, das hört man z.B. in "Breakfast in Kiev"."
Musik: Halva – "Breakfast in Kiev"
Die Halva-Musikerinnen und -Musiker haben die neuen Stücke im Sommer 2020 aufgenommen, als die Pandemie kurz Pause gemacht hat und man sich wieder treffen durfte. Cottenie schreibt die meisten Stücke zu Hause, bevor er sie der Band vorstellt.
"Meine beste Arbeitszeit ist am Morgen und wenn es ein guter Arbeitstag ist, dann kann ich einfach nach dem Frühstück mit meinem Kaffee am Klavier sitzen oder ich nehme mein Akkordeon und dann spiele ich oder singe ich und ich schaue was heraus kommt. Und das ist manchmal inspiriert von einem Stück, das ich gerade transkribiert habe oder ich denke vorher: Heute hab ich Lust auf ein Bulgar. Oder ich schaue halt einfach, was kommt und sehe dann nachher, was für eine Form es wird."
Die Form ist bei den verschiedenen Tänzen ein wichtiger Indikator – denn jeder Tanz hat eine bestimmte Choreographie, die rhythmische Struktur, Melodie und Tempo bestimmt. Beim Komponieren für Halva gibt Cottenie aber trotzdem nicht jedes Detail vor.
"Es hängt eigentlich davon ab, wie definiert das Genre ist. Wenn ich eine Kolomeike geschrieben habe, dann soll es für eine Band, die weiß, was eine Kolomeike ist, schon klar sein, was sie tun müssen, wie das klingen soll. Da reichen eine Melodie und Akkorde völlig aus. Mit freieren Kompositionen muss man dann konkretere Ideen mitnehmen zu den Proben. Ich schreibe eine Melodie auf, Akkorden, ich hab ne Basisidee für die rhythmische Begleitung und manchmal schreibe ich auch ein Arrangement. Aber ganz viel wird in den Proben erarbeitet. Ich will improvisieren und kreativ sein mit anderen Leuten zusammen."
Das Ergebnis ist energiegeladene, freudenstrahlende und lebendige Musik, die zum Tanzen einlädt, aber auch einen ernsteren, in sich gekehrten Ton anschlägt.
Musik: Halva – "Saba Syrto"
Neben traditionellen Folkmusikstilen, baut Cottenie auch westeuropäische Einflüsse aus Klassik und Jazz ein, dabei hilft ihm sein Jazzstudium.
"Wenn ich denke, das würde jetzt sehr gut passen, dann mach ich manchmal für ein paar Takte ein Arrangement, wo Bass und Melodie auf eine bestimmte Art miteinander verbunden sind, inspiriert durch klassische Musik. Oder ich denke, hier kommt mal eine Passage gut zu recht, wo jazzartige Akkorde benutzt werden. Das mache ich dann bewusst, aber nicht immer."
Wie zum Beispiel in dem Stück "Greek Lydian Hora". Eine Horah ist ein eher schleppend gespieltes Stück, oftmals im 3/8-Takt. Die Klarinette am Ende klingt fast schon Freejazz-artig improvisiert.
Musik: Halva - "Greek Lydian Hora"
Die Band spielt Nicolaas Cottenies ausdrucksstarke Kompositionen mit großer Virtuosität und Leidenschaft. Die Stücke ergänzen sich zu einem facettenreichen und packenden Album mit vielen überraschenden Wendungen. Hypnotisierende Schönheit steht neben betäubender Traurigkeit, unbeschwertem Humor und betörender Trance. Der Bandname kommt übrigens daher, dass Cottenie eine Speise gesucht hat, etwas Leckeres aus dem südöstlichen Raum, das die Menschen aus den diversen kulturellen Hintergründen über viele Jahrhunderte glücklich gemacht hat. Wie passend, denn glücklich macht die Musik von Halva auch, und das ganz ohne schädliche Nebenwirkungen.
Musik: Halva - "Budapest Bulgar"