Kritik, die Unterscheidung zwischen Gutem und Schlechtem ist in Zeiten von Facebook und Bewertungslogarithmen für Produkte und Dienstleistungen omnipräsent. Dass jeder zu jedem seine Meinung sagen darf - und kann - ist nicht nur Folge der technologischen Entwicklung, sondern auch Teil unseres demokratischen Grundverständnisses. Nur: Welche Kritik verdient es, beachtet zu werden? Wann ist Kritik produktiv? Der Philosoph Marcus Steinweg, einer der Kuratoren des Symposiums, führte den Begriff der Kritik auf die "Entscheidung" zurück. Kritisches Denken setzt Steinweg als Gegenpol zum "Evidenzterror", dem Statut einer vermeintlich alternativlosen Realitätsbetrachtung.
Marcus Steinweg:
"Was ich mit Entscheidung meine, ist eben Resistenz gegenüber den Optionen, gegenüber der Realität als optionales System, das uns reduziert zu Konsumenten einer prä-selektierten Skala gegebener Alternativen. Das ist das, was ich hysterischen Narzissmus nenne, das ist eine Haltung, die sich mit dem aktiven Nicht-Denken verbindet, statt das Risiko eines Denkens einzugehen, dessen Folgen nicht komplett absehbar sind."
Und damit war der Rahmen der zu weiten Teilen auf hohem akademischem Niveau geführten Diskussion gesteckt. Kritik als Vorstellung einer möglichen Gegenrealität, als Gedankenexperiment, wie die Welt zu einer besseren werden könnte. Wäre da nur nicht das Kantsche Problem der Kritik der Kritik, die Frage, wer eigentlich den Kritiker kritisiert. Die israelische Soziologin Eva Illouz näherte sich dieser Frage über eine ernüchternde Diagnose: In Zeiten des Kapitalismus werden Emotionen als Ware gehandelt. Ob in Talkshows, Enthüllungs-Autobiografien oder beim Psychoanalytiker sind Gefühle eingefasst von der kapitalistischen Logik. Wie aber kann emotionale Authentizität Gegenstand von Kritik sein?
Eva Illouz:
"Die Geschichte der Konsumkultur ist die Geschichte eines kontinuierlichen Angebots von Dingen, die den Körper und das Ego des Einzelnen befrieden sollen. Auch Emotionen werden in eine Ware umgewandelt, in konsumierbare Objekte. Sie verweisen auf eine Traumwelt aus vergangenen und zukünftigen emotionalen Erlebnissen. Ob eine Emotion authentisch ist, können wir heute nur kritisch untersuchen, indem wir die schrittweise Entstehung dieses individuellen Gefühls nachvollziehen – seine Historie. Denn unser emotionales Bewusstsein weiß nicht, dass es von der realen Außenwelt gesteuert wird."
Wahrhafte Kritik setzt für Illouz voraus, das Objekt der Kritik zu verstehen. Moralische Verurteilungen bedeuten für sie nur mangelndes Verständnis der Gründe eines Ist-Zustands. Was aber ändert Kritik? Die slowenische Philosophin Alenka Zupančič führte diese Frage auf die Psychoanalyse und Freuds Erkenntnis zurück, dass die Diagnose von Missständen keineswegs die Heilung der Symptome bedeutet. Ob Finanzkrise oder die Enthüllungen von weltweiten Überwachungsnetzen – die Kritik daran habe nichts geändert, sagte in Berlin Alenka Zupančič.
"Wir gewöhnen uns jedes Mal aufs Neue an skandalöse Realitäten. Gerade in Zeiten der Krise werden Dinge, die zuvor als völlig inakzeptabel erschienen, plötzlich zum Normalzustand. Ständig werden wir aufgefordert, "aufzuwachen", der "Realität" ins Auge zu blicken, mit dem Träumen aufzuhören. Eine kritische Haltung ist in diesem Sinn die Weigerung, aufzuwachen. Kritik ist der Traum von einer Welt jenseits der offiziellen Ideologie, der Traum von einer Alternative. Kritik bedeutet insofern einfach zu "denken", sich gegen die Missstände der Gegenwart aufzulehnen und im besten Fall sogar eine Formel zu entwickeln, sich gegen sie zu wehren."
Eine kritische Haltung bedeutet, abwegig zu denken, sich selbst und sein Denken infrage zu stellen, oder den Stoff der Realität zu durchschneiden, um dahinter zu blicken, wie es der Philosoph Marcus Steinweg ausdrückte. Diese Erkenntnisse hätte der Besucher des Berliner Symposiums getrost mit nach Hause nehmen und seinerseits kritisch untersuchen können. Wäre da nicht am Sonntagabend der Literaturkritiker und Autor Maxim Biller dazwischen gegangen. Für ihn sei Kritik vor allem Show und Geschmack, so Biller. Und wer außer ihm könne die in der deutschen Literaturkritik schon bieten? Biller senkte die akademische Diskussion über die nötige Selbstkritik des Kritikers in Rekordzeit auf das Niveau kruder kapitalistischer Selbstvermarktung.