Stefan Heinlein: Es gibt Meldungen, die im täglichen Nachrichtengeschäft meist untergehen, in der Regel nicht mehr als eine Randnotiz. Flüchtlingsboote aus Libyen werden aufgegriffen von der Küstenwache des Landes und zurück an Land gebracht. Damit ist die Aufmerksamkeit meist erschöpft. Doch für die Familien beginnt dann meist ein langer Leidensweg. Sie landen in Internierungslagern, eingesperrt ohne Aussicht auf Freiheit. Nur wenig ist über die Zustände in diesen Lagern bekannt. Bilder und Berichte aus den Lagern gibt es kaum. Journalisten haben selten Zutritt.
Am Telefon ist nun Christoph Hey von Ärzte ohne Grenzen. Er war bis vor wenigen Tagen als Projektkoordinator der Hilfsorganisation in einem der größten Internierungslager für Flüchtlinge in der Stadt Sintan im Westen Libyens. Guten Morgen, Herr Hey!
Christoph Hey: Guten Morgen, Herr Heinlein!
Keine Vitamine, keine Mineralien, keine Proteine
Heinlein: Sie haben vier Monate in diesem Internierungslager mit einem sechsköpfigen Team gearbeitet, dort medizinische Hilfe geleistet. Wie ist die Situation in diesen Lagern?
Hey: Die Situation ist entsetzlich. Man muss von unmenschlichen Bedingungen dort sprechen. Es ist eine sehr, sehr schlechte Ernährungssituation. Die Menschen bekommen dort seit über vielen, vielen Monaten keine Vitamine, keine Mineralien, keine Proteine. Es gibt eine sehr schlechte Hygienesituation. Die Menschen dort bekommen keine Seife seit vielen Monaten. Es gibt eine sehr, sehr schlechte Gesundheitsversorgung dort, bevor wir die Arbeit aufgenommen haben. Als Folge der Zustände dort sind zwischen September und Mai diesen Jahres 22 Menschen gestorben, vermutlich allesamt an Tuberkulose.
Heinlein: Wie verbringen die Menschen in den Lagern ihre Tage? Es sind ja viele Kinder auch unter diesen Flüchtlingen, die dort oft jahrelang interniert sind.
Hey: Das ist vollkommen richtig. In diesem Lager selber gibt es 130 Minderjährige von den 600 Migranten, die dort interniert sind, die oft auch lange Fluchtwege hinter sich haben. Sie kommen auch aus Bürgerkriegsländern, aus Somalia, aus Eritrea, sind dort auch zum Tragen von Waffen gezwungen worden, sind auf ihrem Fluchtweg Opfer von Gewalt geworden, sind Opfer von Vergewaltigungen geworden, sind zu Arbeit gezwungen worden, haben dann auch schon versucht, das Mittelmeer zu überqueren, haben dort Familienangehörige verloren und sind dann von der libyschen Küstenwache wieder zurück in diese Lager gelangt. Die Zustände dort an einem Beispiel gesagt: Es gibt dort einen Raum, wo auf 70 Quadratmetern 45 Leute regelrecht zusammengepfercht sind. Es gibt dort kein Tageslicht, keine frische Luft, die Leute kommen sieben Tage die Woche nicht nach draußen.
Fehlende Rechtsgrundlage
Heinlein: Warum werden diese Flüchtlinge aus Afrika, wie Sie sagen, in diesen Ländern festgehalten? Mit welchem Recht? Warum können sie nicht einfach gehen?
Hey: Das ist eine Situation, die wir bezeichnen als beliebige Internierung. Es gibt dort keine Rechtsgrundlage. Es gibt keine Rechtsverfahren. Die Menschen dort werden aufgegriffen von Behörden und dann direkt in die Internierungslager gebracht. Aufgrund einer fehlenden Rechtsgrundlage kann man im Prinzip deshalb auch nicht von systematischen Bedingungen sprechen, sondern all das geschieht auf eine sehr beliebige Art und Weise.
Heinlein: Welche Perspektiven haben vor diesem Hintergrund die Flüchtlinge in den Lagern? Worauf hoffen sie?
Hey: Zunächst ist es natürlich auch so, dass in diesen Lagern eine ganz, ganz große Hoffnungslosigkeit herrscht. Die Menschen haben, wie schon gesagt, lange Jahre Flucht hinter sich und haben leider heute auch keine Aussicht, diese Situation zu verlassen. Es gibt ein System, das auch von dem UN-Flüchtlingshilfswerk besteht, dass Leute in sichere Länder transportiert werden. Nur leider ist dieses System blockiert. Auch die Bundesregierung, muss man sagen, hat zu Beginn des Jahres ja 300 Plätze zugesagt, um Flüchtlinge dort direkt aufzunehmen. Nur bis heute sind diese Plätze nicht abgerufen worden. Das heißt, die Leute, die dort in den Lagern interniert sind, sitzen dort in aller Regel fest.
Heinlein: Ist die Situation in Sintan, wo Sie gearbeitet haben, vergleichbar mit der Situation in anderen libyschen Internierungslagern? Können Sie das beurteilen?
Hey: Dazu muss man verstehen, dass es in Libyen heute zwei Arten von Internierungslagern gibt. Es gibt die offiziellen Lager, die dort direkt von der Einheitsregierung betrieben werden, und es gibt die illegalen Lager, die von Milizen betrieben werden. Man muss dazu sagen, dass in Libyen heute ein Bürgerkrieg herrscht oder bürgerkriegsähnliche Zustände. Es sind dort zwei Konfliktparteien, die sich gegenseitig bekämpfen. Dies hat auch immer wieder zu Bombardierungen geführt in der Hauptstadt Tripolis. Vor wenigen Wochen ist sogar ein Internierungslager bombardiert worden, bei dem 60 Menschen ums Leben gekommen sind. Diese Zustände lassen es nicht zu, dass man von Libyen als einem sicheren Ort spricht und schon gar nicht von sicheren Häfen.
Zugang für Hilfsorganisationen schwierig
Heinlein: Werden denn die Lager, diese unterschiedlichen Lager insgesamt vom UN-Flüchtlingshilfswerk international überwacht, oder haben dort allein die libyschen Milizen beziehungsweise die Armee das Sagen, sind zuständig für die Versorgung und die Betreuung der Menschen?
Hey: Das variiert natürlich. Das variiert, wenn es zu den offiziellen Lagern kommt, die direkt von der Regierung betrieben werden, und von illegalen Lagern. Aus meiner Erfahrung kann ich sagen, dass der Zugang für Hilfsorganisationen für die illegalen Lager noch viel schwieriger ist als in den offiziellen. Im Gesamten kann man sagen, dass die Situation eine sehr, sehr sensible ist in Libyen und dass auch die Behörden dort sehr sensibel mit dem Thema umgehen und dass oft auch Zugänge zu diesen Lagern sehr, sehr eingeschränkt möglich sind.
Heinlein: Sie waren, Herr Hey, schon oft für Ärzte ohne Grenzen unterwegs, unter anderem, so habe ich gelesen, in Südsudan, im Jemen oder in Afghanistan. Ist die Situation, die Sie jetzt erlebt haben bis vor wenigen Tagen, in den Lagern in Libyen besonders belastend, besonders schlimm?
Hey: In der Tat ist das so. Ich habe die Ereignisse dort und die Bilder als sehr, sehr schockierend empfunden, ja. Man muss dazu sagen, dass diese extreme Hilflosigkeit, die diese Menschen dort aushalten müssen, eigentlich den Zuständen dort direkt geschuldet ist. Wenn Sie in so ein Lager kommen und die Zustände sind wie beschrieben: Es sind dort 22 Menschen zu Tode gekommen, die Atmosphäre, die in diesen Lagern herrscht, gibt genau auch das wieder, und diese extreme Hilflosigkeit und die sehr, sehr schlimmen und unmenschlichen Zustände belasten einen natürlich und bleiben als Bilder natürlich immer hängen.
Medizinische Teams leisten hervorragende Arbeit
Heinlein: Sie sind jetzt rund zwei Wochen zurück aus Libyen. Wie haben Sie persönlich diese Eindrücke verarbeitet?
Hey: Zunächst ist es natürlich auch wichtig, hier zu verstehen, dass die Motivation, immer wieder auch in diesen Situationen zu arbeiten, ist, dass man vor Ort die Dinge beeinflussen kann. Die medizinischen Teams, die vor Ort arbeiten, leisten eine ganz hervorragende Arbeit. Wir haben dort das Gesundheitssystem stabilisieren können in diesem Lager. Wir haben es geschafft, durch die Zugabe von Ernährung, von Hygieneartikeln, dass sich die Gesundheitsversorgung im Allgemeinen verbessert hat. Und das ist natürlich auch immer wieder Motivation, dort zu arbeiten, und wenn wir dann wieder hier herkommen, ist natürlich auch wichtig, über die Ereignisse zu berichten und den Leuten auch hier und der breiten Öffentlichkeit klarzumachen, wie die Situation in Libyen ist.
Heinlein: Verstehen Sie Menschen, die bei uns sagen, es ist eigentlich gut, dass die Flüchtlingsboote von der libyschen Küstenwache abgefangen werden, sonst kommen noch mehr Menschen zu uns nach Europa?
Hey: Das lässt sich natürlich sehr, sehr schwer verstehen. Klar ist auch eins, dass natürlich die Bilder hier in Deutschland nicht präsent sind, dass der Fokus auf Libyen nicht liegt, und aus diesem Grunde ist es natürlich wichtig, immer auch wieder darüber zu berichten. Es ist wichtig, dass wir die Not der Menschen im Auge behalten und dass wir auch Initiative zeigen. Beispielsweise kann ich sehr begrüßen, dass letzte Woche die Evangelische Kirche dort verkündet hat, sich an der zivilen Seenotrettung auch zu beteiligen. Das sind Dinge, die ich sehr begrüße. Dennoch muss die Bundesregierung natürlich auch ihr Engagement verstärken. Die Bundesregierung muss dafür sorgen, dass das Leid in den Internierungslagern aufhört, und muss auch dafür sorgen, dass die Menschen aus diesen Lagern evakuiert werden, und natürlich sich auch in der EU dafür starkmachen, dass es sichere Häfen gibt, wo diese Leute an Land gehen können.
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