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Interreligiöser Dialog in Frankreich
Blut spenden, statt Blut vergießen

Vorurteile, ja Hetze gegen Angehörige anderer Religionen, das ist in Frankreich ein kardinales Thema nicht erst seit den Terroranschlägen des vergangenen Jahres. Seither besonders gefragt ist ein multireligiöser Verein, der sich die "aktive Koexistenz" auf die Fahnen geschrieben hat.

Von Bettina Kaps | 06.01.2016
    "Coexister"-Mitglieder unterwegs: Sabah Zouaghi, Ismael Medjoub, Samuel Grzybowski und Josselin Rieth (v.l.)
    "Coexister"-Mitglieder unterwegs: Sabah Zouaghi, Ismael Medjoub, Samuel Grzybowski und Josselin Rieth (v.l.) (AFP / JEAN FRANCOIS MONIER)
    Es begann mit einer Stadtteilaktion vor sieben Jahren. Damals gab es in Frankreich heftige Auseinandersetzungen zwischen Pro-Palästinensern und Pro-Israelis. Es war eine Folge der israelischen Militäroffensive in Gaza. Die Angst war groß, dass der Nahost-Konflikt auf Frankreich übergreifen und die Spannungen zwischen Juden und Muslimen im Land vertiefen könnte. In Paris wurde deshalb ein interreligiöses Friedensgebet organisiert, sagt Radia Bakkouch, Vorsitzende des Vereins "Coexister".
    "Danach lancierte ein Jugendlicher namens Samuel Grzybowski einen Appell. Er sagte: Lasst uns verhindern, dass Blut für den Krieg fließt. Wir wollen unser Blut für Frieden spenden und zeigen, dass die Religionen ein Symbol für Einheit sind und nicht für Spaltung."
    Zehn junge Leute - Christen, Muslime, Juden - schlossen sich dem damals erst 16-jährigen Gymnasiasten an. Aus der "interreligiösen" Blutspende entwickelte sich wenige Monate später der Verein Coexister. Samuel Grzybowski, selbst Katholik, wurde zum ersten Vorsitzenden gewählt. Die Muslimin Radia Bakkouch hat ihn vor zwei Monaten abgelöst. Die 23-Jährige mit den schwarzen Korkenzieher-Locken studiert an der Pariser Elitehochschule Science Po. Sie erklärt, was der Verein unter "aktiver Koexistenz" versteht.
    "Wir sagen gerne: Wir sind nicht tolerant. Toleranz ist uns zu wenig, denn Toleranz heißt nur: Ich akzeptiere den Anderen da, wo er ist. Wir gehen aber auf den jeweils Anderen zu, schaffen Bindungen zu Menschen, die eine andere Religion praktizieren oder Atheisten sind. Die 'aktive Koexistenz' ermöglicht es uns, gemeinsam zu handeln. Auf diese Weise gründen wir eine Gemeinschaft."
    "Aktive Koexistenz"
    Ein Konzept, dass viele junge Franzosen anspricht: Heute zählt der Verein Coexister bereits 2.000 Mitglieder, die sich auf 28 Ortsgruppen in ganz Frankreich verteilen. Höchstalter: 35 Jahre. Nach den Terroranschlägen von Paris habe Coexister ganz besonders großes Interesse in den sozialen Netzwerken verzeichnet, sagt Bakkouch.
    Nicolas Villiers aus der westfranzösischen Stadt Le Mans ist seit dem vergangenen Sommer dabei. Der arbeitssuchende Buchhalter baut gerade eine neue Ortsgruppe auf. Zehn Mitglieder seien schon aktiv, aber zu ihren Treffen kämen stets doppelt so viele junge Leute, sagt der End-Zwanziger:
    "Wir organisieren Kino-Debatten, Blutspenden, gemeinsame Besichtigungen von religiösen Stätten. In meiner Nachbarschaft gibt es eine Moschee, eine protestantische und zwei katholische Kirchen. Wir wollen jetzt auf die Menschen dort zugehen, sie fotografieren, und alle Portraits zusammen ausstellen, um zu zeigen: Wir gehören zusammen, so vielfältig sieht unser Stadtviertel aus. "
    Besuche in Gefängnissen und Schulen
    Besonders engagierte Mitglieder von Coexister treten auch in Schulen, manchmal sogar in Gefängnissen auf. Vorher müssen sie aber eine Ausbildung absolvieren.
    70 junge Leute sind an diesem Wochenende zu einer solchen Fortbildung nach Paris gekommen.
    Marie Houdelette, eine Optikerin aus Lille, ist im Verein Coexister für die Ausbildung verantwortlich. Die Referenten sollten in den Schulen bloß keine Vorträge halten, sagt sie.
    "Unser Ziel ist es, den Schülern durch unser Vorbild zu beweisen, dass friedliches Zusammenleben und aktive Koexistenz keine Utopien sind, sondern Lebensmodelle, die wir täglich verwirklichen."
    Die Mitglieder von Coexister treten in den Schulen grundsätzlich zu mehreren auf, wenigstens zwei verschiedene Glaubensrichtungen sind immer vertreten. Die Religionswissenschaftlerin Anais Leleux erzählt, wie sie vorgehen:
    "Wenn wir in die Klasse kommen, fragen wir die Schüler, als was sie sich selbst definieren: Christen, Muslime, Juden, Atheisten, Buddhisten. Dann notieren sie, natürlich anonym, was ihnen spontan zu anderen Religionen einfällt. Da kommt dann regelmäßig: Muslime sind Terroristen, Katholiken pädophil, Juden geizig. Wir versuchen, diese Stereotype zu widerlegen. Wir glauben, dass die Jugendlichen unseren Argumenten auch deshalb zugänglich sind, weil wir selbst noch jung sind. Wir spielen absichtlich mit Tabus."
    Immer mehr Schulleiter und Lehrer laden die Mitglieder von Coexister in ihre Schulen ein, fast 40.000 Jugendliche haben schon an den Workshops teilgenommen.
    Unmittelbare Reaktion nach dem 13. November
    Seit den Terroranschlägen kämpft Coexister mehr denn je gegen die drohende Spaltung der französischen Gesellschaft. Die Anschläge vom Januar hatten eine Lawine von Hassbotschaften im Internet ausgelöst, die islamfeindlichen Angriffe nahmen sprunghaft zu. Nach den Attentaten vom 13. November sei der Verein Coexister - leider - besser vorbereitet gewesen und habe sofort reagiert, sagt Radia Bakkouch.
    "Unzählige Leute haben uns über die sozialen Netzwerke kontaktiert. Sie wollten handeln, wussten aber nicht, wie. Wir haben beispielsweise die Aktion 'Voisins unis' vorgeschlagen, 'vereinte Nachbarn'. Geht auf eure Nachbarn zu, fragt sie, wie sie die Attentate erlebt haben, schafft Verbindungen. Oft wissen wir, der Nachbar ist Christ, Jude, Muslim oder Atheist, hat also andere Überzeugungen als wir selbst, aber wir haben nie mit ihm diskutiert, weil es Barrieren gibt."
    Es sei ganz wichtig, den Terroristen nicht in die Falle zu gehen, sagt Radia Bakkouch. Die neue Vorsitzende von Coexister ist entschlossen, die Zahl der Ortsgruppen von heute 28 auf mindestens Einhundert zu vermehren.