Ann-Kathrin Büüsker: Das spanische Staatsgericht in Madrid hat den abgesetzten katalanischen Regionalpräsidenten Puigdemont für heute zur Vernehmung vorgeladen. Er wird allerdings nicht kommen. Puigdemont bleibt vorerst in Brüssel. Er ist angeklagt wegen Rebellion und Auflehnung gegen die Staatsgewalt.
Puigdemont in Brüssel – man könnte es vielleicht auch als den letzten Versuch deuten, die EU zu mobilisieren, in dem Konflikt zu vermitteln. Die hält sich allerdings weiterhin raus. – Am Telefon ist Ulrike Guérot, Politikwissenschaftlerin, Professorin für Europapolitik und Gründerin des European Democracy Lab und eine Verfechterin der Idee des Europas der Regionen. Wir erreichen sie heute Morgen in Warschau. Guten Morgen!
Ulrike Guérot: Guten Morgen.
Büüsker: Frau Guérot, die EU, die hält sich mit Blick auf Katalonien weiterhin raus. Ist doch nur konsequent, oder?
Guérot: Ja, ist natürlich konsequent, weil sie in dem Rechtsrahmen, in dem sie fast gefangen ist, natürlich die Nationalstaaten als Ansprechpartner hat. Insofern muss sie immer darauf rekurrieren, dass alles andere eine Einmischung in innere Angelegenheiten wäre. Jetzt kann man aber sagen, dass sich die EU natürlich auch in anderen Staaten in innere Angelegenheiten einmischt, zum Beispiel in Polen, wenn es um die Justizreform geht, oder auch in Ungarn bei den Medienrechten. Man könnte natürlich auch mal schauen, ob die EU nicht doch anders könnte und sich ein bisschen wegbewegen könnte, sprich die katalonische Frage auch ein bisschen zu ihrer Frage machen würde.
Büüsker: Wie erklären Sie sich, dass Brüssel sich dessen nicht annimmt?
Guérot: Na ja. Man möchte natürlich ganz offensichtlich einen Dominoeffekt vermeiden. Wir haben ja auch Katalonien nicht als erstes Land. Erinnern wir uns daran, dass vor zwei Jahren die Schotten abgestimmt haben. Da wurden die, um es mal ein bisschen lakonisch zu sagen, vor dem Referendum geschmiert und haben noch ein bisschen mehr Geld und Autonomie bekommen; dann ist das Referendum negativ entschieden worden. Aber dass wir inzwischen in der gesamten Europäischen Union einfach Begehren haben von anderen Strukturen oder auch von mehr Autonomiestrukturen, das ist schon klar und da will natürlich die EU jetzt keinen Vorschuss bieten.
"Die Frage ist, ob dieser Rechtsrahmen nicht aus den Nähten platzt"
Büüsker: Aber wenn die Verfassung von Spanien ein Unabhängigkeitsreferendum nun mal nicht vorsieht, dann bewegt sich ja eigentlich alles im gültigen Rechtsrahmen?
Guérot: Ja. Die Frage ist, ob dieser Rechtsrahmen nicht aus den Nähten platzt. Denn das, was wir sehen – das haben Sie auch in Ihrer Anmoderation deutlich gemacht -, jetzt Puigdemont, der in Brüssel ist, und dass vielleicht eine Staatsanwaltschaft gegen ihn ermitteln muss, das sind ja im Prinzip Fragen, die alle darauf verweisen, wer ist denn eigentlich der Souverän in Europa. Wer kann hier gegen wen prozessieren? Wer entscheidet? Entscheidet in letzter Verbindlichkeit Spanien oder die EU, oder gibt es doch ein plausibles Recht auch für Katalonien? – Diese Fragen sind in der EU nicht geklärt, sozusagen con grano salis nicht geklärt.
Ich glaube, dass das ein wirkliches Zeichen ist, dass in der EU der bestehende Rechtsrahmen aus allen Nähten platzt. Das sehen wir ja im Grunde auch an solchen Sachen, ganz andere Baustelle, aber auch Brexit, wo wir permanent neu verhandeln, wer ist der Souverän, sind das eigentlich die Bürger, dürfen das Regionen sein, sind es nur Nationalstaaten, oder ist es die EU. Diese Fragen mal zu klären und alle auf den Tisch zu legen, um zu sagen, wir haben doch offensichtlich ein institutionelles Korsett in der Europäischen Union, das hinten und vorne nicht mehr funktioniert, da wäre, glaube ich, die Stunde der EU auch geschlagen, da mal ein bisschen drüber nachzudenken.
Büüsker: Das würde dann bedeuten, die Regionen bekommen mehr Entscheidungsbefugnisse?
Guérot: Das ist keine neue Idee. Darüber wird übrigens auch in wissenschaftlichen Kreisen im Moment ganz neu und stark nachgedacht. Wenn Sie zum Beispiel diese Autonomiebegehren von Regionen zusammendenken mit anderen Fragen, die jetzt in Europa auf dem Tisch liegen, sagen wir mal Macron, Euroverfassung und so weiter, oder das Problem des deutschen Exportüberschusses, dann kommen Sie im Grunde dazu hin, dass die nationalstaatliche Struktur, auch zum Beispiel die ganzen Finanzen innerhalb der EU abzuwickeln, dass das nicht mehr zielführend ist.
Insofern in der Tat gibt es gerade ganz viel Nachdenken darüber, ob man ein Europa der Regionen, gemeint, dass dann 40, 50, 60 Regionen, sagen wir mal, die konstitutiven Träger eines europäischen Projektes wären, solche Ideen haben gerade Aufwind.
Büüsker: Aber warum glauben Sie, dass das europäischer wäre?
Guérot: Es würde zwei Sachen bedienen. Die meisten Leute wünschen sich ja kleine partizipative Strukturen regional in ihrer Heimat. Das identitäre Bedürfnis ist ja bei den Bürgern sehr da. Gleichzeitig wünschen sich die meisten Leute ein Europa, das schützt, also ein europäisches Dach in der Welt. Wenn man dem jetzt nachgeben würde, würde man im Grunde zwei Bedürfnisse der meisten Menschen bedienen. Gucken Sie sich zum Beispiel mal Webseiten an von europäischen Parlamentariern.
Da steht zum Beispiel drin: "Für ein starkes Bayern in Europa". Und das ist ja das, was die meisten Menschen wollen: die starke Region, aber ein europäisches Dach für das große Ganze. Wenn sie dann dazu denken, dass wir mit Blick auf diese ganzen Dinge wie Finanzverfassung und so weiter natürlich das Problem haben, dass wir im Grunde drei oder meinetwegen vier große Staaten in der EU haben, sagen wir mal Deutschland, Italien, Frankreich und Spanien – die Briten treten ja jetzt aus -, dann ist das vom institutionellen System her schon so, dass da drei oder vier große "Elefanten" die kleineren Länder plattmachen im Europäischen Rat. Insofern hätte natürlich eine regionale Struktur den Vorteil des sogenannten "Leveling Playing Field". Wir hätten einfach eine andere Energie, wenn da 50 mehr oder weniger gleich große Spieler in einem europäischen System sind.
"Das souveräne Subjekt sind eigentlich immer nur die europäischen Bürger"
Büüsker: Aber basiert so ein Regionalismus nicht auch ganz stark auf der Abgrenzung zu anderen? Wie kann das dann mehr Miteinander fördern?
Guérot: Auf der Abgrenzung zu anderen nach außen oder nach innen?
Büüsker: Na ja. Eine Region muss sich, um sich als Region zu definieren, ja von anderen abgrenzen. Wenn wir jetzt das Beispiel Bayern aufgreifen, da sehen wir einen Andreas Scheuer, der immer eine bayerische Leitkultur beziehungsweise eine deutsche Leitkultur benennt, die aber letztlich eine bayerische ist. Das ist ja doch dann irgendwie ein Produkt der Abgrenzung, oder?
Guérot: Ja. Ich glaube, das was wir verstehen müssen ist - und dafür spricht nicht nur Katalonien; da haben wir das Gespräch ja angefangen; auch Brexit und so weiter, diese ganzen Fragen -, dass im Prinzip der Souverän eines europäischen Projektes immer nur die europäischen Bürger sein können. Da ist eigentlich nur die Frage, und das bricht jetzt an dieser regionalen Frage auf, was sind diese Verwaltungseinheiten, nennen wir sie mal Regionen, in denen sich der europäische Souverän organisiert? Müssen das die Nationalstaaten sein? Und was ist überhaupt eine Nation?
Ich erinnere mal daran, dass das Saarland 1955 entschieden hat, zu Deutschland zu gehören und nicht zu Frankreich, aber auch nicht entschieden hat, unabhängig zu werden. Wäre es das so geworden, dann wäre das Saarland heute ein zweites Luxemburg, also ein Nationalstaat. – Das zeigt mal so ein bisschen, wie zufällig eigentlich nationale Einheiten sind.
Insofern noch mal: Das souveräne Subjekt sind eigentlich immer nur die europäischen Bürger, und es geht zentral darum, ob es plausiblere Verwaltungseinheiten für ein europäisches Projekt gibt.
Jetzt sagen Sie Abgrenzung. Das Problem, was wir mit Europa wollen, ist doch immer normative Einheit bei kultureller Vielfalt. Soll heißen, jeder kann kulturell ein bisschen eigenartig sein, die Bayern, ich komme aus dem Rheinland, dann gibt es da noch die Hamburger und so weiter. Wir sind ja auch in der Bundesrepublik nicht kulturell einheitlich. Wir haben im Schwarzwald diese Hüte und in Sachsen haben wir sie nicht und so weiter. Wir sind aber normativ gleich vor dem Recht, und das müsste man mit Europa auch machen. Dann ist es eigentlich relativ egal, wenn in Bayern immer noch so ein paar kulturelle Sondersachen da gewünscht werden. Das können die ja auch alles wollen und machen, solange wir normative Einheit haben. Das wäre das Wichtige.
"Insofern ist das alles völlig legal, was wir da machen"
Büüsker: Wenn Sie jetzt aber vorschlagen, dass es sich ins Regionale verlagert, dann bekommen wir letztlich mehr partizipierende Akteure in der Europäischen Union. Wie soll es da funktionieren, gemeinsame Entscheidungen zu finden?
Guérot: Ja, mehr Akteure, aber natürlich gleich große Akteure und keine Akteure mehr, wo im Moment – ich sage mal Stichwort deutsche Dominanz in der Eurozone oder in Europa – die großen Akteure eigentlich die kleinen plattmachen und die kleinen nicht gehört werden. Wenn Sie heute aus Litauen oder aus Portugal kommen, ist Ihre Stimme im Europäischen Rat de facto nicht viel wert. Insofern würde das alles dafür sprechen – Stichwort wer ist der Souverän, natürlich nicht der Europäische Rat, sondern die europäischen Bürger -, dass wir uns ein Europa hindenken, in dem wir eine konsequente Parlamentarisierung haben.
Dann hätten wir 50 Akteure; in der Tat, das ist mehr. Aber es ist, wie ich sagte, ein Leveling Playing Field, ein Spielfeld mit Gleichen, und dann müsste man Coalition Building machen und so weiter. Sie haben auch in Kanada, in den USA, in anderen, in Indien haben Sie föderierte Systeme mit etwa gleichgroßen Spielern. Das ist eine andere Struktur, als wenn Sie große Elefanten im Saal haben, und es würde dafür sprechen, dass wir das System konsequent parlamentarisieren.
Büüsker: Frau Guérot, wenn Sie auf die großen Elefanten in der Europäischen Union anspielen und das erläutern, verstehe ich Sie dann richtig, dass die EU, so wie sie jetzt aufgestellt ist, eigentlich ein bisschen undemokratisch ist?
Guérot: Undemokratisch – man könnte sagen, sie ist legal, aber nicht legitim oder nicht in jeder Hinsicht legitim. Es ist ja alles so gemacht worden, wir haben das alles verfahrensrechtlich abgestimmt und so weiter. Insofern ist das alles völlig legal, was wir da machen. Die Frage ist, ob wir eine direkte unmittelbare Legitimität für den Bürger haben, und das haben wir natürlich nicht. Wenn man jetzt klassisch demokratietheoretisch sagt, es wird regiert, aber eine Regierung kann man normalerweise abwählen, oder ein Parlament hat normalerweise Initiativrecht, dann müssen wir sehen, das haben wir auf der EU-Ebene nicht.
Das Europäische Parlament hat kein Initiativrecht, es hat im Kodizessionsverfahren Mitsprache, wir sind als Bürger nicht gleich bei Wahlen, wir sind nicht "One Person, One Vote", eine Person, eine Stimme. Der Europäische Rat entscheidet und tut das auch noch intransparent. Insofern kann man sich schon fragen, ob gewisse Ansprüche an Legitimität von Entscheidungen im europäischen System so gegeben sind, wie wir es von Nationalstaaten her kennen und im nationalstaatlichen Rahmen ja auch nie in Frage stellen würden, dass es so sein muss.
Büüsker: So die Einschätzung von Ulrike Guérot, Gründerin des European Democracy Lab. Vielen Dank für das Interview heute Morgen hier im Deutschlandfunk.
Guérot: Gerne!
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