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DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi
Keine echte Tarifautonomie ohne Streikrecht

Die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Yasmin Fahimi, fordert ein Tariftreuegesetz auf Bundesebene. Sie kündigt erheblichen Widerstand gegen Forderungen an, das Streikrecht einzuschränken.

Yasmin Fahimi im Gespräch mit Volker Finthammer |
Yasmin Fahimi, Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes, nimmt an der Jahrespressekonferenz des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) für das Jahr 2023 teil.
Die DGB-Vorsitzende Yasmin Fahimi begrüßt im Deutschlandfunk Forderungen nach einer Einführung der Vier-Tage-Woche. Allerdings sei das keine Lösung für alle Branchen. (picture alliance / dpa / Christoph Soeder)
„Es kann nicht sein, dass fast die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland inzwischen nicht mehr unter den Schutz von Tarifverträgen fällt“, sagt die Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Yasmin Fahimi, im Interview der Woche des Deutschlandfunks.
Denn das stelle gerade in Krisenzeiten und angesichts der aktuellen Preissteigerungen viele Arbeitnehmer vor erhebliche Schwierigkeiten. Und da sei es natürlich gut, einen Kanzler zu haben, der sich so klar dazu bekenne, „dass wir wieder mehr Tarifbindung brauchen“, so Fahimi.

Das Streikrecht bleibt Tabu

Forderungen von Arbeitgebern und Teilen der Union, das Streikrecht einzuschränken, weist die DGB-Vorsitzende zurück und erklärt: Wenn das ernsthaft verfolgt werden sollte, könnte das zu einem heftigen Konflikt führen, „weil es unfassbar ist, mit welcher Leichtigkeit hier in die Grundrechte von Gewerkschaften eingegriffen werden soll“.
Dabei sei die Verhältnismäßigkeit schon heute bei jedem Streik gewahrt. Für jeden Streik gebe es Notfalleinsatzpläne, sofern das nötig sei. Fahimi erkennt insofern in dieser Forderung den Versuch, die Beschäftigten mundtot zu machen, aber „Tarifautonomie ohne Streikrecht ist am Ende kollektives Betteln". Wenn es das sei, was die Mittelstandsunion und anderen wollten, müssten diese mit erheblichem Widerstand rechnen, so Fahimi.

Vier-Tage-Woche ja, aber nicht in allen Branchen

Zudem begrüßt die DGB-Vorsitzende Forderungen nach einer Einführung der Vier-Tage-Woche. Die zunehmende Verdichtung der Arbeitszeit müsse mit längeren Erholungsphasen einhergehen, erklärt Fahimi. Allerdings sei ein solches Arbeitszeitmodell keine Lösung für alle Branchen, und dessen Einführung müsse über Tarifverträge geklärt und abgesichert sein.

Das Interview im Wortlaut

Finthammer: Frau Fahimi, wir sprechen hier zwei Tage vor dem 1. Mai miteinander, und wenn ich das richtig sehe, ist es die erste Maikundgebung, bei der Sie als DGB-Vorsitzende auf der Tribüne stehen werden, denn Sie sind ja noch kein volles Jahr im Amt, weil Sie am 9. Mai des vergangenen Jahres zur Vorsitzenden des Deutschen Gewerkschaftsbundes gewählt wurden. Dürfen wir uns da jetzt auf eine Überraschung, auf eine neue Tonlage einstellen, wenn Sie am Montag in Köln auf der Tribüne stehen werden?
Fahimi: Das ist alles korrekt, was Sie gesagt haben. Aber ganz überraschend wird es nicht sein, denn ich rede nicht zum ersten Mal am 1. Mai auf einer Gewerkschaftskundgebung, weil ich ja auch schon früher Gewerkschafterin gewesen bin.
Finthammer: Aber noch keine DGB-Vorsitzende.
Fahimi: Richtig, genau. Als DGB-Vorsitzende ist es in der Tat meine erste. Ich glaube, es wird nicht so überraschend sein, weil man ja schon fast ein knappes Jahr lang auch so hören konnte, was ich sage. Und insofern wird es da jetzt keinen großen Unterschied geben. Aber wir werden, glaube ich, eine tolle Demonstration haben in Köln und auch eine richtig schöne Party machen.
Finthammer: Schauen wir noch mal kurz auf das erste Jahr. Eigentlich sollte man im Jahr 2023 diese Frage schon nicht mehr stellen müssen, aber macht es doch noch einen Unterschied, wenn Sie als erste Frau an der Spitze der ja sonst eher männlich dominierten Gewerkschaften stehen? Was begegnet Ihnen da noch an Skepsis, an Vorurteilen?

Gewerkschaften sind keine Altherrenvereine mehr

Fahimi: Ach, ich glaube nicht mehr so viel. Also so männlich geprägt sind die Gewerkschaften dann, muss man fairerweise sagen, auch nicht, wenn man einmal hinter die Kulissen schaut. In der Öffentlichkeit stehen natürlich vor allem die Vorsitzenden. Da bin ich immer noch mit Maike Finnern von der GEW immer noch die einzige Frau, das stimmt. Vielleicht rückt ja demnächst eine weitere auf. Und trotzdem haben wir aber ein hervorragendes Miteinander, ein wirklich kollegiales Miteinander und offene Gespräche.
Ich glaube, der Effekt ist, und das ist auch gut so, dass umgekehrt viele halt sehen, dass es eben nicht nur ein Altherrenverein ist, sondern dass sich hoffentlich auch viele Frauen von mir motiviert fühlen, eben auch im Rahmen von Politik, von Gewerkschaftsarbeit eine Stimme zu haben.
Finthammer: Die nächste wäre vielleicht Frau Brenner bei der IG-Metall. Also passiert da tatsächlich auch ein Wandel bei den Gewerkschaften?
Fahimi: Ja, das ist aber schon länger im Gange. Also, wenn Sie sich anschauen, wie die Vorstände zusammengesetzt sind, dann sitzen da natürlich schon ganz viele wirklich engagierte und tatkräftige Kolleginnen, und auch selbst bei uns im DGB-Vorstand ist es ja sogar so, dass wir eine, wenn man so will, Übermacht haben. Von vier Vorstandsmitgliedern im gesamten geschäftsführenden Vorstand sind drei Frauen, und Stefan Körzell ist der einzige Mann. Er hält das aber, glaube ich, ganz gut aus.

Rückenwind für Gewerkschaften

Finthammer: Gehen wir mal zurück zum 1. Mai. „Ungebrochen solidarisch“ heißt das Motto in diesem Jahr. Und Sie verweisen auf die Energiepreisbremse, die Einmalzahlung und an Beschäftigte, Rentner und Studierende den höheren Mindestlohn und das Bürgergeld, und sagen dazu, dass ohne die Gewerkschaften es das alles nicht geben würde. Frau Fahimi, ist das nicht zu hoch gegriffen? Liegt die Gunst der Stunde nicht in der Ampelkoalition, in der zumindest SPD und Grüne diesen Themen gegenüber aufgeschlossen sind?
Fahimi: Na ja, die Ampelkoalition rühmt sich ja im Moment vor allem auch durch viele interne Streitigkeiten. Da sind ja selbst nach Kabinettsbeschlüssen auf einmal die eigenen Linien wieder infrage gestellt. Insofern ist es schon wichtig und notwendig, dem immer auch von außen noch mal Impulse zu geben.
Ich glaube, die Gunst der Stunde liegt vor allem auch darin, dass natürlich in diesen Zeiten von Krisen und Rekordinflation zunehmend Menschen merken, wie wichtig Gewerkschaften sind – als politische Impulsgeber, als diejenigen, die sich politisch einmischen, aber eben auch die dafür sorgen, dass es ordentliche Tariflöhne gibt. Und insofern erleben wir Rückenwind, das stimmt.
Wir haben auch einen deutlichen Vertrauenszuwachs bekommen im letzten Jahr, anders als fast alle anderen Organisationen. Und deswegen fühlen wir uns sehr motiviert, und ich kann nur daran erinnern, die Energiepreisbremse, als wir sie im letzten Jahr das erste Mal gefordert haben, haben alle erst einmal den Kopf geschüttelt. Aber sie ist gekommen.
Finthammer: Bundeskanzler Olaf Scholz, der ja selbst bei einer Maikundgebung in Koblenz auftreten wird, bekennt sich in seiner jüngsten Videobotschaft vom Wochenende zu den Gewerkschaften und ist voll des Lobes für weitreichende und gute Tarifabschlüsse. Sehen Sie die Ampel tatsächlich an Ihrer Seite?

Eine der Hauptforderungen ist das Bundestariftreuegesetz

Fahimi: Na ja, also da geht es ja nicht einfach darum, ob man sich verschwistert oder ob man im Konflikt liegt, sondern es ist eben auch immer ein sozialer Kampf, den man führen muss, und es sind immer wieder Verhandlungen, und es sind immer wieder gute Argumente, die man vorbringen muss, um etwas durchzusetzen.
Was wir aber allerdings sehen, ist in der Tat, anders als in den vielen Jahren davor, dass man Sozialpartnerschaft nicht nur als Lippenbekenntnis eben vor sich herträgt, sondern dass es jetzt tatsächlich konkrete Planungen gibt. Zum Beispiel, und das wird eine unsere Hauptforderungen sein, dass es ein Bundestariftreuegesetz gibt.
Es kann nicht sein, dass fast die Hälfte der Beschäftigten in Deutschland inzwischen nicht mehr unter den Schutz von Tarifverträgen fällt, und das sieht man natürlich in Krisen und in Zeiten der Inflation in besonderem Maße, wie schnell man dann halt eben auch ins Bodenlose fällt, wie tief das Loch in die Geldbeutel gebrannt wird.
Und da ist es natürlich gut, einen Kanzler zu haben, der sich so klar, nicht nur allgemein, zu Gewerkschaften, äußert, sondern sich auch dazu bekennt, dass wir wieder mehr Tarifbindung brauchen. Wie die dann konkret aussieht, darüber werden wir noch ein bisschen streiten müssen, fürchte ich.
Finthammer: Aber, Frau Fahimi, was Ihr Kerngeschäft, die Tarifpolitik, angeht, sieht es ja aus der Sicht der Beschäftigten nicht ganz so rosig aus. Nun hat Ver.di für den öffentlichen Dienst 5,5 Prozent herausgeholt, aber die kommen faktisch erst im nächsten Jahr. Die 3000 Euro zusätzlich für dieses Jahr sind ja ohne Langzeitwirkung, und das Statistische Bundesamt hat jetzt schon einen Reallohnverlust der Beschäftigten von vier Prozent für das vergangene Jahr attestiert. Also hinkt die Tarifentwicklung doch wirklich der tatsächlichen Preisentwicklung hinterher.
Fahimi: Ach ja, wenn es immer alles so einfach wäre. Also ich finde es schon auch ein bisschen bemerkenswert und putzig, dass, wenn wir einerseits Forderungen aufstellen, uns vorgeworfen wird, dass sie völlig überzogen wären. Und wenn wir dann einen Abschluss machen, es dann heißt: Na ja, so dolle ist es ja jetzt auch nicht.
Also es ist schon etwas merkwürdig, wie da auch die öffentliche Diskussion doch sehr an der Oberfläche schwimmt, und Tarifpolitik ist und bleibt einfach ein bisschen komplexer. Richtig ist, dass wir diese besondere Situation, in der wir uns gerade befinden, nicht alleine mit Tarifabschlüssen auffangen können, sondern es bedarf politischer Flankierung. Deswegen haben wir uns ja so stark gemacht, dass es eine Energiepreisbremse, dass es Einmalzahlungen gibt, dass es die Inflationsausgleichprämie geben soll.

Kreative Tarifabschlüsse

Finthammer: War die wichtig, wenn ich da mal gerade intervenieren darf? Diese Inflationsausgleichprämie oder die Sonderzahlung von 3000 Euro, die aus der konzertierten Aktion kam?
Fahimi: Na ja, sie war richtig als zusätzliches Instrument für unsere Tarifarbeit. Das ist ja kein Geld, auf das die Beschäftigten Anspruch haben, sondern es muss ja trotzdem tarifpolitisch erstritten werden. Und der Vorteil ist einfach, dass der Anreiz, hier eben zu höheren Abschlüssen zu kommen, größer ist für die Arbeitgeber, wenn denn dann halt eben Brutto gleich Netto ist, also wenn darauf keine Steuern und Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden müssen. Dann können wir natürlich mehr rausholen.
Ich will aber deutlich betonen, das ist natürlich keine Dauerlösung. Aber in dieser Situation ist die Kombination von politischen flankierenden Maßnahmen, deutlichen Einmalzahlungen, die wirklich auch als Netto bei den Leuten ankommen, plus auch tabellenwirksamen Prozenten, und, das müssen Sie ja dazu sagen, auch die Vereinbarung, dass unten, in den unteren Lohngruppen, der Sockel angehoben wird – das ist eine richtige Kombination. Aber das zeigt ja umso mehr, dass wir Gewerkschaften eben tatsächlich auch komplexe und vernünftige Lösungen vorlegen können, die wirken.
Finthammer: Aber die Eisenbahner Gewerkschaft fordert jetzt zwölf Prozent, hat auch massive Streiks angekündigt. Und man wird in Zukunft auch mehr Streiks erleben, sagt ja der Tarifexperte der Hans-Böckler-Stiftung. Also, kommt da noch einiges auf uns zu?

"Die Leute wollen nicht nur beklatscht werden"

Fahimi: Wir sind in wirklich angespannten Zeiten. Und ich kann es völlig nachvollziehen, dass wir nicht nur Randgruppen unter den Beschäftigten, sondern bis tief in die Mitte der Belegschaften, wirklich die Leute, auf gut Deutsch gesagt, die Schnauze voll haben. Und insofern, ja, wächst der Druck. Weil eben in den vergangenen Jahren immer wieder gesagt worden ist, wofür alles kein Geld da ist. Und das geht so nicht mehr, dass die Leute nicht nur quasi beklatscht werden wollen dafür, dass sie das Land am Laufen halten, egal wo. Ihnen dann womöglich noch das Streikrecht abgesprochen werden soll. Das wühlt die Leute auf, und das kann ich verstehen.
Ob wir also am Ende tatsächlich jetzt nicht nur mal in diesem Jahr quasi zufällig eine gewisse Streikwelle erleben, weil die Situation verfahren ist und weil es eben jetzt so viele Tarifverhandlungen geben muss, sondern dass es wirklich ein Ausdruck davon ist, dass Menschen sich kämpferischer in die Tarifauseinandersetzung auch in Zukunft begeben, diese Frage wird davon abhängig sein, wie die Gesellschaft und wie vor allem die Arbeitgeber sich bewegen. Wenn Arbeitgeber weiter Tarifflucht antreiben, wenn sie am Verhandlungstisch uns nicht ernst nehmen, ja, dann müssen sie damit rechnen. Aber das ist nicht per se unser Plan.
Finthammer: Sie haben es bereits angesprochen. Aus den Reihen der Arbeitgeber gibt es bereits erste Stimmen, das Streikrecht einzuschränken. Auch die Vorsitzende der Mittelstandsunion, Gitta Connemann, fordert bereits eine Debatte über mögliche Änderungen am Streikrecht. Bei Streiks müssten Maß und Mitte berücksichtigt werden. Also, da deutet sich doch zwangsläufig ein neuer Konflikt an?

Das Streikrecht bleibt tabu

Fahimi: Ja, wenn sie das ernst meinen, dann wird sich da sogar ein sehr heftiger Konflikt andeuten. Weil es unfassbar ist, mit welcher Leichtfertigkeit hier in die Grundrechte von Gewerkschaften eingegriffen werden soll. Und dieses ganze Geschwätz darüber, dass wir nicht verantwortlich damit umgehen würden, ist einfach lächerlich.
Erstens ist Deutschland ein Land mit den wenigsten Streiktagen in ganz Europa. Zum Zweiten passiert das alles schon. Die Verhältnismäßigkeit ist uns heute schon auferlegt. Das ist Richterrecht, gesprochenes Recht, an das wir uns halten müssen. Es gibt heute schon, ob in Krankenhäusern oder in Kraftwerken, Notfalleinsatzpläne. Das heißt, da wird nicht einfach sozusagen alles hingeschmissen und rausgegangen, sondern natürlich stellt man sicher, dass nicht quasi der Laden zusammenbricht. Das ist alles heute schon Standard.
Und dieses Geschwätz um die Einschränkung des Streikrechts ist ein Eingriff, nicht nur in unsere verfassungsgemäßen Rechte, sondern es ist der Versuch, am Ende die Beschäftigten mundtot zu machen. Weil Tarifautonomie ohne Streikrecht am Ende kollektives Betteln ist, und offensichtlich ist das, was Mittelstandsunion und andere wollen. Das würde unseren völligen Widerstand erfahren. Ich kann nicht empfehlen, diese Diskussion weiterzuführen.
Finthammer: Frau Fahimi, wenn wir auf die jüngsten Arbeitsmarktzahlen schauen, dann steht das Land ja eigentlich recht gut da. Die Arbeitslosigkeit ist relativ gering und nur durch die Flüchtlinge aus der Ukraine zuletzt gestiegen. Auf der anderen Seite haben wir mit bald 35 Millionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigten so viele Menschen in Arbeit wie noch nie. Gibt es da überhaupt einen Grund zur Sorge?
Fahimi: Ja, natürlich, weil dieser Fachkräftemangel zu einem wirklichen Wachstumsbremser werden kann. Wenn Unternehmen unter schwierigen wirtschaftlichen und globalen Bedingungen, zum Teil halt wenn es energieintensive Industrie ist, eben auch mit nicht wettbewerbsfähigen Strompreisen zu kämpfen haben, und dann noch nicht einmal der Standortfaktor, der uns in Deutschland über viele Jahre stark gemacht hat, nämlich hier gut qualifizierte Fachkräfte auf dem Arbeitsmarkt zu haben, wenn der dann auch noch wegfällt, dann kann das wirklich zu einer Wachstumsbremse werden, und da müssen wir höllisch aufpassen.

Vier-Tage-Woche ja, aber...

Finthammer: Aber wie verträgt sich die Frage nach dem Fachkräftemangel mit der Forderung, die ja dieser Tage gleichzeitig auftaucht nach einer Vier-Tage-Woche? Das wurde für die Stahlindustrie der IG Metall in Nordrhein-Westfalen schon ins Spiel gebracht. Passt dann so was überhaupt noch in die Zeit?
Fahimi: Ja, natürlich, weil es ja im Zweifelsfall gar nicht unbedingt darum geht, das gesamte Arbeitszeitvolumen zu verringern, sondern einfach nur die Lage der Arbeitszeit so anzupassen, dass umgekehrt die Beschäftigten längere Phasen der Rekonvaleszenz haben, also Möglichkeit der Erholung. Die Arbeit ist zum Teil halt so verdichtet, dass es angemessen ist, auch aus arbeitsmedizinischen Gründen, umso längere Erholungszeiten auch zu haben. Und insofern kann das sinnvoll sein. Das kann man aber nicht generell beantworten, sondern das muss in jeder Branche und es muss vor allem über Tarifverträge geklärt und abgesichert sein.
Finthammer: Auch die Co-Vorsitzende der SPD, Saskia Esken, hat jetzt die Einführung einer Viertagewoche bei vollem Lohnausgleich gefordert, weil eben Studien belegen würden, dass man in der kürzeren Zeit produktiver sei. Also das wird für Sie definitiv zu einem Thema werden?
Fahimi: Na ja, das ist Thema in den Branchen, in den einzelnen Betrieben. Aber der Grundgedanke einer Vier-Tage-Woche, den halte ich auch schon für richtig. Es ist sicherlich nicht überall der Fall, aber es ist richtig. Die Aussage ist, dass zumindest die Produktivität nicht sinkt, sondern dass sie sogar gesteigert werden kann. Und insofern muss jetzt keiner gleich in Panik ausbrechen, sondern ich glaube, dass es Sinn macht, dass Arbeitgeber und Gewerkschaften sich zusammensetzen und einfach kluge, neue, attraktive Angebote machen, die eben auch dazu beitragen, dass erstens vielleicht Berufe, die nicht mehr ganz so attraktiv sind, wieder attraktiver werden. Ich sage mal Stichwort Handwerk.
Und zum Zweiten, dass wir natürlich auch die Belastungen einfach rauskriegen, denn viele, wenn ich jetzt beispielsweise mal an die Altenpflege oder das Krankenhauswesen denke, viele reduzieren ihre Arbeitszeit nicht, weil sie mehr Freizeit haben wollen. Die machen dann trotzdem Mehrarbeit. Sondern die sagen: Ich kriege das physisch nicht mehr hin. Die Belastungen sind so groß, wenn ich einer Vollzeittätigkeit nachgehe und dann immer noch die Personallücken zusätzlich füllen muss mit zusätzlichen Nachtschichten, dann bin ich bald selbst erwerbsunfähig. Und das geht nicht.
Finthammer: Aber auf der anderen Seite fordert der Verbandspräsident der Deutschen Maschinen- und Anlagenbauer jetzt die Rückkehr zur 40-Stunden-Woche, gerade wegen des Fachkräftemangels. In dem Bereich würden heute schon 14.000 Arbeitsplätze nicht besetzt werden können, und die 40-Stunden-Woche müsse in der Metall- und Elektroindustrie wieder die Regel werden, und die 35-Stunden-Woche die Ausnahme.
Fahimi: Ja, das ist natürlich Quatsch. Also erstens ist es wirklich extrem fantasielos. Wenn wir so Arbeitswelt in den vergangenen 100 Jahren gestaltet hätten, dann wären wir immer noch in vorindustriellen Zeiten. Das ist natürlich Unsinn. Sondern man muss sich dann halt eben schon auch dem öffnen, was ich gerade eben beschrieben habe.
Und das Zweite ist, wissen Sie, diese Gejammer der Arbeitgeber über den Fachkräftemangel, das kann einem manchmal schon ganz schön auf den Keks gehen, weil die eigenen Anstrengungen der Arbeitgeber für sie offensichtlich überhaupt gar keine Rolle spielen.
Sie wollen von uns, dass die Arbeitszeiten verlängert werden, dass wir auf Lohn verzichten, dass der Staat beliebig irgendwie im Zweifelsfall Billigarbeitskräfte, am besten über Leiharbeit, aus dem Ausland, holt. Also, andere sollen es regeln. Dabei haben es die Arbeitgeber selbst vermasselt. Sie haben in den vergangenen Jahren nicht ordentlich ausgebildet, sie bringen nicht genügend Auszubildende durch die Ausbildung, sie kümmern sich nicht ausreichend um die Weiterbildung, um die Anpassung in der Transformation. Manche tun es, ja. Jetzt will ich nicht alle über einen Kamm scheren. Aber viele tun es eben auch nicht. Und dann den eigen verschuldeten Fachkräftemangel quasi wieder zu delegieren, dass andere es lösen sollen, auf dem Rücken der Beschäftigten, das geht so nicht.

Der Mindestlohn muss steigen

Finthammer: Arbeitsminister Hubertus Heil hat dieser Tage viel Prügel einstecken müssen, weil er einem weiteren Anstieg des Mindestlohns in Aussicht gestellt hat. Die Arbeitgeber sehen darin eine erneute politische Einmischung nach der gesetzlichen Anhebung auf zwölf Euro im vergangenen Jahr. Die Mindestlohnkommission, die ja in diesem Jahr die Entwicklung und Anpassung des Mindestlohns regulär neu bewerten muss, ist ja paritätisch besetzt. Ihr Vorstandskollege Stefan Körzell gehört dazu. Mit welcher Entwicklung rechnen Sie denn beim Mindestlohn?
Fahimi: Das werden wir sehen. Da ist in der Tat jetzt die Mindestlohnkommission auch in der Verantwortung. Letzen Endes ist aber das, was Arbeitsminister Hubertus Heil gesagt hat, einfach nur eine Beschreibung gewesen dessen, was auf der Hand liegt.
Finthammer: Also, man kann hier nicht von politischer Einflussnahme reden?
Fahimi: Nein. Ich interpretiere es jedenfalls so, dass es eine richtige Analyse gewesen ist, dass zum einen natürlich die Mindestlohnkommission den Auftrag hat, eben auch entsprechende Anpassungen entlang der tariflichen Entwicklungen vorzunehmen. Und die Tarifabschlüsse sind ja in den vergangenen Monaten erheblich gewesen. Das muss sich in einem Mindestlohn widerspiegeln.
Aber es gibt auch noch ein zweites Kriterium, das relevant ist. Nach der EU-Richtlinie muss auch die Kaufkraft berücksichtigt werden. Und mit Blick noch mal auf die Rekordinflation bedeutet das natürlich auch vor allem für den Mindestlohn, dass da eine erhebliche Anpassung erfolgen muss. Ich kann Ihnen das jetzt nicht volkswirtschaftlich bis auf die letzte Zahl herleiten, wo das am Ende hinführt. Dafür haben wir auch am Ende die Mindestlohnkommission. Aber diese Analyse ist doch korrekt.
Finthammer: Also bei den zwölf Euro wird es nicht bleiben?
Fahimi: Bei den zwölf Euro kann es auf gar keinen Fall bleiben. Das ist auch im Übrigen der Auftrag der Kommission, eine Anpassung nach oben und nicht nach unten vorzunehmen. Alles andere wäre ja Quatsch.
Finthammer: Ein großes Thema für Sie und Ihre Mitglieder ist die Frage der Arbeitszeiterfassung, Frau Fahimi. Da hat das Bundesarbeitsgericht im vergangenen September geurteilt, dass in Deutschland die gesamte Arbeitszeit der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer verpflichtend aufzuzeichnen ist. Wie bewerten Sie denn vor diesem Hintergrund den jetzt bekannt gewordenen, man muss sagen:  ersten Entwurf aus dem Arbeitsministerium, der weiterhin auch die Vertrauensarbeitszeit oder betriebs- und tarifliche Modelle mit einer nur groben Dokumentation zulassen will.

1,7 Milliarden Überstunden

Fahimi: Ja, zunächst einmal muss man sagen, dass das EuGH-Urteil uns in dem bestärkt hat, was eigentlich hier sowieso Pflicht ist, die Arbeitgeber sind auch heute schon verpflichtet, eben die Arbeitszeit zu erfassen. Das hat das EuGH so gesehen nur noch mal bestärkt. Die Diskussion, die es jetzt um die Erfassung gibt, die wird uns, fürchte ich, noch eine Weile beschäftigen. Ich glaube, dass es sich nicht so schnell klärt.
Wir drängen darauf, aus dem Grunde, dass wir in Deutschland 1,7 Milliarden Überstunden haben, die zum Großteil nicht bezahlt werden. Und insofern ist es ein Versuch der Unterwanderung unserer Tarifverträge. Und das geht so nicht.
Es ist auch eine Überlastung der Beschäftigten, und deswegen gehört die Arbeitszeiterfassung in jedes Arbeitszeitmodell, egal wie. Vertrauensarbeitszeit hat auch in der Vergangenheit nicht bedeutet, arbeiten bis zum Anschlag. Vertrauensarbeitszeit war eine Verabredung zu gegenseitigem Vertrauen, dass man sich die Arbeitszeit selbst einteilt. Aber natürlich nicht unabhängig von dem, was Arbeitszeitgesetze und Tarifverträge sagen. Das ist eine Missinterpretation der Arbeitgeber und eine indirekte Ausbeutung, die ohnehin abgestellt werden muss.
Finthammer: Aber die Arbeitgeber fordern jetzt ja noch weitergehende Änderungen, beispielweise bei den Ruhezeiten von elf Stunden oder der Wochenarbeitszeit, um da mehr Flexibilität reinzubringen. Heute passiert das ja alles, Sie haben es ja erwähnt, mit freiwilligen oder unfreiwilligen Überstunden. Aber sollte man da nicht mehr neue Spielräume ermöglichen? Auch im Koalitionsvertrag wird ja explizit von Experimentierräumen gesprochen. Und auch, ich denke, unter Ihren Mitgliedern ist es ja ein großes Thema, wie man seine Arbeitszeit gestaltet. Wo sehen Sie denn da Handlungsbedarf?
Fahimi: Also ich halte es für totalen Quatsch. Wir haben extrem flexible Möglichkeiten und auch Vereinbarungen zur Arbeitszeit. Und zwar nicht nur in Tarifverträgen, sondern vor allem auch in Betriebsvereinbarungen. Das ist nämlich Aufgabe vor allem auch der Betriebs- und Personalräte, solche ganz an den Betrieb angepassten, speziellen Arbeitszeitenmodelle eben anzubieten, die allerdings sich nicht alleine nach dem Interesse der Arbeitgeber richten, sondern schon vielleicht auch die Interessen der Arbeitnehmer und ihre, sagen wir mal, Flexibilitätswünsche, berücksichtigen sollen. Und da gibt es tausende von Modellen. Das können Sie überhaupt nicht in einem Gesetz abbilden.
Sondern was klar sein muss ist, dass es, egal welches Modell es gibt, eine Arbeitszeiterfassung geben muss. Und wenn jemand mehr Flexibilität in den Modellen haben will, dann soll er mit uns reden. Dann soll er mit seinen Betriebsräten reden. Aber ich behaupte, dass die ganz überwiegende Mehrheit der Arbeitgeber, die jetzt nach mehr Flexibilität schreien, keine Betriebsräte haben. Sie wollen keine Mitbestimmung, sie wollen quasi einfach nur die völlige Beliebigkeit und Willkür, dass sie ihre Arbeitskräfte so einsetzen, wie es ihnen passt. Und das gehört nicht ins 21. Jahrhundert einer vernünftig aufgestellten Demokratie, die nicht an den Werkstoren enden darf.

Mitgliederschwund bei Gewerkschaften hält an

Finthammer: Frau Fahimi, kommen wir zum Schluss noch mal zur Zukunft der Gewerkschaften. Vor 20 Jahren hatten die acht DGB-Gewerkschaften noch knapp acht Millionen Mitglieder, also annähernd ein Drittel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten damals. Mit unter sechs Millionen vertreten sie heute weniger als ein Fünftel aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten. Seit Jahren werben sie für eine Trendumkehr, aber ganz offensichtlich gelingt das nicht wirklich. Was sind denn die Gründe dafür? Sind sie nicht breit genug aufgestellt, oder ist es, Sie haben von der Tarifflucht schon gesprochen, die Tarifflucht der Unternehmen, die den Gewerkschaften das Leben schwermacht?
Fahimi: Ja, das stimmt. Da kommen auch für uns viele Herausforderungen gleichzeitig zu. Wir haben auch den demografischen Effekt, das ist so. Wir haben vor allem viele Branchenveränderungen. Die Branchen werden kleinteiliger, Betriebe werden zerschlagen. Das macht es uns natürlich deutlich schwerer. Es gibt neue Geschäftsmodelle, die ganz kleinteilig eben als Start-up beginnen. Das ist für uns eine Herausforderung, zugegebenermaßen. Aber was hinzukommt, ist, dass es eben auch eine Kultur in den vergangenen Jahrzehnten gegeben hat, die sich von der Selbstverständlichkeit der Mitbestimmung entfernt hat.
Wissen Sie, mit der deutsch-deutschen Wiedervereinigung hat man neoliberales Versuchsfeld sich im eigenen Land im Osten geschaffen. Und da war angesagt, kein Tarifvertrag, keine Mitbestimmung. Das haben wir mühselig trotzdem in einigen, auch nennenswerten Bereichen, durchgesetzt, aber es ist unglaublich schwer. Und es hat auch zurückgeschlagen in den Westen.
Finthammer: Jetzt will der Arbeitsminister Ihnen aber damit helfen, indem er öffentliche Aufträge nur noch an tarifgebundene Unternehmen vergeben will. Brauchen Sie diese Amtshilfe?
Fahimi: Also zunächst einmal soll, wenn man davon so sprechen will, sollen wir unterstützt werden, indem wir wieder bessere Zugänge in die Betriebe bekommen. Indem es zum Beispiel ein digitales Zugangsrecht für Gewerkschaften gibt. Das wird uns nämlich oft genug verweigert. Wir kommen da gar nicht rein. Wir kommen zunehmend in den Konflikt, überhaupt mit den Beschäftigten in Kontakt treten zu können. Und da, wo Betriebsräte sich gründen, denken Sie nur an die Auseinandersetzung, die wir zum Beispiel bei den Lieferdiensten auch hatten oder bei Amazon, da müssen wir das über Jahre hinweg schwer erstreiten. Betriebsräte werden drangsaliert, sie erfahren Repressalien. Das muss abgestellt werden. Das ist kein Kavaliersdelikt, das ist eine Straftat. Das ist erst mal das, was für uns unterstützend ist.
 Das Bundestariftreuegesetz, das wir fordern und das, was der Arbeitsminister in Aussicht stellt, dass also öffentliche Vergabe nur noch an tarifgebundene Unternehmen geht, ist gesellschaftspolitisch richtig. Da geht es nicht um Gewerkschaftsmacht, sondern es geht darum, dass wir einen schweren volkswirtschaftlichen Schaden endlich von unserem Land abwenden müssen.
Denn diese Tarifflucht der Arbeitgeber, die hat dazu geführt, dass durch weniger Sozialversicherungsbeiträge, weniger Einkommenssteuer, weniger Kaufkraft, die wir in diesem Land haben, wir inzwischen jedes Jahr mindestens 100 Milliarden Euro Schaden haben. Und das können wir uns nicht mehr leisten, und es ist auch ungerecht und führt zur Spaltung dieser Gesellschaft. Und das ist der Grund dafür, warum wir eine stärkere Tarifbindung brauchen. Da geht es nicht um uns Gewerkschaften, da geht es um Gerechtigkeit für die Beschäftigten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.