Oettinger warb für das Konzept der flexiblen Solidarität innerhalb der Gemeinschaft, sagte er nach dem europäischen Gipfel in Bratislava.
Man müsse den Rechtspopulismus in Europa erkennen und dürfe ihm keine billigen Argumente bieten, sagte Oettinger im Interview der Woche des Deutschlandfunks. Aus vielen Gesprächen mit ungarischen, polnischen und slowakischen Vertretern wisse er, dass dort die Aufnahme von muslimischen Flüchtlingen in größerer Zahl überhaupt keine Akzeptanz habe.
Auch der französische Präsident François Hollande habe in dieser Frage keinen Spielraum. Wenn dem so sei, dann müsse man prüfen, wo diese Länder - ohne in der Innenpolitik unzumutbare Probleme zu bekommen - etwa durch Fachkräfte, durch Soldaten, durch soziale Dienste oder mit Geld helfen könnten. Damit werde die Solidarität für ganz Europa gewährt.
Oettinger sagte, in Brüssel müsse man sehen, wo im Augenblick die Bereitschaft zur Vertiefung Europas nicht gegeben sei und wo es gelte, vielleicht mehrere Geschwindigkeiten zu akzeptieren. Seine Vision sei aber, dass die EU nach außen mit einer Stimme spreche.
Das komplette Interview zum Nachlesen:
Annette Riedel: Herr Oettinger, zwischen "Ungenügend" und "Sehr gut" - welche Note hat der informelle 27er-Gipfel der EU-Staats- und Regierungschefs aus Ihrer Sicht verdient?
Günter Oettinger: Die Regierungschefs haben sich in zwei großen Bereichen ein klares Arbeitsprogramm auferlegt. Und die Kommission wird jetzt alles tun, um dieses Arbeitsprogramm in Entscheidungen in den nächsten sechs Monaten umzumünzen. Da geht es einmal mehr um den Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik, um eine gemeinsame Linie beim Schutz der Außengrenzen, den Aufbau von mehr Zusammenarbeit der Armeen, der Polizeien, der Geheimdienste, einer steigenden Übereinstimmung beim Thema Flüchtlinge. Und andererseits geht es um das Thema Standort Europa, Wettbewerbsfähigkeit und vor allen Dingen, wie wir digitale Technologien nutzen, um Europa attraktiv zu machen.
Riedel: Das heißt, das wäre eine "Drei plus"?
Oettinger: Zwei bis drei.
Riedel: Also die Tatsache, dass man sich überhaupt zu 27 zur EU bekennt, ist fast schon ein Ausrufungszeichen wert?
Oettinger: Ja, das glaube ich. Es hat sich gezeigt, dass bei allen Gegensätzen niemand aus der Europäischen Union raus will, niemand so fundamental auftritt, um die anderen massiv zu brüskieren, auch nicht die Visegrád-Staaten. Und jetzt wird es sich zeigen, ob wir in der zweiten Hälfte dieses Spiels weitere Tore machen und dann spätestens im März, nächsten Jahres in Rom zu beiden großen Themenblöcken verbindliche Entscheidungen für die Mitgliedstaaten und für die europäischen Gremien schaffen werden.
Riedel: Offen und ehrlich wollte man miteinander reden. Sie haben schon gesagt, Sie sehen auch Bewegung in der Flüchtlingsfrage. Darüber hat man aber doch im Grunde - als ein Thema, wo schon mal klar war, dass es da krachen würde - gar nicht besonders ausführlich gesprochen. Woher nehmen Sie die Ansicht, dass sich da was bewegt?
Oettinger: Es geht zum einen um die Frage: Wie vermindern wir Fluchtgründe der Zukunft. Und hier der weitere Ausbau unserer gemeinsamen europäischen Entwicklungshilfe und Nachbarschaftspolitik ist, glaube ich, der eine wichtige Punkt. Der zweite ist, dass es ja viele Flüchtlinge in Europa, namentlich in Deutschland gibt. Hier glaube ich nicht daran, dass die Verteilungs-Quote mit weit mehr als 100.000 Flüchtlingen in den nächsten Monaten umgesetzt wird. Deswegen geht es um die Frage einer sogenannten Flexibilität. Die muss nur glaubwürdig sein und darf die Regeln der Solidarität nicht verletzen. Das heißt, wenn ein Mitgliedsstaat partout nicht bereit ist, entlang der Quote einige Tausend Flüchtlinge aufzunehmen, dann muss er eine vergleichbare Aufgabe wahrnehmen und entweder Soldaten und Sicherheitskräfte, oder auch soziale Dienste an die Außengrenzen schicken und damit Frontex stärken. Oder er muss Geld geben.
Riedel: Das ist das Konzept der "flexiblen Solidarität", das die Visegrád-Gruppe eingebracht hat. Es passt ja auch ein bisschen zu dem, was EU-Kommissionspräsident Juncker diese Woche in Straßburg in seiner Rede zur Lage der Union gesagt hat, wo er davon sprach, dass man Solidarität nicht erzwingen kann, sondern diese freiwillig sein müsste. Auf der anderen Seite würde es natürlich auch bedeuten, wenn man darauf einginge, dass man darauf verzichtet, dass Beschlossenes, Verabredetes auch umgesetzt werden muss.
Oettinger: Gleichwertigkeit von Leistungen ist wichtig
Oettinger: Deswegen ist ist mir die Gleichwertigkeit von Leistungen wichtig. Noch mal - aus vielen Gesprächen mit ungarischen Vertretern, mit polnischen Vertretern, mit slowakischen Vertretern weiß ich, dass dort auch entlang ihrer eigenen Geschichte die Aufnahme von namentlich muslimischen Flüchtlingen in größere Zahl überhaupt keine Akzeptanz hat. Übrigens auch Frankreich, Präsident Hollande, der ansonsten sehr kooperativ ist, hat keinen Spielraum, so sagt er, weil ansonsten die Rechtspopulisten in den Umfragen weiter nach oben ziehen. Wenn dem so ist, dann muss man prüfen, wo diese Länder ohne in der Innenpolitik unzumutbare Probleme zu bekommen, durch Fachkräfte, durch Soldaten, durch soziale Dienste, durch Geld helfen und damit für alle Mitgliedsstaaten und alle Bürger in ganz Europa die Solidarität gewährt wird.
Riedel: Das heißt aber auch, dass man dem Rechtspopulismus nachgeben würde.
Oettinger: Dass man ihn erkennen muss und dass man dort, wo er billige Argumente sucht, ihm diese billigen Argumente nicht geben darf.
Riedel: Die Bundeskanzlerin hat nach dem Treffen von Bratislava einen "Geist von Bratislava" ausmachen wollen. Welches ist dieser Geist von Bratislava aus Ihrer Sicht? Ein neuer Realismus und nicht Wolkenkuckucksheime bauen wollen?
Oettinger: Die erste Gefahr scheint gebannt, dass der Brexit zu einer Blaupause für andere Länder wird. Jetzt wird man sehen, wie die Rechtspopulisten im nächsten Jahr in Frankreich, auch in Deutschland, in den Niederlanden auftreten, wie sie dann in Österreich auftreten. Aber ich glaube, die Staats- und Regierungschefs und Herr Tusk und Herr Juncker werden alles tun, um die Gemeinschaft der 27 Mitgliedsstaaten zu erhalten. Zum Zweiten, es gibt Aufgabenbereiche, da macht mehr Europa Sinn. In der Außen- und Sicherheitspolitik macht Europa viel Sinn. Bei digitalen Strategien macht Europa viel Sinn. Und andererseits müssen wir in Brüssel sehen: Wo ist im Augenblick die Bereitschaft zur Vertiefung Europas nicht gegeben, wo müssen wir Vielfalt akzeptieren, vielleicht auch mehrere Geschwindigkeiten akzeptieren. Ich glaube, es muss ein Prozess sein, der mit guten Argumenten dort Europa vertieft, wo es Europa und allen Mitgliedsstaaten hilft. Und dort den Mitgliedsstaaten Zeit gibt und Freiraum gibt, wo sie ihn brauchen.
Riedel: Dann wäre der Geist von Bratislava ein sich Konzentrieren auf das Machbare und nicht das Denkbare oder gar das Wünschbare?
Oettinger: Ja. Europa wird sich nicht im Jahre 2016/2017 völlig verändern. Es geht darum, das Erreichte zu erhalten. Ich bin gerade außerhalb von Europa, ich bin in New York. Egal, wo ich bin - die Zusammenarbeit der Europäischen Union gilt als ein wunderbares Vorbild. Kein anderer Kontinent arbeitet zwischen so vielen Religionen, Geschichte, Kulturen und schrecklichen Kriegen so gut zusammen bei allen Gegensätzen, wie die Multikultur Europas. Das zu erhalten, es auch offensiv zu vertreten, es auch in Bildern - und sei es nur auf der Donau auf einem Schiff zu zeigen -, dafür einen neuen Mitgliedsstaat und eine kleine Hauptstadt, Bratislava, als Ort zu nehmen - all dies sind, glaube ich, gute Zeichen, die der Bürger begreift.
Riedel: In der Erklärung von Bratislava heißt es, Zitat: Zwar ist die EU nicht fehlerfrei, aber sie ist das beste Instrument, über das wir verfügen. Und dann heißt es da auch noch: Wir benötigen sie. Und genannt wird dann: Frieden und Demokratie und Sicherheit und Wohlstand und in Europa frei leben, studieren, arbeiten und reisen zu können. Das ist ja auch mal etwas Neues, das so etwas betont wird. Erwarten Sie, dass alle, die dieses Papier jetzt mit verabschiedet haben, das dann auch zu Hause vertreten, sich dann noch daran erinnern, wenn sie das nächste Mal zu Hause in ihren Nationen, in ihren Hauptstädten über die EU reden?
Oettinger: Bei der Kanzlerin bin ich mir sicher, dass sie es in Berlin oder auch in Kiel oder Stuttgart genauso wie in Bratislava oder Brüssel oder Luxemburg vertreten wird.
Riedel: Ja, aber ein Herr Orbán beispielsweise oder eine Frau Szydlo aus Polen machen das möglicherweise nicht?
Oettinger: Deswegen müssen wir sehr aufpassen. Wir lesen ja die Zeitungen von Budapest, von Warschau, von Krakau. Und wir hören ja auch, was im Parlament gesagt wird. Und deswegen sollten wir dort, wo zweigleisig gefahren wird, wo man im europäischen Team europäisch ist und zu Hause populistisch, das nicht mehr hinnehmen. Ich glaube, da sind auch ganz klare mahnende Worte im Einzelfall durch europäische Vertreter gefragt.
Riedel: Mahnende Worte sind dann vielleicht ein etwas schwaches Mittel – und andere hat man ja aber nicht.
Oettinger: Das stimmt. Aber der Bürger in diesen Ländern, der hört und sieht ja auch was läuft. Wenn der sieht, dass sein Regierungschef in Bratislava Gemeinsamkeiten betont, unterschreibt und dann gegebenenfalls zu Hause das Gegenteil tut: Auf Dauer ist dieser Spagat nicht glaubwürdig und ich glaube auch nicht erfolgreich.
Riedel: Jetzt heißt es in der Erklärung von Bratislava auch: Eine Vision einer attraktiven EU soll aufgezeigt werden. Und zwar bis Mitte März, bis Rom, wenn der 60. Geburtstag der Römischen Verträge gefeiert wird und damit sozusagen die Geburtsstunde der EU. Was ist Ihre Vision einer attraktiven EU?
Oettinger: Vision von einer einheitlichen Stimme nach außen
Oettinger: Meine Vision ist, dass sie nach außen mit einer Stimme spricht in Sachen Syrien und dem Bürgerkrieg, in Sachen Ägypten, in Sachen Libyen, in Sachen Mali, Niger.
Riedel: Also eine europäische Außenministerin?
Oettinger: Eine mehr und mehr kohärente, gemeinsame Außenpolitik quasi, ja. Wenn wir 28 Stimmen haben, haben wir in allen Sitzungssälen der Welt keine Autorität. Nehmen Sie einmal das Thema Klimaschutz. Im letzten Jahr war Paris, da hatten wir ein gemeinsames Konzept und waren erfolgreich. Wir sind noch immer als Europäer gemeinsam stark genug, um die Welt von morgen mitzugestalten. 28 Mitgliedsstaaten alleine, auch Deutschland alleine, sind auf Dauer nicht wahrnehmbar.
Riedel: Es war ja in der Tat einer der Vorschläge von EU-Kommissionspräsident Juncker letzte Woche in Straßburg, dass er – wir haben bisher eine Außenbeauftragte, Federica Mogherini – eine echte Außenministerin aus ihr machen möchte. Aber ist das nicht schon fast eine erste Vision in diesem Zusammenhang, wo man sich schwer vorstellen kann, dass sich die 27 darauf wirklich einigen? Gäben doch auch Paris, auch Berlin eine ganz wichtige nationale Kompetenz, nämlich die Außenpolitik, ab und würden sie nicht nur punktuell an verschiedenen Stellen in verschiedenen Formaten bündeln?
Oettinger: Das Ganze ist ein Prozess. Da kann man nichts von heute auf morgen und 180 Grad umsteuern. Als ich vor sieben Jahren von Stuttgart nach Brüssel kam, gab es praktisch keine gemeinsame Außenpolitik. Durch den Vertrag von Lissabon haben wir jetzt die Hohe Beauftragte, haben einen Auswärtigen Dienst. Das heißt, in den letzten sieben Jahren wurde einiges erreicht. Frau Mogherini sitzt auch überall zwischen den führenden Köpfen aus Washington D.C., aus Moskau. Und ich glaube, auch die großen Mitgliedsstaaten akzeptieren von Jahr zu Jahr mehr, dass man nach außen durch Frau Mogherini und durch die Kommission mit einer Stimme auftreten.
Riedel: Und Sie sind davon überzeugt, dass man entscheidende Schritte in diese Richtung tatsächlich bis zum nächsten März gemacht haben kann, dass es dann ein gemeinsames Bild – um nicht noch mal Vision zu sagen –, ein gemeinsames Bild, was diese 27 sein sollen, von der EU geben kann?
Oettinger: Die Chance ist da. Übrigens, so sehr ich bedaure, dass die Briten sich mit knapper Mehrheit für den Ausstieg entschieden haben, ein Gutes hat es: Die Briten waren in allen Fragen der Zusammenarbeit von Geheimdiensten, von Polizeien, von Europol, von gemeinsamer Verteidigungs- und auch Außenpolitik sehr, sehr defensiv, haben alle Fortschritte nicht akzeptiert. Da ist die Bereitschaft von Paris und Berlin viel weitergehend, da werden sich die kleinen Mitgliedsstaaten anschließen. Das heißt, hier könnte der Weggang von Großbritannien sogar einen Schub geben.
Riedel: Der Brexit als Chance?
Oettinger: Briten waren immer im Bremserhaus
Oettinger: Nochmals, ich bedaure diesen Schritt – warten wir ab, wie es dann bis 2019 weitergeht. Aber bei diesen großen Fragen, bei denen Bratislava jetzt einen Auftrag erteilt hat, ist die Zusammenarbeit der 27 viel leichter als die zwischen allen 28. Das heißt, die Briten waren hier immer im Bremserhaus.
Riedel: Wer sind eigentlich die Verbündeten – wenn es darum geht, sich ein Bild von dieser EU der 27 zu zimmern – der Deutschen? Im Vorfeld von Bratislava hatten sich ja nicht nur die Visegrád-Gruppe organisiert und formiert mit ihren Vorstellungen – da haben wir schon drüber gesprochen –, sondern auch die Südeuropäer inklusive der gewichtigen Ländern Frankreich und Italien. Die wollen mehr Ausgaben für Wachstum und weniger Sparpolitik. Und das passt nicht mit den Vorstellungen Deutschlands zusammen. Wer zieht mit Deutschland an einem Strang?
Oettinger: Das hängt von den Themen und den Feldern der Politik ab. In der Außenpolitik, bei den großen Linien ist es unverändert Frankreich, vielleicht kommt Italien hinzu. Und im Bereich der europäischen Haushaltspolitik in der Eurozone sind es die Letten, die Litauer und die Esten, die Finnen und die Holländer und da sind die Mittelmehranrainer eher anderer Position. Insoweit gibt es nicht die Verbündeten für alle Fragen. Es gibt Aufgabengebiete, in denen haben wir mehr, in anderen haben wir weniger, in den einen haben wir die Einen, in den anderen die Anderen als Partner. Aber das Gewicht Deutschlands im Rat ist immer noch stark genug, um nicht übergangen zu werden.
Riedel: Ist es nicht so, dass aufgrund dieser Tatsache, aber auch, wenn man in der Verteidigungspolitik strukturiert enger zusammenarbeiten will, wo nicht alle dabei sein können oder nicht alle dabei sein wollen – das ist möglich vertraglich, dass eine Zahl X einfach beschließt, bei bestimmten Themen zusammen zu arbeiten –, läuft das nicht dann doch, stärker als bisher auch schon, auf ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten, der verschiedenen Integrationstiefen zu?
Oettinger: Das hatten wir bisher schon.
Riedel: Eben, aber noch mehr davon.
Oettinger: Man sollte nicht am Anfang auf dem Langsamsten warten
Oettinger: Das war bei der Währung so. Das war bei Schengen so, das wird es immer bei Themenfeldern geben. Aber eines sollte das Ziel sein: dass am Ende die anderen nachkommen. Das heißt, wir dürfen nicht die Geschwindigkeiten auf Dauer unterschiedlich gestalten. Es können einige vorangehen, vielleicht mit der Finanztransaktionssteuer zehn, elf Ländern – wird man sehen. Bei Schengen war es der Fall, aber die anderen kamen dann im Laufe der Jahre nach. Die Eurozone wurde mit weit weniger Ländern gestartet, die drei Balten kamen nach als Beispiel. Ich baue darauf, dass auch die Polen mal nachkommen, die Ungarn mal nachkommen. Es muss immer am Ende Kohärenz geben, aber man sollte nicht am Anfang auf den Langsamsten und Letzten warten müssen.
Riedel: Sie hören das Interview der Woche, heute mit Günter Oettinger, EU-Kommissar für Digitale Wirtschaft und Gesellschaft.
Besser kommunizieren, Herr Oettinger, will man untereinander – so ist es beschlossen – und mit den Bürgern – so heißt es auch in der Bratislava-Erklärung. Was einen Vorschlag aus Ihrem Haus angeht, muss man zumindest von einem kommunikativen GAU sprechen - Stichwort Roaming-Gebühren. Sie abzuschaffen, das war eines der Vorzeigeprojekte, mit denen man ja gerade die Bürger wieder für den Gedanken der EU und ihren praktischen Nutzen gewinnen wollte, sie es spüren lassen wollte. Es ist auch beschlossen und verkündet: keine Gebühren mehr für mobiles Telefonieren bei Aufenthalten im Ausland. Aber jetzt hat die EU-Kommission den Auftrag gehabt, noch sogenannte Fairness-Klauseln einzubauen. Die wurden vorgestellt, vor knapp zwei Wochen, und kaum vorgestellt, wieder zurückgezogen, weil es einen Aufschrei der Empörung gab: Nur 90 Tage pro Jahr, nur 30 Tage am Stück, sollte ohne Roaming-Gebühren im EU-Ausland telefoniert werden können. Haben Sie diesen Entwurf für diese Klausel nicht vorher gesehen oder nicht vorhergesehen, was für einen Sturm der Kritik es hageln würde?
Oettinger: Der Vorschlag wurde mit verschiedenen Dienststellen erarbeitet, wurde von allen gesehen. Und ein Argument war: Mit 90 Tagen decken wir die Urlaubs- und Dienstreisen von 99 Prozent aller europäischen Bürger ab.
Riedel: Aber zum Beispiel nicht die Erasmus-Studenten, die für mehrere Monate in einem europäischen Land sind.
Oettinger: Das stimmt. Deswegen sagte ich ja: 99 Prozent. Was ist denn der Hintergrund? Wir haben nicht den Telefonmarkt Europas und nicht den Telefonpreis. Die Letten bezahlen ein Siebtel der Iren. Und deswegen müssen wir Missbrauch verhindert. Sie könnten, wenn wir das falsch konzipieren, in Dublin leben, mit einem Telefonoperator in Lettland einen Vertrag schließen, aber immer von Dublin aus telefonieren – der wäre innerhalb von wenigen Tagen insolvent.
Riedel: Aber warum wäre das so ein Drama, wenn sich dann die billigsten Anbieter durchsetzen?
Oettinger: Neuer Vorschlag zum Roaming
Oettinger: Nein, die Billigsten gingen Konkurs, das ist das Problem. Weil die Billigsten dann im Großhandelsmarkt von der Telefonie Dublin-Lettland/Lettland-Dublin höhere Preise bezahlen müssten, als sie selbst vor Ort für ihre SIM-Karte verlangen können. Das heißt, wir müssen hier Rücksicht nehmen auf die ganz starken Unterschiede in den einzelnen Telefonmärkten. Deswegen werden wir jetzt einen Weg vorschlagen, der diese Kontrolle - wo ist jemand, wo ist ein Erstwohnsitz, wo hält er sich auf - vornimmt. Das macht aber mehr Kontrolle notwendig und der Vorschlag wird nächste Woche beraten werden.
Riedel: Und wie kann man so etwas kontrollieren?
Oettinger: Gute Frage – wir arbeiten daran.
Riedel: Ein Punkt des Fahrplans von Bratislava, Herr Oettinger, nachdem bestimmte konkrete Projekte jetzt umgesetzt werden sollen – Sie haben die Stichworte am Anfang schon genannte – und auch ein wichtiger Teil des Arbeitsprogramms der EU-Kommission ist die Entwicklung des Digitalen Binnenmarktes – Ihre Domäne. Sie haben passend zu Junckers Aufschlag noch am Tag der Rede letzte Wochen in Straßburg konkrete Vorschläge dazu vorgestellt, wie etwa der Telekommunikationsmarkt neu geregelt werden kann und die Gesetzgebung zum Urheberrecht aktualisiert werden kann. Jenseits der Wirtschaftsseiten ist das etwas untergegangen, wegen der Rede. War das Timing optimal? Warum haben Sie das nicht auch kommende Woche vorgestellt?
Oettinger: Wir sehen den Zeitdruck, weil in den nächsten zwei, drei Jahren eine Reihe von neuen Telekommunikationsdiensten kommen wird, die eine völlig neue Infrastruktur benötigen. Deswegen haben wir keine Zeit zu verlieren.
Riedel: Keine Woche?
Oettinger: Wir waren fertig gewesen. Der Termin war lange geplant, den halten wir ein. Mir geht es nicht um die Show, mir geht es um die Sache. Und ich wollte, dass wir noch in diesem Jahr die Beratungen im Rat und im Parlament beginnen können. Und ob ich dann eine Woche später Platz gehabt hätte auf der Tagesordnung, das war unsicher. Deswegen habe ich gesagt: Ich gehe zum frühestmöglichen Zeitpunkt hinein. Und dann konnten wir ja auch schon am gleichen Tag beweisen, dass die Rede des Präsidenten nicht nur eine Rede ist, sondern auch Fakten, Vorschläge auf den Tisch gelegt werden. Worum geht es? In der Vergangenheit waren die Telekom-Unternehmen für die Telefonie verantwortlich – Festnetz oder Mobil. Aber die ganzen neuen Dienste, wie Telemedizin oder autonomes Fahren oder Industrie 4.0 oder intelligente Stromnetze, die volatile Strommengen aus Solar stabilisieren müssen, das geht nur mir einer völlig neuen Infrastruktur, mit einer Gigabit-Infrastruktur. Dafür sind 500 Milliarden Investments notwendig. Und dafür schaffen wir jetzt den europäischen Rahmen, dass die in den nächsten Jahren auch ausgerollt werden. Im Augenblick ist Südkorea uns weit voraus, andere sind ebenfalls aktiv. Und ich will nicht, dass in drei, vier Jahren gesagt wird: Der Europäer haben zwar gute Autobahnen, ordentliche Schienengleise, eine gute Infrastruktur generell, aber im digitalen Sektor haben wir den Vorsprung der anderen nicht gesehen. Wir wollen zeitgleich oder früher als andere in die moderne digitale Infrastruktur treten.
Riedel: Und dafür ist man bereit, notfalls auch eigene Grundsätze, was Wettbewerbsvorstellungen angeht, beiseitezustellen? Denn es sieht ja so aus, dass die Telekom-Marktführer das Recht bekommen sollen, sich unter bestimmten Bedingungen, also zum Beispiel im dünn besiedelten ländlichen Raum, beim Netzausbau zusammenzuschließen und Wettbewerber aus den neuen Leitungen auszusperren. Das ist ja genau das, was man sonst an jeder Stelle versucht, zu verhindert.
Oettinger: In dünn besiedelten Gebieten Polens, Rumäniens, auch in Deutschland, laufen wir Gefahr, dass niemand investiert. Das Beste wäre, es würden drei investieren - das stimmt. Aber bevor drei überlegen und dann nicht Geld ausgeben, lieber ein oder zwei, damit eine Infrastruktur besteht. Insoweit ist es eine pragmatische Lösung, die mit allen Beteiligten besprochen wurde. Und noch mal, das Ziel muss sein, dass es keine Regionen gibt, die verlieren. Der Wert eines Grundstücks oder die Bereitschaft, im ländlichen Raum zu investieren oder als Steuerberater oder als Arzt dort eine Praxis aufzubauen, wird in Zukunft entscheidend von der digitalen Infrastruktur abhängen. Deswegen brauchen wir eine flächendeckende gute Infrastruktur, die im Verdichtungsraum zweimal, dreimal, viermal und im ländlichen Raum zumindest einmal.
Riedel: Heftig Kritik hat es auch gehagelt an den Vorschlägen, was die Reform des Urheberrechts angeht. Das sieht – um es mal ganz vereinfacht zu sagen – vor, dass Onlineplattformen, also Google, Google News, Twitter und Co, künftig an Presseverlage zahlen sollen, wenn sie Teile von Presseartikeln veröffentlichen. Und die Hauptkritik dabei ist, dass die Großen – also die genannten – ohnehin die Macht haben werden, ihre Lizenzen, die sie dafür erwerben müssen, gratis zu kriegen, einfach, wenn sie damit wedeln, mit der Möglichkeit verweisen, ansonsten eben bestimmte Presseverlage, bestimmte Presseinhalte gar nicht mehr auf ihren Seiten zu haben. Und die Verlage sind natürlich darauf angewiesen, dass sie in irgendeiner Form auch zu ihren Nutzern kommen.
Oettinger: Ansatz ist faire Vergütung für Kreative
Oettinger: Also mit Verlaub, da gab es auch viel Beifall dafür. Worum geht es im Kern? Übrigens, wenn Sie sagen, die Kritik ist sehr einseitig: Die Verleger haben gesagt: Richtig. Fragen Sie die Kreativwirtschaft. Im Augenblick sind Komponisten, Musiker, Sänger, Journalisten, Buchautoren, Wissenschaftler auf der Verliererseite, weil sie für ihre wertvolle Arbeit im Kreativsektor immer wenige Geld bekommen. Und ich will, dass in Europa Künstler, Wissenschaftler, Kreativschaffende überleben und auch eine gute berufliche Perspektive behalten. Ich war mit vielen Kreativen in Kontakt, die mich dringend gebeten haben, jetzt etwas zu tun, das von dem, was an Milliarden die Onlineplattformen verdienen, indem sie den Download ermöglichen und auf Ihrem Display Werbung aufscheint, indem davon ein direkter Teil an die Kreativen übergeht – der Ansatz dabei: eine faire Vergütung. Wenn Sie hier am Mikrofon nicht mich hätten, sondern Sänger und Komponisten, die würden sagen: endlich, endlich, endlich!
Riedel: Die Idee ist ja auch nicht schlecht, aber man hat ja gesehen, dass es beispielsweise in Deutschland ...
Oettinger: Vielen Dank dafür. Vielen Dank.
Riedel: ... oder in Spanien, wo es ja schon ein Leistungsschutzgesetzt gibt, dass es eben nicht wirklich funktioniert. Weil dann die kleineren Anbieter gezwungen sind, diese Lizenzen zu bezahlen, denen das dann, wenn sie Start-ups sind, eher schadet und die Großen, die haben diese Gratislizenzen.
Oettinger: Aber genau hier macht Europa den Unterschied. Kein Mitgliedsstaat, kein Land, kein Markt alleine hat die Stärke, um die Onlineplattformen dieser Welt zu fairen Vergütungen zu bringen. Aber die 510 Millionen Menschen Europas – mit der Schweiz, mit Norwegen und dem Westbalkan assoziiert – sind stark genug, Regeln im Markt durchzusetzen, sofern es Regeln gibt. Und die schaffen wir jetzt.
Riedel: Die EU-Kommission – das sieht man bei diesem Punkt auch wieder ganz gut – ist eigentlich von den Institutionen der EU in der komfortabelsten Situation: Sie stellen Dinge vor – gut, das wird dann auch oft kritisiert –, aber Sie müssen nicht dafür sorgen, dass Sie dann politische Mehrheiten finden und umgesetzt werden. Denn Sie brauchen auch für diese Vorschläge – und die werden Sie wahrscheinlich so nicht bekommen – die Zustimmung des Europäischen Parlaments, ganz abgesehen von den EU-Mitgliedsländern.
Oettinger: Ja, aber das ist doch in Deutschland genau gleich. Kein Gesetz ohne Bundestag und Bundesrat. Das heißt, die Bundesregierung macht einen Vorschlag und dann beschließt der Bundestag und der Bundesrat. Insofern sind wir eine Art Regierung Europas und das Parlament und der Rat sind die beiden Kammern, die dann entscheiden müssen.
Riedel: Und das gehört zu Ihrer Vision – um darauf zum Schluss noch mal zurückzukommen –, dass irgendwann das Wort "eine Art" wegfällt?
Oettinger: Wir nennen uns Geschäftsführung Europas. Aber mehr und mehr Gesetze erfordern eine Regierung. Und deswegen ist die Kommission eine Quasi-Regierung Europas, ja.
Riedel: Herr Oettinger, ich danke Ihnen für das Gespräch und einen schönen Gruß nach New York.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.