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EU-Politikerin Róża Thun
„Das Europa, das der Westen kannte, ist vorbei“

Es gebe keinen Weg mehr zurück zum "kleinen überschaubaren Europa", das der Westen gekannt habe, so die polnische Oppositions- und EU-Politikerin Róża Thun im Dlf. Um sicherer vor Russland zu sein, müsse die EU die Ukraine und weitere Mitglieder aufnehmen.

Róża Thun im Gespräch mit Stephan Detjen |
Die polnische Oppositions- und EU-Politikerin Róża Thun bei der EDP-Konferenz "Solutions For Europe" anläßlich des 18. Jahrestags des EU-Beitritts von Polen am 6. Mai 2022.
Die polnische EU-Abegordnete Róża Thun fordert die Aufnahme der Ukraine in die EU sowie mehr Unterstützung mit Waffen durch Deutschland. Sie kritisiert zudem die Energiepolitik der Bundesregierung - es brauche eine Abstimmung über gemeinsame Verschuldung und Hilfsfonds. (pa/NurPhoto/Beata Zawrzel)
Nach dem Europäischen Rat und dem Gründungstreffen der neuen Europäischen Politischen Gemeinschaft in Prag hat sich die polnische Oppositionspolitikerin und Abgeordnete des Europäischen Parlaments, Róża Thun, im Interview der Woche für eine Erweiterung der EU um die Ukraine und andere Staaten ausgesprochen.
Zugleich müssten die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte gewahrt bleiben. Dies seien die Werte, die Europa verbinde und für die Ukrainer heute stürben. Sie forderte zudem, das Einstimmigkeitsprinzip in der EU zu beenden.

Reparationsforderungen an Deutschland „falsch“

Die Reparationsforderungen der polnischen Regierung gegen Deutschland bezeichnete die polnische Politikerin als falsch. Die Taten und Zerstörungen der deutschen Besatzungsmacht in der Zeit des Zweiten Weltkriegs ließen sich durch Geld nicht wiedergutmachen, sagte Thun. Wenn es um Geld gehe, solle heute vielmehr in die Bewaffnung der Ukraine investiert werden.

Forderung an Deutschland, bei Ukraine-Bewaffnung mehr zu tun

Thun forderte in diesem Zusammenhang von der Bundesregierung: „Engagiert euch mehr“. Angst sei ein schlechter Ratgeber, sagte die Europa-Abgeordnete, die vor knapp einem Jahr aus der EVP in die liberale Renew-Europe-Fraktion im Europäischen Parlament gewechselt und in die neue Partei „Polska 2050“ eingetreten war. „Jetzt ist der historische Moment, wo wir den Ukrainern helfen können, wieder souverän und unabhängig und ein Staat zu werden, ohne russische Soldaten“, sagte Thun. Sie wolle nicht, dass sich Deutschland durch seine Politik in Europa marginalisiere.

Gemeinsame Verschuldung in der Krise

Die deutsche Energiepolitik kritisierte Thun als europapolitischen Alleingang. Das sei „total falsch“. In der Corona-Krise habe es sich als „einzige und beste Lösung“ erwiesen, den Einkauf von Impfstoffen, einen Hilfsfonds und gemeinsame Verschuldung zu vereinbaren. „Vielleicht muss man das noch einmal machen“, erklärte Thun.

Das Interview in voller Länge:

Stephan Detjen: Unser Gast ist eine der profiliertesten Verfechterinnen des gemeinsamen Europas in Polen. Róża Thun war Ende der 70er Jahre eine Aktivistin der antikommunistischen Opposition und Freiheitsbewegung in Polen. Sie heiratete einen aus einem alten Südtiroler Adelsgeschlecht stammenden Deutsch-Österreicher, mit dem sie in Deutschland im Exil lebte, bevor sie Ende der 90er Jahre nach Polen zurückkehrte. Seit 2009 ist Róża Thun Mitglied des Europäischen Parlaments, zwölf Jahre für die oppositionelle Bürgerplattform OP aus Polen, Mitglied der EVP-Fraktion im Europäischen Parlament. Vor einem Jahr wechselte sie zur neuen Partei Polska 2050 und in die liberale Renew Europe-Fraktion im Europäischen Parlament. Für ihre Verdienste um die deutsch-polnischen Beziehungen wird sie in der kommenden Woche mit dem Viadrina-Preis der Europa-Universität in Frankfurt an der Oder ausgezeichnet. Róża Thun ist uns jetzt aus Warschau zugeschaltet. Herzlich willkommen, Frau Thun, im Deutschlandfunk.
Róża Thun:  Ich begrüße Sie auch.

Ukraine bewaffnen statt Reparationsforderungen stellen

Detjen: Frau Thun, die vergangene Woche bot viele Anlässe, über Europa und das deutsch-polnische Verhältnis zu sprechen. Lassen Sie uns mit dem chronologisch Ersten anfangen. Am vergangenen Montag, am Tag der Deutschen Einheit, an dem Bundesaußenministerin Annalena Baerbock ganz bewusst nach Warschau gereist ist, um den Beitrag Polens zur Wiedervereinigung Deutschlands zu würdigen, unterzeichnete der polnische Außenminister Zbigniew Rau ein diplomatisches Schreiben, mit dem die polnische Regierung Reparationsforderungen in Höhe von mehr als eine Billion Euro gegen Deutschland erhebt. Ist es richtig, wenn das in Berlin als ein vor allem innenpolitisches Manöver abgetan wird, mit dem die Regierungspartei PiS antideutsche Stimmungen bedient? Oder muss man in Deutschland anerkennen, dass das millionenfache Leid und die mörderischen Zerstörungen des deutschen Angriffskrieges gegen Polen hier in Deutschland nie in ihrem ganzen Ausmaß anerkannt wurden?
Thun: Das ist ein sehr schwieriges Thema, mit dem wir das Gespräch anfangen, weil in Polen sind wir auch sehr geteilt zu diesem Thema. Natürlich kann man dieses Leid, wie Sie es genannt haben, und diese fürchterlichen Taten und Zerstörung und Mord überhaupt nicht bezahlen. Das ist einfach so schlimm gewesen, und die Folgen waren so schrecklich. Das lässt sich, glaube ich, mit Geld überhaupt nicht wiedergutmachen. Deshalb fürchte ich leider, dass diese Bahn, die angenommen wurde von der polnischen Regierung heute, das auf Geld zu berechnen, falsch ist. Weil wir müssen wirklich schauen, was wir tun sollen, damit so was nie wieder passiert, weder zwischen uns noch in unserer Umgebung. Und da sollen wir investieren. Deshalb - Sie haben erwähnt, dass ich in einer Partei bin, Polska 2050 -  und wir fordern eigentlich, dass, wenn Geld, dann heute an die Ukraine, man muss sie bewaffnen. Wir wollen ihnen helfen, dass sie diesen Krieg gewinnen und dass sie ihre Grenzen bewahren. Das heißt, Sicherheit, Frieden heute in unserer Umgebung zu schaffen, aber nicht Spannungen zwischen Polen und Deutschland.

„Wir müssen heute gemeinsam Europa stärken“

Detjen: Damit sprechen Sie natürlich auch Erwartungen an, die gerade aus Polen an Deutschland herangetragen werden, mit Blick auf die Unterstützung der Ukraine in diesem Krieg. Aber geht es nicht auch um die Anerkennung von dem, was in der Vergangenheit geschehen ist? Es geht, Sie sagen es, nicht um Geld, aber es geht auch um Wissen voneinander, um Wahrnehmung, Anerkennung von Leiden. Welche Wahrnehmungsdefizite und blinden Flecken muss Deutschland nach Ihrer Auffassung mit Blick auf Polen vielleicht noch anerkennen?
Thun: Nein, Wahrnehmung ist eine Sache, Geld ist ein bisschen eine andere. Muss diese Wahrnehmung über Geld passieren? Da bin ich nicht so sicher. Wir müssen gemeinsam, heute gemeinsam, Europa stärken, Frieden in der Welt stärken, Kampf um Klimaschutz zusammen stärken. Und die Deutschen haben natürlich eine größere Verantwortung als andere wegen dieser Geschichte. Und Deutschland ist ein großes und reiches Land und proportional zu der Vergangenheit und zu dem, was heute los ist, sollen sie sich engagieren! Zum Teil engagieren sie sich auch. Man kann nicht sagen, dass Deutschland da nichts tut. Deutschland ist in Europa sehr tätig. Aber das kann durchaus sein, dass die Geschichte nicht gut genug bekannt ist. Ich bin deshalb auch sehr geehrt und glücklich, dass ich diesen Viadrina-Preis bekomme. Darüber möchte ich auch noch mal sprechen, wie wichtig das ist, dass wir einander kennen und dass die nächsten Generationen in Deutschland, obwohl das mehrere sind -  und ich will nicht sagen, dass diese Generation heute Schuld tragen muss für das, was geschehen ist, ist mehrere Generationen her. Aber sie müssen das kennen, um zu verstehen, was überhaupt leider möglich ist unter den Menschen und dazu gemeinsame Unternehmen, gemeinsame Forschung, gemeinsame Treffen, diese gemeinsame Universität, diese Viadrina, das sind unglaublich wichtige Projekte. Ja, das tut mir irgendwie weh. Wir haben so unglaublich viel Gutes schon getan und uns auf beiden Seiten so engagiert in den letzten Dekaden, damit diese Beziehungen sich zur Normalität entwickeln. Und es wird heute leider wieder, es gibt so Schritte zurück, würde ich sagen, und das finde ich sehr schade.

Deutscher Einfluss schwindet durch ungenügendes Engagement

Detjen: Frau Thun, Sie haben angesprochen jetzt, dass der Blick auf die Gegenwart gerichtet werden soll …
Thun: Zukunft!
Detjen: Auf die Gegenwart und die Zukunft, aber Sie haben eben auch die Diskussion um die Unterstützung der Ukraine angesprochen und da eine Verbindung zur Vergangenheit hergestellt. Das ist ein Thema, wo Deutschland, wo die Bundesregierung von Polen und anderen osteuropäischen Ländern unter Druck gesetzt wird. Polen und andere osteuropäische Länder haben allen Grund zu kritisieren, dass deutsche Regierungen in der Vergangenheit alle Warnungen der Ost- und Mitteleuropäer vor der Aggressivität Putins in den Wind geschlagen haben, die deutsche Energieabhängigkeit von Russland verstärkt haben. Wie viel Vertrauen und auch politisches Gewicht hat Deutschland durch seine eigenen Fehleinschätzungen und wirtschaftlichen Eigennutz in den vergangenen Jahren verspielt?
Thun: Es ist überhaupt so in dem heutigen Europa, dass je mehr man eigene Politik fordert und nicht die gemeinsame, desto weniger Einfluss hat man auf diese große Einheit, auf diese 500 Millionen Menschen, die in der EU leben, und auf unsere gemeinsame Politik. Da fürchte ich vor allem, dass heute durch dieses nicht genügende Engagement in dem ukrainischen Krieg, dass Deutschland auch an Bedeutung oder an Einfluss verliert. Das Zweite sind diese eigenen Projekte zur Unterstützung von Energiepreisen, von Leuten, nicht wahr, dieser Price Cap, diese Regulierung von Energiepreisen oder Zuschüssen. Wir müssen diese Sachen heute gemeinsam regeln, sonst sind wir abhängig von anderen. Ich möchte nicht, dass sich Deutschland in diesen Gesprächen und in diesen Politiken marginalisiert. Das wäre wirklich schlecht für Deutschland und für Europa.

Alleingang Deutschlands in der Energiekrise „total falsch“

Detjen: Auch der polnische Ministerpräsident Morawiecki hat das gerade Ende der Woche beim EU-Gipfel in Prag angesprochen. Er hat gesagt, die europäische Energiepolitik kann nicht von Deutschland diktiert werden, und das drückt die Kritik an dem massiven 200-Milliarden-Hilfspaket aus, das Deutschland sich leisten kann. Wäre Ihre Forderung, dass hier eine europäische Gemeinsamkeit entsteht, wie sie in der Corona-Krise mobilisiert worden ist, auch indem Deutschland über seinen Schatten gesprungen ist und einer gemeinsamen Verschuldung Europas im Next-Generation-EU-Hilfsfonds zugestimmt hat?
Thun: Selten bin ich einverstanden mit der PiS-Regierung, muss ich sagen, aber tatsächlich müssen wir die Energiepolitik heute gemeinsam gestalten. Und da komme ich auch zurück auf Ihr erstes Thema, Deutschland hat eine große Verantwortung für ein gemeinsames Europa, und wir müssen gemeinsam diese Probleme regeln und wir müssen wirklich gemeinsam sehen, dass unsere Bürger zurechtkommen mit dieser Energiekrise. Wenn jedes Land das für sich regelt, dann sind wir insgesamt sehr viel schwächer und abhängig eben von Ländern um uns herum oder von den Ländern, von denen wir importieren, wenn Deutschland auch häufig gemeinsame Politiken von anderen Mitgliedsländern verlangt, und in diesem Fall will sie oder will die deutsche Regierung die Probleme alleine lösen. Das ist total falsch! Und wenn wir eben nicht gemeinsam die Energieprobleme heute regeln und nicht gemeinsam auf dem höchsten Niveau den Ukrainern helfen und sie rüsten, dann verlieren wir alle dabei. Und das ist extrem wichtig zu verstehen: nur gemeinsam souverän sind, sonst ist jeder von uns schwächer.

„Gemeinsame Entscheidung, nicht jedes Land für sich“

Detjen: Aber um das noch mal konkret auszudrücken: diese Gemeinsamkeit, da verstehe ich Sie richtig, würde sich ausdrücken, indem die Europäische Union jetzt noch mal, wie in der Corona-Krise, ein gemeinsames Hilfspaket aufsetzt und auch Deutschland noch mal einer Ausweitung gemeinsamer europäischer Verschuldung zustimmt?
Thun: Da bin ich nicht zu 100 Prozent sicher, aber ich würde dem trauen, muss ich sagen, was Rat und vor allem die Kommission vorschlagen, nämlich eben gemeinsam die Verantwortung tragen. Wie hoch die Verschuldung sein könnte, da bin ich nicht schlau genug. Aber es hat sich eben in der Corona-Krise als sehr positiv und als einzige und beste Lösung erwiesen, gemeinsamer Einkauf von Impfungen, gemeinsam dieser spezielle Fonds und gemeinsame Verschuldung. Vielleicht muss man das noch einmal machen, aber vor allem, was ich ausdrücken will und sehr unterstreiche, ist, es muss eine gemeinsame Entscheidung sein, nicht jedes Land für sich.
Detjen: Róża Thun, Mitglied des Europäischen Parlaments aus Polen, im Deutschlandfunk, Interview der Woche. Frau Thun, wenn wir noch mal auf die Diskussion um die Unterstützung der Ukraine blicken, dann sehen wir, dass Bundeskanzler Scholz seine Haltung gerade zum umstrittenen Thema Waffenlieferung, Lieferung von Schützen- und Kampfpanzern immer wieder mit dem Begriff der Besonnenheit und dem Hinweis auf die Gefahr einer unkontrollierten, unkontrollierbaren Eskalation des Krieges, auch mit einer nuklearen Eskalation, begründet. Wird diese Gefahr, ganz besonders die Gefahr eines Nuklearkrieges, die uns ja jetzt durch die jüngsten Drohungen Putins nochmal deutlich vor Augen geführt worden ist, wird diese Gefahr in Polen ganz anders wahrgenommen als in Deutschland?
Thun: Ich bin nicht sicher, wie sie in Deutschland wahrgenommen wird …
Detjen: … sie prägt jedenfalls die deutsche Politik.
Thun: Das ist natürlich eine fürchterliche Drohung, aber Angst ist der schlechteste Berater überhaupt. Wir dürfen hier keine Angst haben, weil dann lassen wir den Putin diktieren und seine Bedingungen stellen.

„Je weniger wir die Ukraine aufrüsten, desto mehr Platz lassen wir Putin“

Detjen: Aber wenn ich da nachfragen darf: wo verläuft die Grenze zwischen lähmender Angst und notwendiger Besorgnis?
Thun: Je weniger wir gemeinsam sind, je weniger wir die Ukraine rüsten, je weniger wir solidarisch mit ihnen sind, desto mehr Platz lassen wir Putin. Je mehr wir Angst haben und je mehr er sieht, dass er mit seinen Drohungen uns Angst einjagt, desto stärker ist er. Man muss verstehen, dass Putin und seine Vorgänger in der russischen Politik schon lange so sind, nur Stärke verstehen, leider, leider! Natürlich muss man Gespräche weiterführen, aber aus der Position eines Stärkeren. Wenn wir nicht gemeinsam unsere Sicherheitspolitik führen und wenn wir nicht die Ukraine rüsten, dann kann er tatsächlich weitere Schritte unternehmen. Bis jetzt schaut es danach aus, dass er eher überrascht ist darüber, wie Europa gemeinsam eben reagiert, wie die Sanktionen stur weiter eingeführt werden, wie viel Rüstung die Ukrainer bekommen. Und er sagt viel, aber er muss leider oder zum Glück, pardon, er spricht leider zu viel, aber er muss sich zurückziehen aus immer mehr Gebieten in der Ukraine, und so müssen wir das weitermachen. Ich würde an die deutsche Regierung nur appellieren, engagiert euch mehr. Angst ist der schlechteste Berater. In dem Moment, jetzt ist der historische Moment, wo wir den Ukrainern helfen können, wieder souverän und unabhängig und ein Staat zu werden, ohne russische Soldaten! Das zweite Element ist, dass wenn wir Putin jetzt erlauben oder einen Schritt zurückmachen, warum sollen andere Länder nicht das Gleiche machen? Nicht wahr, einfach in Territorien, die ihnen gefallen oder wo sie meinen, dass das historisch ihres ist, militärisch eintreten? Das dürfen wir heute in dem 21. Jahrhundert wirklich nicht erlauben als Europa!

„Ukrainer brauchen mehr Waffen und die müssen wir ihnen liefern“

Detjen: Und dieser Appell an die deutsche Bundesregierung heißt dann konkret: Geht voran, liefert eure Marder- und Leopard-Panzer? Also auch insofern dann an dieser Stelle jedenfalls ein Gleichklang zwischen der polnischen Oppositionspolitikerin Róża Thun und den Forderungen, die die polnische Regierung gegen die Bundesregierung erhebt?
Thun: Ich glaube, das ist nicht nur ein Einklang von der Oppositionspolitikerin Róża Thun und der polnischen Regierung, sondern sehr vielen Ländern Europas und vor allem Ukrainern. Ukrainer brauchen mehr Waffen und das müssen wir ihnen liefern.

„Die Geopolitik hat sich im Februar endgültig geändert“

Detjen: Frau Thun, lassen Sie uns noch mal auf Europa im größeren Rahmen schauen. Der Krieg, das ist ganz klar, verändert Europa. In dieser Woche trafen sich in Prag 44 Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union, der Westbalkan-Länder, das Vereinigte Königreich war dabei, die Türkei, Armenien, Aserbaidschan, unter der Überschrift Europäische Politische Gemeinschaft. Entsteht da unter dem Druck Putins ein neues Europa, indem die Europäische Union dann faktisch zum alten Europa wird?
Thun: Dieses Treffen in Prag, das ist zum großen Teil die Initiative von der französischen Regierung oder konkret von Emmanuel Macron, und er hat diese Vision, die er schon eine längere Zeit verbreitet, von so verschiedenen Kreisen, nicht wahr. Es gibt die Europäische Union, aber es gibt auch diese Länder drum herum, die dazugehören.
Detjen: Und daran knüpft sich ja die Befürchtung von vielen, dass dieses Drumherum dann zu einem Wartezimmer wird, indem man dann diejenigen sitzen lässt, die eigentlich teilweise schon seit Jahren, die Westbalkanstaaten, darauf warten, in den engeren Kreis, nämlich in die Europäische Union hineingelassen zu werden.
Thun: Ja, manche haben schon ihre Meinung geändert, glaube ich, so wie die Türken zum Beispiel. Aber die Geopolitik im Februar dieses Jahres hat sich endgültig geändert, und darüber müssen wir uns im Klaren sein. Dieses Europa, was wir gekannt haben oder was Sie im Westen gekannt haben bis zur Erweiterung und dann nach dem russisch-ukrainischen Krieg, das ist vorbei …

„Wir kommen nicht mehr zurück zum überschaubaren kleinen Europa“

Detjen: …Moment, das müssen Sie uns erklären! Das ist ja ein gewichtiger Satz. ‚Dieses Europa, das wir im Westen gekannt haben, ist vorbei‘. Was meinen Sie?
Thun: Ja, erstens, es war ein Europa ohne uns sozusagen, ohne Polen, Ungarn, Tschechoslowakei damals noch, nicht wahr und so weiter, die Baltischen Staaten, Rumänien, Bulgarien. Das war ein anderes Europa als nach der Erweiterung, nicht wahr. Und es war eine längere Zeit, wo wir uns aneinander angepasst haben, versuchten wir uns besser kennenzulernen. Zum Teil haben wir das auch erreicht. Und wir haben uns alle zusammen engagiert für dieses größere Europa, das stark und groß zu machen und ein Europa, das gut funktioniert. Es hat zum Teil die Prüfungen bestanden, zum Teil nicht. Aber jetzt mit dem Ausbruch vom Krieg oder mit dem Angriff von den Russen auf die Ukrainer hat sich dieses noch einmal total geändert. Wir kommen nicht mehr zurück zu diesem überschaubaren kleinen Europa, was Sie im Westen früher gekannt haben, sondern es wird jetzt eine viel größere Organisation. Weil wir müssen die Ukrainer aufnehmen. Die NATO wird sich auch verändern. Wir müssen aufhören mit der Einstimmigkeit. Wir müssen mehr gemeinsame Politiken betreiben wie eben gemeinsamen Einkauf von Energie. Wir müssen eine neue Sicherheits- und Verteidigungspolitik entwickeln. Wir müssen neue Länder aufnehmen, einfach auch deshalb, weil wir gegen Russland sicherer sein müssen.

„Die Opposition wird in Polen sicher die Wahlen gewinnen“

Detjen: Aber Frau Thun, was heißt das dann in der Konsequenz, die Sie hier ziehen, für das Grundverständnis der Gemeinsamkeit in Europa, das ja auch zur Debatte steht in den Auseinandersetzungen, die wir zwischen der Europäischen Union, auch zwischen Deutschland und Polen, um die Themen Rechtstaatlichkeit sehen und wenn wir auch auf Ungarn schauen, um Grundprinzipien von Demokratie? Müssen wir davon Abstriche vornehmen, um im Interesse gemeinsamer Sicherheit, gemeinsamer existenzieller Wirtschaftsinteressen, eben auch möglicherweise weitere Länder in die Europäische Union aufzunehmen, die weit von diesen Standards entfernt sind?
Thun: Wenn wir diese Standards, das Wesentlichste ist die Rechtstaatlichkeit, nicht bewahren, dann wird die Gemeinschaft nie funktionieren. Denn die ambitiösen Politiken für die Zukunft würden einfach nicht funktionieren. Europa baut auf Rechtstaatlichkeit, auf Menschenrechte. Und da dürfen wir überhaupt keinen Schritt zurückmachen. Es ist ein riesiges Thema und unglaublich schwierig, aber ich lebe hier in Polen, und ich glaube, dass wir ab nächstem Jahr überhaupt eine neue Perspektive eröffnen werden, weil die Opposition wird hier sicher die Wahlen gewinnen. Das kann ich mir überhaupt nicht anders vorstellen. Und alles deutet darauf hin, dass die Opposition eine große Chance hat, die Wahlen zu gewinnen. Die Menschen in Polen sind sehr pro-europäisch und verstehen immer deutlicher, dass diese Politik uns aus der Europäischen Union einfach herausführt. Also, wenn ich von diesem neuen oder größeren oder anderen Europa spreche, weil die Geopolitik hat sich so geändert. Ich möchte das sehr unterstreichen, dass aus dem Respekt für Gesetze, Rechtstaatlichkeit und Menschenrechte kein Schritt zurückgemacht werden kann. Das ist das Wesentlichste und das sind Werte, die uns verbinden. Das sind auch Werte, für die die Ukrainer heute sterben. Und ich bin überzeugt, dass sie da auch gewinnen werden. Mit unser aller Unterstützung werden sie diesen Krieg gewinnen. Sie kämpfen eben für diese Werte. Also, die dürfen wir nicht vergessen oder hier überhaupt nicht großzügiger werden.

PiS betreibt anti-deutsche Kampagne

Detjen: Sie haben jetzt, Frau Thun, den Blick selbst vorausgeworfen auf das nächste Jahr. Da gibt es dann in einem Jahr, im Herbst nächsten Jahres, Wahlen in Polen. Vorangehen wird ein Wahlkampf, der wahrscheinlich sehr heftig wird. Wie wird dieser Wahlkampf von anti-europäischen und anti-deutschen Stimmungen geprägt werden?
Thun: An die Deutschen möchte ich immer sagen, dass diese anti-deutsche Politik, die von der Regierung hier betrieben wird - und man muss das auch verstehen, dass sie sich die staatlichen Medien als ihre Propaganda-Tuba für ihre Partei gemacht haben, nicht wahr - aber wir haben Gott sei Dank in Polen noch ein paar private Medien, die auch sehr stark sind. Aber diese anti-deutsche Kampagne, die wir jetzt haben, da wird eigentlich Deutschland instrumentell benutzt, weil, was ich leider fürchte, ist, dass diese Regierung uns aus der Europäischen Union entweder rausführen möchte oder total marginalisieren. Auf jeden Fall stören sie die Gesetze oder vor allem eben die Rechtstaatlichkeit. Es ist sehr schwer in Polen, schlecht über die Europäische Union zu sprechen, weil die Polen sind sehr pro-europäisch und wollen in der Europäischen Union sein. Aber wegen der Geschichte ist viel leichter daran zu erinnern, wie schrecklich wir gelitten haben während dem Zweiten Weltkrieg und schlecht über die Deutschen zu sprechen. Die alten Wunden zu öffnen, ist nicht so wahnsinnig schwierig. Und gleichzeitig hören wir diese Narrative – ‚Es ist nicht Brüssel, es ist Berlin, da regieren überall die Deutschen und die Deutschen sind böse‘. Also, deshalb sage ich, Deutschland wird instrumentell benutzt, um diese Sympathie für die Europäische Union zu mildern oder kleiner zu machen.
Die polnische Oppositions- und EU-Politikerin Róża Thun bei der EDP-Konferenz "Solutions For Europe" anläßlich des 18. Jahrestags des EU-Beitritts von Polen am 6. Mai 2022.
Die polnische Oppositions- und EU-Politikerin Róża Thun bei der EDP-Konferenz "Solutions For Europe" anläßlich des 18. Jahrestags des EU-Beitritts von Polen am 6. Mai 2022. (pa/NurPhoto/Beata Zawrzel)

Gemeinsame Politik in der Europäischen Union entwickeln

Detjen: Sie haben sich jetzt gerade sehr zuversichtlich geäußert, dass es im nächsten Jahr zu einem Regierungswechsel in Polen kommt, dass das also nicht so werden wird, nicht so enden wird, wie man es in Ungarn wohl annehmen muss, dass da ein Machtwechsel unter der Herrschaft der Fidesz-Partei und Victor Orbáns kaum noch möglich ist. Wenn es einen Regierungswechsel gibt, voraussichtlich unter Führung der Bürgerplattform von Donald Tusk, aber dann nur mit Beteiligung von Oppositionsparteien, zu denen dann auch Ihre neue Partei Polska 2050 wohl gehören würde, was wären die Bedingungen für Sie, die Ihre Partei stellen sollte, um der jetzigen Opposition zu einer Mehrheit zu verhelfen? Was würde sich ändern und gerade auch mit Blick auf Deutschland welche Differenzen und Interessengegensätze würden bleiben?
Thun: Ich bin vor allem überzeugt, dass, wenn einmal PiS, Kaczyński, nicht mehr die Politik macht, sondern Hołownia, Tusk und die jetzige Opposition, wird es erstens zu einem viel größeren Engagement für die gemeinsamen europäischen Politiken kommen und zweitens, die Beziehungen mit Deutschland werden einfach zur Normalität kommen. Wir sind seit eh und je Nachbarn. Die letzten Dekaden waren schon sehr gut und das wollen wir weiter - ohne künstliche Probleme zu bauen - weiterentwickeln. Nur so profitieren unsere beiden Länder, materiell, intellektuell und kulturell. Also, ich glaube, der rege Austausch wird reger und wir werden gemeinsame Politiken in der EU, in der Europäischen Union, entwickeln - abgesehen von solchen Problemen wie die Vergiftung von der Oder. Wir müssen gemeinsam auf unsere Umwelt aufpassen und ich glaube, dass unsere Konflikte sich ändern werden in gemeinsamen Projekten, damit dieser Teil Europas wirklich gut funktioniert.