Falk Steiner: Peter Schaar, zehn Jahre lang waren Sie nun Bundesbeauftragter für den Datenschutz, seit 2006 auch Beauftragter für die Informationsfreiheit. Als Sie 2003 vom Bundestag gewählt wurden, war der Datenschutz, der zuletzt in den 1980ern große Teile der Bevölkerung bewegte, kein zentrales Thema mehr der Bevölkerung, von der Informationsfreiheit ganz zu schweigen. 2003 gab es kein Facebook, kein YouTube, keine Smartphones und auch keine Smart Meter, also die sogenannten intelligenten Stromzähler. Und auch keine Vorratsdatenspeicherung. Erst mit der Verbreitung der Technologie kamen auch die Datenschutzthemen in den Fokus. Wie schauen Sie auf die vergangenen zehn Jahre und die Entwicklungen beim Datenschutz zurück? Was haben Sie erreichen können und was vielleicht auch nicht?
Peter Schaar: Also, auch 2003 haben wir ja nicht bei null angefangen und vieles von dem, was wir heute haben, war damals zumindest in der Ferne absehbar. Dass es so schnell gekommen ist, dass es sich so breit durchgesetzt hat – denken Sie an die Smartphones, denken Sie an Facebook –, damit hat sicher keiner gerechnet. Und dementsprechend haben wir heute es durchaus mit einer Situation zu tun, wo wir überall Datenspuren hinterlassen, die von wirtschaftlichem Wert sind, die aber auch Sicherheitsbehörden interessieren. Und da gab es ja mannigfaltige Themen, gegenzuhalten als Datenschutzbeauftragter. Es war, glaube ich, auch durchaus in vielen Bereichen erfolgreich. Denken Sie daran, dass wir verschiedene Vorhaben doch sehr bremsen konnten beziehungsweise in eine Richtung lenken konnte, die dann doch mit dem Datenschutz vereinbar war. Die elektronische Gesundheitskarte ist eben nicht das Riesenprojekt, das jetzt uns alle als Patienten gläsern macht, sondern wir haben es geschafft, da so viele Sicherungen – technische und rechtliche – einzubauen, dass ich mir da jetzt nicht die ganz großen Sorgen mache. Ich denke aber auch daran, dass wir so ein paar kleine Siege gefeiert haben. Es ist uns nicht gelungen, die biometrischen Merkmale, also das elektronische Gesichtsbild und den Fingerabdruck, in Pässen und Personalausweisen zu verhindern. Aber verhindern konnten wir, dass diese Informationen, diese Daten in externen Datenbanken lagern. Das Bundesverfassungsgericht hat ja viele Dämme, viele Wälle errichtet, die unsere Privatsphäre doch ziemlich effektiv schützen. Und vieles von dem, was dort an Urteilen nachzulesen ist, beruht zum Teil auch durchaus auf Stellungnahmen, die von mir und meinen Kolleginnen und Kollegen in den Ländern stammen. Das kann man durchaus nachvollziehen. Wir sind da gutachterlich als Sachverständige gefragt worden. Wir haben unseren Rat abgegeben und in vielen Fällen ist uns das Bundesverfassungsgericht gefolgt.
Steiner: Nun, wenn wir das ein bisschen bilanzieren, stehen wir und unsere Daten, aus Sicht des Datenschützers Peter Schaar, heute besser da als 2003 oder auch als 2008?
Schaar: Datenmassen sind sehr viel größer geworden
Schaar: Ich würde das auf keinen Fall sagen, dass wir jetzt besser dastehen. Wir stehen anders da. Erst mal sind die Datenmassen sehr viel größer geworden. Und wie wir wissen, mittlerweile gibt es eine umfassende globale Überwachung, ausgehend von dem amerikanischen Computer-Geheimdienst NSA, aber durchaus auch unterstützt von Geheimdiensten anderer Staaten. Das ist etwas, was uns riesige Sorgen bereitet, was aber auch im Bewusstsein der internationalen Öffentlichkeit – auch der deutschen Öffentlichkeit – angekommen ist, auch, wenn ich manchmal wiederum das Gefühl habe, dass die Wahrnehmung sehr unterschiedlich ist. Wenn ich die Unternehmen mir anschaue in Deutschland, in der ganzen Welt, dann ist die Besorgnis sehr groß, dass die Überwachung nicht nur die personenbezogenen Daten von Bürgerinnen und Bürgern betrifft, sondern dass da auch Betriebs- und Geschäftsgeheimnisse und sonstige wichtige Informationen von Unternehmen abgesaugt werden und vielleicht dann in andere Kanäle gelangen, vielleicht sogar zur Konkurrenz. Da bahnt sich ein Bündnis an, gegen die staatliche Überwachung, zwischen Unternehmen und Bürgerrechtlern. Das ist schon etwas, was wiederum Mut macht. Andererseits, viele dieser Unternehmen sammeln selber ungeheuer viel Daten. Und da müssen wir den Konflikt auch weiterhin führen, da dürfen wir uns vor Streit nicht scheuen als Datenschützer. Und das ist auch etwas, was völlig unabhängig von meiner eigenen Person ist.
Steiner: Es gab ja doch auch einige Debatten um den Datenschutz, die vielleicht, sagen wir mal, etwas skurril anmuteten. Beispielsweise der wohl größte Datenschutzaufreger vor dem andauernden NSA-Skandal war in Deutschland die Debatte um Googles Streetview im Sommer 2010, bei der doch Einiges auch durcheinanderging und die heute fast vergessen ist. Was haben Sie aus dieser, damals sehr hitzigen Debatte eigentlich mitgenommen? Und gegen dieses Ausmaß der Streetview-Debatte, verhält sich die NSA-Aufregung doch eher noch in Maßen?
Schaar: Also, ich würde Ihre letzte These, dass Streetview mehr Aufregerthema war als die NSA-Überwachung, diese These würde ich nicht teilen. Aber in der Tat, das Überraschendste an der Google-Streetview-Debatte war, dass es sie in dieser Intensität gab. Ich selbst war auch immer durchaus der Auffassung, vieles, was Google gemacht hat, war falsch. Insbesondere war es völlig unvertretbar, dass dort heimlich nicht nur Fotos gemacht wurden, sondern dass da auch Signale aus W-LANs aufgefangen worden sind. Das hat sich ja dann erst bei Prüfungen herausgestellt von Datenschutzbehörden in aller Welt. Und das wurde dann von Google zähneknirschend eingestanden, dass sie so etwas gemacht haben. Aber im Mittelpunkt standen ja diese Bilder, die man von der Straße, wenn man dort lang spaziert, ja auch hätte aufnehmen können mit einem Fotoapparat. Das spricht nicht dagegen, dass wir hier auch durchaus Datenschutzprobleme sehen. Zum Beispiel finde ich es auch völlig richtig, dass jemand sagt: Mein Häuschen soll nicht im Internet sichtbar sein. Das ist schon eine neue Qualität, wenn das verknüpft wird mit anderen Daten. Also das sind schon Punkte, wo man sagen muss: Verstehe ich die Bedenken? Die insgesamt festzustellende Aufregung war wohl etwas doch übertrieben, hat aber vielleicht auch gezeigt, dass viele Menschen, die vorher meinten, sie seien ja vor dem Internet deshalb sicher, weil sie es selber nicht nutzen, aufgewacht sind. Und das zeigte sich ja auch an der Skala der Aufregung, die besonders in eher ländlichen Gegenden und dort, wo eher ältere Menschen betroffen waren, besonders hoch war.
Steiner: Wenn wir nun schauen, die NSA-Debatte als solche, die Debatte, um eben den Späh-Skandal ist es doch so, dass bei der Bevölkerung zumindest vorherrschen zu scheint eine Meinung, die ein bisschen so ist, dass sie eigentlich von niemandem einen wirklichen Schutz erwarten? Wie kommt das?
Schaar: Also erst mal ist es so, dass die Werte für das Vertrauen in Internetdienstleistung drastisch gefallen sind. Das gilt nicht nur für uns, das gilt weltweit. Das wird erhebliche wirtschaftliche Auswirkungen haben. Es führt aber auch dazu, dass die Menschen sich mehr Gedanken machen. Und zumindest in diesem Punkt, dass sie sich überlegen: Was stelle ich in einen bestimmten Dienst ein, welche elektronischen Dienstleistungen nehme ich in Anspruch, welche Informationen gebe ich da preis, da sind die Menschen sensibler geworden. Das ist durchaus auch ein Effekt, der nicht nur negativ ist. Auch die Tatsache, dass wir jetzt sehr viel intensiver über Datenverschlüsselung diskutieren, ist ja darauf zurückzuführen. Und auch das ist ein positiver Nebeneffekt dieser ungeheuerlichen Praktiken. Was noch fehlt, das sind die tatsächlichen politischen Aktivitäten derjenigen, die dafür verantwortlich sind. Da sehe ich eher so ein Abwiegeln im letzten halben Jahr. Und da muss die neue Bundesregierung auch ran. Da muss auch der neu gewählte Bundestag Zeichen zeigen. Es wird ja über ein Untersuchungsausschuss diskutiert. Aber wichtig ist für mich vor allem, dass auf europäischer Ebene wir ein ordentliches und auch starkes Datenschutzniveau bekommen.
Steiner: Nachdem die Affäre erst vom, nun seine eigene Ministerkarriere beendet habenden Ronald Pofalla für beendet erklärt wurde, brachte erst der Vorwurf, dass ein Telefon der Bundeskanzlerin gezielt abgehört worden sein soll, die Debatte hierzulande wieder in Fahrt. Aber immer wieder die Kritiker, eben auch Ihrer Kritik letzten Endes, die sagen immer wieder: Man müsse ja immer schauen, ob man Edward Snowden überhaupt Glauben schenken kann. Wie sehen Sie das? Wie sehen Sie das? Und wie sollte man damit umgehen? Denn diese Daten kann man natürlich schlecht verifizieren.
Schaar: Also in den ersten Wochen war da sicherlich Skepsis angesagt, auch was die Interpretation der entsprechenden Informationen anbelangte. Da ist auch manches vielleicht nicht ganz richtig verstanden worden. Aber ich habe natürlich mit vielen Fachleuten aus Behörden, aus wissenschaftlichen Einrichtungen gesprochen. Und ich habe auch verglichen, was die amerikanische Regierung jetzt selbst veröffentlicht hat, über die eigenen Abhöraktivitäten, was gesagt wurde bei den Anhörungen vor dem amerikanischen Kongress. Und da muss ich letztlich feststellen: Nicht an einer Stelle wurden die Papiere widerlegt, nicht an einer Stelle wurde auch nur bestritten, dass sie richtig waren. Und insofern würde ich sagen: Ja, dieser Fundus, den Herr Snowden sich dort angeeignet hat, den er mitgenommen hat, der besteht offensichtlich nicht aus Spielmaterial, sondern aus echten Dokumenten. Und dann muss man fragen: Welche Schlussfolgerungen kann man daraus ziehen? Und das ist schon dramatisch, dass wir so damit zu tun haben, dass ein globales Überwachungsnetz über die Welt gezogen wurde in den letzten fünf bis sieben Jahren. Das können wir uns auf Dauer nicht leisten.
Steiner: Sie haben es eben angesprochen, es könnte einen Untersuchungsausschuss geben zu dieser NSA-Affäre. Müsste man Ihrer Meinung nach dann nicht doch Edward Snowden – so schwierig es sein mag – ins Land holen, um ihn als Zeugen zu vernehmen?
Peter Schaar würde es begrüßen, wenn Snowden sich für längere Zeit in Deutschland aufhalten dürfte
Schaar: Ich finde es sehr unglücklich, dass man Herrn Snowden in Russland belässt, also in einem Staat, der ein Stück weit sich zu Recht auch kritisieren lassen muss für mangelnde Demokratie. Putin ist eben nicht dieser lupenreine Demokrat. Dieses Land hat eine andere Tradition. Und ich würde es sehr begrüßen, wenn Herr Snowden frei von Angst, jetzt selber in Haft genommen zu werden, eine Gelegenheit bekäme, eben bei uns auch für längere Zeit sich aufzuhalten. Damit wären dann letztlich auch die Befürchtungen ein Stück entkräftet, er könnte diese Informationen dann an chinesische oder russische Geheimdienste weitergeben.
Steiner: Wenn wir uns anschauen, was dort alles publiziert wurde, dann muss man sich ja schon fragen, wie viel Vertrauen in digitale Technik heute noch gerechtfertigt ist? Die Kommunikationswege können abgehört werden – offensichtlich –, Hintertüren für Schnüffler werden in weitverbreiteter Software verbaut, Verschlüsselung wird gezielt gebrochen. Und der Rechtsschutz des Einzelnen, er ist jenseits des eigenen Nationalstaates ja kaum der Rede wert. Wenn jeder Mensch fast überall auf der Welt Ausländer ist, werden wir dann nicht permanent immer von Dutzenden Geheimdiensten überwacht?
Schaar: Ich will nicht ausschließen, dass es hier auch eine Überwachung durch andere Nachrichtendienste gibt, auch solche von nicht-demokratischen Staaten. Die Frage ist, ob diese Staaten und diese Geheimdienste in der Lage sind, ein so umfassendes Überwachungsnetz über die Welt zu ziehen? Das bezweifle ich. Aber dass es solche Aktivitäten gibt und dass es da wenig Skrupel gibt, davon können wir schon ausgehen. Und in sofern brauchen wir im Grunde eine Gegenwehr auf zwei Ebenen. Das eine ist die rechtliche Seite. Es muss im internationalen Recht klipp und klar gesagt werden: Die Grundrechte, die Bürgerrechte, das Recht auf Privatsphäre, das Fernmeldegeheimnis, das gilt unabhängig von der Staatsangehörigkeit. Und es gilt auch unabhängig davon, wo ich mich gerade aufhalte oder wo meine Daten sind. Das ist sozusagen der eine Aspekt. Der zweite ist, wir brauchen robuste Sicherheitsmechanismen. Und da denke ich nach wie vor, trotz Snowdens Veröffentlichungen, an die Datenverschlüsselung. Datenverschlüsselung ist ja nicht per sé kompromittiert worden durch die NSA, sondern bestimmte Systeme, bestimmte Programme, auch die Hardware, die dabei zum Einsatz kam, ist teilweise manipuliert worden. Und da müssen wir sehr genau hinsehen. Das kann nicht der Einzelne machen – der kann sich ein Stück wehren, der kann auch ein Verschlüsselungsprogramm, Ende-zu-Ende-Verschlüsselung, auf seinem eigenen PC installieren. Da sehe ich in erster Linie die großen Firmen, aber auch den Staat, jedenfalls den demokratischen Rechtsstaat in der Pflicht, für entsprechende Sicherheit zu sorgen. Da müsste noch sehr viel mehr geschehen.
Steiner: Wenn wir uns überlegen, welche Initiativen bislang ergriffen wurden – auf der einen Seite war es eben auf UN-Ebene der Versuch, mit einer Resolution erst einmal einen Weg zu gehen, dass man eben die Privatsphäre international besser geschützt sehen will. Gleichzeit ist es so, dass Experten erwarten, dass die Bundesregierung in absehbarer Zeit ein No-Spy-Abkommen mit den USA präsentieren wird. Aber glauben Sie, dass dies tatsächlich einen Unterschied machen wird? Denn kontrollieren könnte ja die Einhaltung eben solcher Vereinbarungen am Ende eigentlich niemand, außer den jeweiligen Nationalstaaten. Stehen wir nicht trotzdem dann am Ende immer noch alle nackt da?
Schaar: Diese Entschließung der UN-Vollversammlung ist ja ein erster Schritt – aber ein Schritt in die richtige Richtung. Und deshalb finde ich es auch gut, dass diese Entschließung, die von der Bundesregierung und von Brasilien gemeinsam eingebracht worden ist, so große Zustimmung gefunden hat. Aber sie ist ja noch kein internationales Recht. Aber so fingen auch in der Vergangenheit viele internationale Kontrollmechanismen an, dass man sich erst mal auf bestimmte Prinzipien einigte, auf Grundsätze, die doch eingehalten werden sollten, ohne dass jetzt die Einzelheiten und Mechanismen damit auch schon festgelegt waren. Denken Sie an die Kontrolle von strategischen Kernwaffen. Denken Sie an Debatten über Chemiewaffen. Das sind alles Mechanismen gewesen, bei denen sozusagen erst mal sich ein Wille formen musste, und in diesem Stadium sind wir gerade, und wir sind noch nicht bei der Überprüfung. Aber es kann solche Überprüfungsmechanismen dann geben. Wenn es richtig ist, dass Staaten, die dem Nichtverbreitungspakt, was Kernwaffen anbelangt, beigetreten sind, dass die sich verpflichten, auch unangekündigte Kontrollen internationaler Kommissionen zu gewährleisten, warum soll so etwas im Bereich der Informationstechnik nicht gehen? Wir brauchen eine unabhängige, starke Datenschutzaufsicht und zwar eine Datenschutzaufsicht, die nicht alleine nationalstaatlich funktioniert, sondern auch ein internationales Datenschutz-Kontrollsystem. Das ist etwas, was allerdings, glaube ich, noch ziemlich lange braucht, bis es denn installiert werden kann – wenn es denn kommt.
Steiner: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Zu Gast ist Peter Schaar, Bundesbeauftragter für den Datenschutz und die Informationsfreiheit. Herr Schaar, Sie sind ja in Ihrer Amtszeit des Öfteren mit den jeweils amtierenden Innenministern auch aneinandergeraten, hatten teils deutliche Differenzen. Der derzeit noch geschäftsführend im Amt befindliche Innenminister, Hans-Peter Friedrich, mochte Sie nicht einmal bitten, so lange geschäftsführend im Amt zu bleiben, bis ein Nachfolger oder eine Nachfolgerin gewählt ist. Ist denn der Datenschutz, aus Ihrer Sicht, beim Innenministerium heute noch richtig angesiedelt?
Schaar: Die Frage ist ja, ob der Datenschutz jemals beim Innenministerium richtig angesiedelt war? Und da sehe ich, angesichts der strukturell völlig unterschiedlichen Aufgaben und Ausrichtung dieser Institution, einerseits ein Innenministerium, spätestens, seit den Terroranschlägen am 11. September vor allem ein Sicherheitsministerium – und das haben alle Amtsinhaber auch so praktiziert. Und auf der anderen Seite die Wahrung der Privatsphäre, die Verteidigung von Grundrechten, das Kontrollieren der Kontrolleure, also der Geheimdienste und anderen Sicherheitsorgane. Das passt eigentlich nicht zusammen.
Steiner: Wenn wir uns anschauen, wie die Debatten verlaufen sind zum Datenschutz, dann war ein zentraler Ort der Debatten das Bundesverfassungsgericht. Herr Schaar, in seinem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung sprachen die Karlsruher Richter von der Überwachungs-Gesamtrechnung, dass nicht alle Maßnahmen einzeln, sondern auch die Gesamtheit der Überwachungsmaßnahmen zu betrachten wären. Wie sieht für Sie diese Gesamtrechnung heute aus?
Schaar: Die Gesamtrechnung sieht in Deutschland vielleicht etwas anders aus als in anderen Staaten, weil wir das Bundesverfassungsgericht haben, das diese Idee der Überwachungs-Gesamtrechnung ja sich zu eigen gemacht hat. Wenn man einfach die Gesetze betrachtet, die da auf den Prüfstand kamen und kassiert wurden, dann sieht man ja, dass jedenfalls der Gesetzgeber selbst hier in vielen Bereichen auch insgesamt zu weit gegangen ist und dass es ohne Bundesverfassungsgericht auch hier eine ganz schlechte Bilanz geben würde. So – nach den Korrekturen – sieht die Bilanz gar nicht so schlecht aus. Wenn wir uns das aber international anschauen, wo wir eine Institution wie das Bundesverfassungsgericht nicht haben, dann muss ich sagen, dann haben wir eine negative Bilanz. Und hier müssen wir ran. Immerhin zeigt sich ja, dass der Europäische Gerichtshof seine Rolle gerade neu definiert. Es gibt eine ganze Reihe von Urteilen des Europäischen Gerichtshofs, die pro Datenschutz sind, die pro Grundrechte sind. Da geht es nicht nur um Formalia, wie das früher häufig den Eindruck machte, sondern es geht um die Substanz, es geht um die Europäische Grundrechtecharta. Und ich setze darauf, dass jetzt auch bei der Vorratsdatenspeicherung demnächst vom Gerichtshof ein sehr starkes Signal ausgehen wird.
Steiner: Das heißt, Sie rechnen damit, dass noch über das Schlussplädoyer des Generalanwalts hinaus gegangen wird, denn dieser hat ja beantragt letztendes, dass eigentlich die Vorratsdatenspeicherung zwar in der Form, in der sie auf europäischer Ebene eingeführt wurde, unzulässig sei, aber an und für sich nicht unmöglich?
Schaar: Also, ich finde diese Rezeption, die Sie da selber gerade vornehmen, nicht angemessen. Ich finde, der entscheidende Punkt ist doch, dass der Generalanwalt gesagt hat: Diese Richtlinie, so wie sie da steht, ist mit der Europäischen Grundrechtecharta nicht vereinbar. Das ist doch erst mal eine ganz wichtige Aussage! Das war ja überhaupt nicht sicher, dass es in die Richtung geht. Und noch haben wir ja auch nicht das Urteil des Europäischen Gerichtshofs. Und zweitens denke ich, man kann daraus nicht herleiten, dass sozusagen es überhaupt gar keine Art von Vorratsdatenspeicherung geben kann – das hat im Übrigen das Bundesverfassungsgericht auch gesagt –, sondern, dass, wenn man solche Grundrechtseinschränkungen will, sie sich auf das erforderliche Mindestmaß beschränken müssen. Und dass sie sehr gut begründet und die entsprechenden Maßnahmen entsprechend abgesichert sein müssen. Ich finde, das ist schon sehr viel. Und wenn der EuGH in diese Richtung entscheidet, dann wäre das ein Riesenschritt nach vorne. Wenn er darüber hinausgeht, wäre es noch besser – das ist richtig. Aber das ist jetzt eine Frage, wo wir nichts tun können, wo wir im Grunde nur abwarten und hoffen können.
Steiner: Die Bundesregierung, die entstehende neue – nennen wir sie so – hatte angekündigt, dass die Wiedereinführung der Vorratsdatenspeicherung eine ihrer ersten Maßnahmen sein soll. Sehen Sie das als überhaupt noch möglich an, im Lichte eben dieser zu erwartenden Entscheidung?
Schaar: Bei Vorratsdatenspeicherung sollte das EuGH-Urteil abgewartet werden
Schaar: Also, wenn man jetzt, nach dem Plädoyer des Generalanwalts, hier die bestehende Richtlinie, die vom Generalanwalt für europarechtswidrig gehalten wird, eins zu eins umsetzen würde, dann wäre das schon sehr risikoreich. Es wäre aber auch grenzwertig und würde nicht unbedingt dafür sprechen, dass man hier mit der gebotenen Ernsthaftigkeit an diese Frage herangeht. Aber ich rechne auch nicht damit, dass die Bundesregierung jetzt an dem im Koalitionsvertrag vorgegebenen Weg festhalten wird. Es gibt ja Äußerungen, aus den Bereichen beider Koalitionspartner, die sagen: Also, da müssen wir wohl die Entscheidung des EuGH abwarten. Ich finde, das wäre auch sehr weise.
Steiner: Wenn die Vorratsdatenspeicherung auf europäischer Ebene neu geregelt wird, dann dürfte das ja frühestens der Fall sein nach der Europaparlamentswahl im Mai 2014. Das heißt, aller Voraussicht nach allerfrühestens würde sie neu geregelt werden Ende 2014. Was wäre denn dann zu erwarten?
Schaar: Also erst mal müssen wir ja abwarten, was der Europäische Gerichtshof entscheidet und wie. Und wenn er so entscheidet, wie der Generalanwalt vorgeschlagen hat, dann muss von vorne begonnen werden. Da muss ausgewertet werden, was ist da eigentlich gesehen? Wie ist denn die Vorratsdatenspeicherung implementiert worden in den Mitgliedsstaaten? Und das muss dann kritisch noch einmal gewogen werden. Ist es denn wirklich so, dass die Kriminalität, dass Terrorismus und so weiter in Griechenland, in Großbritannien, in Irland so viel effektiver bekämpft werden konnten als in Deutschland in den letzen drei Jahren? Also dieser Nachweis muss doch dann geführt werden, ehe man zu einer solchen Neufassung einer Richtlinie kommt. Das benötigt Zeit. Da sind diejenigen, die für Überwachung sind jetzt in einer Bringschuld, wenn der EuGH so entscheidet. Und das nimmt Zeit in Anspruch. Und diese Zeit sollten wir uns auch nehmen.
Steiner: Herr Schaar, lassen Sie uns auch noch kurz über eben den zweiten Teil Ihrer Funktion sprechen. Sie sind auch Bundesbeauftragter für die Informationsfreiheit. Das ist ein ähnlich sperriges Wort, wie der Datenschutz – gemeint ist im Kern der Zugang oder die Zugänglichmachung von Informationen staatlicher Stellen. Wie transparent sind die öffentlichen Stellen der Bundesrepublik heute? Was funktioniert? Was funktioniert nicht?
Schaar: Also, die öffentlichen Stellen sind in Deutschland heute transparenter als sie das vor zehn Jahren waren. Wir haben ja immerhin ein Informationsfreiheitsgesetz des Bundes. Die meisten Bundesländer haben inzwischen auch Informationsfreiheitsgesetze. Einige hatten die schon vor dem Bund. Das ist eine Entwicklung, die insgesamt positiv ist. Aber wir haben nach wie vor eine ungeheure Zahl von Ausnahmen. Diese Ausnahmen, die überschneiden sich, sind teilweise unklar formuliert – da muss der Gesetzgeber unbedingt ran. Ein Effekt dieser Informationsfreiheitsgesetze von Bund und Ländern ist, dass immer mehr Bürger auch davon Gebrauch machen. Die Statistiken weisen hier doch sehr deutlich steigende Zahlen auf – egal, ob das jetzt den Behördenleitungen passt oder nicht. Das sehe ich erst mal als positiv an, weil da mehr Licht in die Verwaltungsarbeit gebracht worden ist. Aber da muss noch mehr Licht rein, da muss noch mehr Transparenz her. Vor allem, denke ich, kommt es darauf an, dass Informationen nicht erst auf Anfrage gewährt werden, sondern dass die Behörden dieses Informationen aktiv, von sich aus, bekannt geben. Das Internet ist da ja ein wunderbares Medium, aber auch auf anderem Weg könnte man so etwas machen. Diese, man könnte sagen, pro-aktive Informationsarbeit, das ist eine ganz wesentliche Herausforderung, das muss verschränkt werden mit so einem etwas modernen Konzept von Open Data. Leider wird das behördlicherseits total getrennt. Da wird dann gesagt: Open Data, da entscheiden wir selber drüber, was wir da ins Netz stellen und was nicht und wie wir das machen. Da muss es einen Anspruch geben. Und ich finde, das ist auch eine Aufgabe der Informationsfreiheitsbeauftragten, darauf zu achten, dass die Behörden hier auch mit genügender Offenheit handeln. Also meine Nachfolgerin oder mein Nachfolger hat da auch eine ganze Menge an Arbeit vor sich.
Steiner: Wenn denn nun die Große Koalition kommt – was sehr wahrscheinlich ist momentan –, dann hat man dort eine große Koalition, die in der Vergangenheit zumindest, sich häufig nicht besonders datenschutzfreundlich und auch nicht zwangsläufig immer freundlich gegenüber der Informationsfreiheit verhalten hat. Sie haben sich ja auch den Koalitionsvertrag angeschaut. Wenn Sie das so sehen, würden Sie sagen, dass die Herausforderungen in beiden Bereichen bei den Volksparteien angekommen sind?
Schaar: Also ich bin da nicht sicher, ob man pauschal sagen kann: Große Koalitionen machen weniger für Datenschutz und Informationsfreiheit als kleine Koalitionen. Richtig ist, dass im Koalitionsvertrag unter Schwarz-Gelb mehr über Datenschutz drin stand zum Beispiel, als es im aktuellen Koalitionsvertrag steht. Aber wenn man schaut, was dann umgesetzt wurde, dann war das ja auch teilweise bescheiden. Und bei der letzten Großen Koalition haben wir immerhin eine doch ganz beachtliche kleine Datenschutzreform bekommen unter dem damaligen Bundesinnenminister Schäuble. Das hat die Datenschutzbehörden gestärkt und den Datenschutz ein Stück vorangebracht. Also setze ich auch darauf, dass die neue Bundesregierung hier nicht blockiert, sondern dass die Koalition die Zeichen der Zeit erkennt.
Steiner: Herr Schaar, herzlichen Dank.
Schaar: Vielen Dank meinerseits.
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