Russland habe massiv gegen das Gewaltverbot verstoßen, als es vor fünf Monaten die Ukraine angriff, sagt der Völkerrechtler Claus Kreß. Allerdings habe Russland das bereits im Jahr 2014 mit dem Einmarsch auf der Krim getan - denn auch damals sei die territoriale Souveränität der Ukraine verletzt worden.
Darauf hätte vor allem Deutschland entschiedener wirtschaftlich reagieren müssen. "Die Reduktion der Abhängigkeit von russischer Energie wäre auch ein völkerrechtspolitisches Gebot gewesen. So ist das Signal entstanden, dass Deutschland die Pflege seiner eigenen Wirtschaftsinteressen wichtiger ist als die Stärkung der Widerstandskraft des völkerrechtlichen Gewaltverbots", sagt Kreß.
Nun gelte es, das Gewaltverbot zu schützen. Dazu zählten eine Verurteilung innerhalb der Vereinten Nationen, Sanktionen und auch Waffengewalt. Es sei ganz entscheidend, "dass wir nicht in eine Situation kommen, in der Russland einen Diktatfrieden auf Kosten der Ukraine durchsetzen kann, in der es zu Gebietsgewinnen Russlands kommt, in der der Aggressor belohnt wird."
Ansonsten drohe das Gewaltverbot zu "erodieren". Die internationale Ordnung könne zurückfallen in Einflusszonen, in denen schwächere Staaten nicht mehr verlässlich durch das Gewaltverbot geschützt sind.
Das Interview im Wortlaut
Christoph Heinemann: Seit fünf Monaten verteidigen die ukrainischen Streitkräfte ihr Land gegen den russischen Angriff. In Den Haag befasst sich der Internationale Strafgerichtshof mit den Verbrechen, die das Völkerstrafrecht beschreibt. Im Kern: Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression.
Der Kölner Völkerrechtler Professor Claus Kreß beschäftigt sich auch deshalb täglich mit Putins Krieg, weil er den Ankläger beim Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag berät. Professor Kreß, für Laien ist der Überfall auf die Ukraine ein Akt der Aggression. Lawrows jüngste Äußerungen verstärken diesen Eindruck noch einmal. Wie blickt der Völkerrechtler auf Putins Krieg?
Claus Kreß: Da gibt es keinen Unterschied zwischen Laien und Völkerrechtlern. Es handelt sich um einen massiven Verstoß, um eine massive Verletzung des Gewaltverbots, und das ist eine Aggression. Das Gewaltverbot hat der Internationale Gerichtshof als einen Eckstein der Satzung der Vereinten Nationen bezeichnet. Es handelt sich um einen Eckstein der gesamten Völkerrechtsordnung.
"Angriffskrieg gewissermaßen Ursünde Russlands"
Heinemann: Nun erkennt Russland diesen Internationalen Strafgerichtshof nicht an. Was bedeutet das für die Verfolgung von Verbrechen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine?
Kreß: Das bedeutet zunächst einmal ganz praktisch, dass Russland den Internationalen Strafgerichtshof bei seiner Arbeit so lange nicht unterstützen wird, wie Putin und sein Regime im Amt ist. Es ändert aber nichts an der Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs. Der Internationale Strafgerichtshof kann ermitteln, er kann sogar gegebenenfalls internationale Haftbefehle beantragen und erlassen – dies allerdings mit einer wichtigen Einschränkung. Die Zuständigkeit besteht. Sie haben die vier Völkerstraftaten eben genannt im Hinblick auf Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord. Die Zuständigkeit kann gegenwärtig nicht ausgeübt werden im Hinblick auf das Verbrechen der Aggression, den Angriffskrieg, und das ist höchst misslich, denn bei diesem Angriffskrieg handelt es sich gewissermaßen um die Ursünde Russlands.
Heinemann: Wieso kann das nicht verfolgt werden?
Kreß: Eben deshalb, weil sich Russland nicht der Zuständigkeit unterworfen hat, und das Zuständigkeits-Regime für das Verbrechen der Aggression ist aus politischen Gründen enger als dasjenige bei den anderen drei Straftaten.
Heinemann: Professor Kreß, welche Unterstützung von außen (Stichwort Waffenlieferungen) ist durch das Recht auf kollektive Selbstverteidigung gestattet?
Kreß: Das kollektive Selbstverteidigungsrecht gewährt die Befugnis zu mehr Unterstützung als Waffenlieferungen. Ich spreche jetzt strikt rechtlich. Das kollektive Selbstverteidigungsrecht gewährt jedem Staat auf das Ersuchen des angegriffenen Staates (die Ukraine) hin das Recht zur Anwendung von Waffengewalt, und das übrigens auch auf dem Territorium des Aggressors Russlands im Rahmen der Verhältnismäßigkeit.
"Kein völkerrechtliches Verbot für Deutschland, Kriegspartei zu werden"
Heinemann: Nun begründet die Bundesregierung ja ihre Zurückhaltung bei der Lieferung schwerer Waffen, etwa auch von Schützen- oder Kampfpanzern damit, dass sie verhindern möchte, als Kriegspartei in den Krieg hineingezogen werden zu können. Wie ist diese Haltung aus völkerrechtlicher Sicht zu bewerten?
Kreß: Dazu ist erstens zu sagen, dass Deutschland durch die Lieferung von Waffen, welcher Art auch immer, leicht oder schwer, nicht zur Kriegspartei wird. Zum zweiten gilt es aber, einem Missverständnis zu wehren, das gelegentlich durchscheint. Ich habe ja eben gesagt, das kollektive Selbstverteidigungsrecht gewährt jedem Staat, auch Deutschland, auf das Ersuchen der Ukraine hin die Anwendung von eigener Waffengewalt. Das heißt, es besteht kein völkerrechtliches Verbot für Deutschland, Kriegspartei zu werden, und würde Deutschland von seinem kollektiven Selbstverteidigungsrecht in weitergehendem Umfang Gebrauch machen, dann hätte Russland dies rechtlich zu dulden. Würde Russland dann mit Gewalt gegen Deutschland, gegen deutsche Ziele antworten, wäre das ein weiterer völkerrechtswidriger russischer Akt der Aggression. Es ist ganz wichtig zu sagen, diese deutsche Position, nicht Kriegspartei zu werden, sie geht nicht auf eine völkerrechtliche Pflicht zurück; es ist eine politisch begründete Selbstbeschränkung bei der Unterstützung der Ukraine.
"Schon 2014 hätte eine entschiedenere Reaktion folgen müssen"
Heinemann: Herr Kreß, ich hatte eben die Jahreszahl 2014 schon genannt. Welche politische Reaktion der Bundesregierung hätte 2014 auf die Annexion der Krim durch Russland folgen müssen, um die Wirksamkeit des Völkerrechts zu erhöhen?
Kreß: Es ist richtig, dass Sie daran erinnert haben, dass der Verstoß gegen das Gewaltverbot nicht erst am 24. Februar dieses Jahres begonnen hat, sondern schon im Jahre 2014, und darauf hätte auch und insbesondere von deutscher Seite aus eine entschiedenere, eine stärkere Reaktion insbesondere auf dem Feld der wirtschaftlichen Beziehungen folgen müssen. Die Reduktion der Abhängigkeit von russischer Energie wäre auch ein völkerrechtspolitisches Gebot gewesen. So ist das Signal entstanden, dass Deutschland die Pflege seiner eigenen Wirtschaftsinteressen wichtiger ist als die Stärkung der Widerstandskraft des völkerrechtlichen Gewaltverbots.
Heinemann: Wie kann dieses völkerrechtliche Gewaltverbot, was so eine Art Glaubensgrundsatz des Völkerrechts ist, jetzt geschützt werden?
Kreß: Es muss in der Tat bei einem so fulminanten Angriff geschützt werden, denn sonst droht es zu erodieren und wir fallen zurück in eine internationale Ordnung der Einflusszonen, in denen schwächere Staaten nicht mehr verlässlich durch das Gewaltverbot geschützt sind. Insofern ist die sehr deutliche Verurteilung Russlands durch die Generalversammlung sehr wichtig, aber es ist zunächst einmal nur ein verbales Zeichen und es reicht in diesem Fall nicht aus. Die Sanktionen sind sehr, sehr wichtig und im Übrigen ist es ganz entscheidend, dass wir nicht in eine Situation kommen, in der Russland einen Diktatfrieden auf Kosten der Ukraine durchsetzen kann, in der es zu Gebietsgewinnen Russlands kommt, in der der Aggressor belohnt wird. Insofern ist die Verteidigung der Ukraine durch die eigenen Soldaten, aber auch die militärische Unterstützung der Ukraine mittelbar auch ein Beitrag zur Stärkung des völkerrechtlichen Gewaltverbots. Es wäre die stärkste Bekräftigung dieses Gewaltverbots, wenn es zu einem Strafverfahren käme wegen des Verbrechens der Aggression, wegen dieser eben genannten Ursünde. Denken Sie an den Nürnberger Prozess nach dem Zweiten Weltkrieg. Da ging es im Kern um die Bekräftigung des Kriegsverbots. Deshalb ist es so misslich, dass dem Ankläger an dieser Stelle derzeit die Hände gebunden sind.
Geschlossenheit bei Sanktionen ein "Hoffnungszeichen"
Heinemann: Herr Kreß, in der Politik hat Russlands Überfall, wenn wir etwa auf die NATO blicken, eine Zeitenwende und eine neue Geschlossenheit bewirkt. Gilt das auch für den Stellenwert des Völkerrechts?
Kreß: Die Geschlossenheit der liberalen Staaten bei der Bekräftigung, bei der Stärkung des Völkerrechts ist jetzt ganz entscheidend. Denken Sie daran, dass wichtige Staaten wie China, aber auch Indien die Situation sehr genau beobachten, ohne bisher Russland deutlich und entschieden entgegengetreten zu sein. Von daher ist es ein Hoffnungszeichen, dass jetzt zunächst einmal mit Blick auf die Ukraine bei den Sanktionen, aber auch bei der militärischen Unterstützung im Augenblick Geschlossenheit vorherrscht. Die gilt es durchzuhalten, und was die deutsche Seite anbetrifft nicht nur in Worten, sondern auch in Taten. Aber darüber hinaus ist es wichtig, dass sich diese Geschlossenheit auch jenseits der Ukraine zeigt. Die Vereinigten Staaten unterstützen derzeit die Arbeit des Internationalen Strafgerichtshofs, aber es ist wichtig, dass sie es auch tun, jenseits der Ukraine, wo sie nun mit unmittelbaren eigenen Interessen betroffen sind. Was den eben schon angesprochenen Punkt der Aggression anbetrifft: Der Umstand, dass die Zuständigkeit des Internationalen Strafgerichtshofs begrenzt ist, liegt nicht etwa nur an Russland, sondern geht auch auf die Politik der Vereinigten Staaten, Englands und Frankreichs zurück. Das ist keine überzeugende Position, wenn man bedenkt, dass es beim Verbrechen der Aggression ja gerade darum geht, das völkerrechtliche Gewaltverbot zu schützen. Die deutsche Außenpolitik ist hier nach meiner Überzeugung auch gefordert, etwas zu tun.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.