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EKD-Ratsvorsitzende Kurschus
"Ostern ist Widerstand und Widerspruch"

Gerade in diesem Jahr sollte Ostern gefeiert werden, sagte die EKD-Ratsvorsitzende Annette Kurschus im Dlf. Denn Ostern sei ein Fest des Widerstands mitten im Elend. Waffenlieferungen an die Ukraine seien nötig - aber Gespräche auch.

Annette Kurschus im Gespräch mit Andreas Main | 09.04.2023
Präses Annette Kurschus, Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland, predigt beim festlichen Gottesdienst zu Neujahr in der Dresdner Frauenkirche.
Fragen um Krieg und Frieden treiben sie um: Annette Kurschus ist seit 2021 Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (picture alliance / dpa / Matthias Rietschel)
Die Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD), Annette Kurschus, hat die Notwendigkeit von Waffenlieferungen an die Ukraine betont. "Dieses Volk muss seine Würde und Freiheit verteidigen können", sagte Kurschus im Deutschlandfunk. Zugleich sei auch wahr: "Waffen allein werden nicht zum Frieden führen."
Zu einem echten Frieden, der mehr sei als das Schweigen von Waffen, gehörten Gespräche, sagte Kurschus. "Die sind im Moment sehr erschwert, auf oberster Ebene erst recht. Niemand kann jetzt gerade mit Putin verhandeln. Dennoch dürfen wir als Christen zu keiner Zeit sagen, es kann keine Gespräche geben, es ist jetzt kein Aufeinanderzugehen möglich."

Kritik an Schwarz-Weiß-Denken

Zum gesellschaftlichen Klima sagte Kurschus: "Wir erleben ja gegenwärtig, dass der Toleranzpegel immer mehr sinkt, dass Menschen, die anderer Meinung sind, sofort niedergemacht werden und nicht nur das, sondern mit Hass und Drohungen versehen werden." Sie nehme eine Tendenz wahr, die Welt in Schwarz und Weiß und Richtig und Falsch einzuteilen – "meistens liegt die Wahrheit in vielen Graufeldern dazwischen".
Zur aktuellen politischen Debatte über bessere staatliche Sozialleistungen zur Bekämpfung von Armut gerade bei Kindern, sagte Kurschus, sie halte es für sehr wichtig, "dass wir zu einer Art Kindergrundsicherung kommen, die diese Bezeichnung auch wirklich verdient". Man wisse, was es bedeute, wenn Kinder in Armut aufwachsen und "von vielen Prozessen in unserer Gesellschaft ausgeschlossen sind". Das wirke sich auf den Bildungsweg aus und den gesamten Lebensweg. Kurschus: "Dem können wir nicht tatenlos zusehen. Da sollten wir kirchlicherseits Treiber sein."

Das Interview im Wortlaut:

Andreas Main: Frau Kurschus, vor ziemlich genau einem Monat haben Sie die jüngsten Kirchenaustrittszahlen veröffentlicht. Demnach haben im vergangenen Jahr rund 380.000 Mitglieder ihren Austritt erklärt. Sie haben die neuen Zahlen als bedrückend bezeichnet. Wie haben Sie den ersten Schock überwunden?
Anette Kurschus: Die Austritte, die nehmen wir tatsächlich sehr ernst. Sie beschäftigen uns. Zugleich muss ich sagen, dass sie nie in der Weise in meinem Fokus sind, dass sie mich völlig lähmen und dass sie mich an Kirche zweifeln oder gar verzweifeln lassen. Ja, wir wollen das nicht schönreden, und zugleich ist uns bewusst, wir werden diesen Trend, der ein deutlicher Trend ist, überhaupt nicht umkehren können. Das kann auch in dieser Situation nicht unser Ziel sein. Ich beschäftige mich jetzt mit der Frage, wie wir die Botschaft, die diese Welt selten so nötig gebraucht hat wie jetzt und die eigentlich immer wichtiger wird für unsere Gesellschaft, wie wir die dennoch oder jetzt gerade zum Leuchten bringen können, eine Botschaft des Lebens, eine Botschaft der Hoffnung, von der ich selber lebe und die ich unter die Menschen bringen möchte.

"Vertraute Strukturen und Ordnungen tragen zum Teil nicht mehr"

Main: Bleiben wir noch etwas bei der Ursachenforschung. Bei der katholischen Kirche werden Austritte ja immer im Zusammenhang mit der Ungeheuerlichkeit des sexuellen Missbrauchs in Verbindung gebracht. Auch wenn es den bei Ihnen auch gibt, was ja niemand zu verheimlichen versucht, stehen Sie längst nicht so schwer unter Beschuss. Wieso dann diese hohen Zahlen?
Kurschus: Die Ursachen sind sehr vielfältig. Wir untersuchen das sehr genau. Verschiedene Studien haben wir in Auftrag gegeben, die das erforschen. Die Menschen geben unterschiedlichste Gründe an. Bei manchen sind es finanzielle Gründe, bei anderen wiederum ist es eine Art von Vertrauensverlust. Bei wieder anderen ist es eher eine Gleichgültigkeit. Wieder andere stören sich an unseren politischen Aussagen und haben den Eindruck, wir positionieren uns da nicht angemessen. Also eine Vielfalt von Gründen. Insofern hilft es nicht viel weiter, sich da an einzelnen aufzuhängen.
Wir brauchen eine Kirche, die in der Lage ist, Menschen unter Menschen zu sein, deren Lebensgewohnheiten und deren Lebensstil sich sehr stark verändert. Und das hat zur Folge, dass wir Kirche ebenfalls verändern. Da sind wir gerade kräftig dabei. Die vertrauten Strukturen und Ordnungen tragen zum Teil nicht mehr, neue treten an ihre Stelle, und ich bin da ganz zuversichtlich, dass wir gute Wege finden, weiterhin starke Kirche in unserer Gesellschaft zu sein.

"Eine Welt ohne Kreuz ist eine gnadenlose Welt"

Main: Dieses Gespräch ist zu hören am Ostersonntag. Ich erinnere: Kein Ostern ohne Kreuz. Karfreitag und Osterjubel lassen sich nicht trennen. Eine Welt ohne Kreuz, wie sieht die aus?
Kurschus: Eine Welt ohne Kreuz ist eine gnadenlose Welt, eine Welt, die sich nicht um die Opfer schert. Das Kreuz erinnert ja an ein Gewaltopfer, an die Möglichkeit, dass man mit Gesetzen tödliches Unrecht verüben kann. Das Kreuz erinnert an den Triumph einer Macht, die keine Wahrheit kennt und die ihre Hände in Unschuld wäscht. Eine Welt ohne Kreuz ist eine erfolgsgeile Gesellschaft, jedenfalls auf Erfolg fixiert, eine Gesellschaft, die allein nach Effizienz schielt, nach Selbstoptimierung, und die nach dem Motto funktioniert, jeder ist seines Glückes Schmied.
Eine Welt ohne Kreuz ist eine Welt, die kein Erbarmen kennt, keine Vergebung. Davon merken wir gerade vieles in manchen Pfaden der sozialen Medien. Da wird nichts vergessen, da wird nichts vergeben. Da gibt es kein Erbarmen. In einer Welt ohne Kreuz, da gilt das Recht des Stärkeren. Das Kreuz ist ja Gott sei Dank ein für alle Male in der Welt, ebenso wie die Botschaft von der Auferstehung. Ohne diese Zusage wäre die Welt tatsächlich ohne Hoffnung. Und dass es das Kreuz gibt, macht die Botschaft von Ostern so stark. Sie ist nicht einfach eine Glücksbotschaft, die alles rosarot redet, sondern sie geht mitten durch Leid und Tod und Zerstörung hindurch. Dafür steht das Kreuz.

Die "Pilatusse" unserer Zeit

Main: Sie haben angespielt auf Pilatus, wenn Sie von den Händen sprachen, die jemand in Unschuld wäscht. In Ihrer Karfreitagsbotschaft heißt es wortwörtlich: „Im Mittelpunkt unseres christlichen Glaubens steht ein Mensch, der unter Pilatus gefoltert und hingerichtet wird.“ Und weiter, jede Zeit habe ihren Pilatus, manchmal auch mehrere. Welchen Pilatus haben wir?
Kurschus: Unterschiedliche. Das sind die Menschen, die an der Macht sind und die immer wieder auch nicht zu ihrer Macht und dem, was sie mit ihrer Macht anrichten, stehen, die die Verantwortung an andere abgeben, sei es an Gott, sei es an Notwendigkeiten, sei es an ihre imperialistischen Gelüste, und diese Pilatusse, die gibt es zurzeit an vielen Stellen dieser Welt. Wir sind sicher alle immer aufgerufen zu gucken, dass wir diesen Leuten nicht zu viel Macht geben oder dass wir am Ende nicht selbst zu solchen Pilatussen werden, die ihre Macht in den Dienst tödlicher Mächte stellen.
Main: Welche Haltung gegenüber diesem und jenem Pilatus und auch dem Pilatus in uns legt der Karfreitag nahe?
Kurschus: Zunächst mal ist es wichtig, diese Macht nicht zu tabuisieren. Wir haben in der Kirche ja oftmals ein etwas schwieriges Verhältnis zur Macht. Über Macht reden wir nicht gerne. Die Passionsgeschichte der Bibel ist durchzogen von Gewalt und Macht und kriegerischen Handlungen, und sie zwingt uns, uns damit auseinanderzusetzen, und sie zwingt uns, auch unseren eigenen Platz in dieser Geschichte immer wieder einzunehmen. Wir sind da nie in einer Zuschauerhaltung. Und die Passionsgeschichte und eben auch das Kreuz wissen darum, wie wir in diesem ganzen Geflecht von Macht und Gewalt und Tod standhalten und bestehen, und vor allem weiß sie darum, dass das Kreuz, also der Tod, nicht das Ende ist. Das gibt mir Kraft in unserer von zerstörerischen Mächten bedrohten Welt.

Was Kurschus in Kiew und Moskau predigen würde

Main: Christen in den Westkirchen feiern an diesem Ostersonntag ihr Osterfest. In den orthodoxen Kirchen - auch in denen, um die es jetzt gehen wird - ist Ostern in einer Woche. Frau Kurschus, auch wenn es keine Bischöfinnen in orthodoxen Kirchen gibt, wie würden Sie eine Osterpredigt angehen, wenn Sie in Kiew orthodoxe Bischöfin wären?
Kurschus: Ich würde ernst machen mit dem, was für mich den tiefsten Kern der Osterbotschaft ausmacht, nämlich dass Ostern gegen jeden Augenschein und gegen alle menschliche Vernunft und gegen alles menschlich Vorstellbare wird, dass wir Ostern nicht herbei feiern können, dass wir Ostern nicht machen müssen und auch nicht machen können, dass Ostern keine Folklore ist, die für eine Weile mal die Welt in ein etwas glimpflicheres Licht taucht. Sondern: Ostern ist Widerstand und Widerspruch. Ostern stellt sich gegen den Tod, der allgegenwärtig ist. Und Ostern bedeutet den festen Glauben, dass das Kreuz nicht die Endstation ist. Das ist schwer vorstellbar. Manche sagen, in dieser Situation können wir doch gar nicht Ostern feiern und in der Ukraine erst recht nicht. Doch, gerade jetzt ist Ostern dran, weil es ein Fest des Widerstands mitten im Tod und mitten im Elend ist.
Main: Und in Moskau, würden Sie da genauso predigen oder anders?
Kurschus: In Moskau würde ich mich an die Seite der Menschen stellen, die sich als Protestleute gegen den Tod verstehen. Ich würde klar Ostern als Fest des Lebens benennen, als Fest, das deutlich macht, Gott steht an der Seite derer, die sich für das Leben einsetzen, und er überwindet alle Kräfte, die über Leichen gehen und die an den eigenen Machtgelüsten ihre Taten ausrichten. Diese Osterbotschaft wäre eine, die sicher noch mal stärker in Verantwortung nimmt und die deutlich macht, wenn wir Jesus Christus nachfolgen, dann werden wir zu Protestleuten gegen den Tod, und dann hat das Auswirkungen auf unser Handeln in dieser Welt.
Main: Sie haben ja auch in Ihrer Kirche hier in Deutschland eine ausgesprochen rege Debatte. Hier die Friedensethiker, die eher gesinnungsethisch Waffenlieferungen an die Ukraine verurteilen und dort die Verantwortungsethiker – sehr schwarz-weiß, wie ich das jetzt zeichne –, die sagen: ‚Wenn es nicht anders geht, wir können einem Angegriffenen nicht die Hilfe verweigern’. Sie haben sich immer wieder geäußert zu diesen Fragen. Jetzt, im Frühjahr 2023, was ist aus Ihrer Sicht als Theologin ethisch geboten in puncto Russland und Ukraine?
Kurschus: Wir lernen immer deutlicher, dass es hier mit einem ‚Entweder-oder‘, mit einem ‚Richtig‘ oder ‚Falsch‘ und mit einem ‚So muss es sein‘ und ‚So darf es nicht gehen‘, nicht getan ist. Die Situation ändert sich beständig. Es wird an manchen Stellen immer aussichtsloser. Es wird aber auch immer klarer, dass bei aller Notwendigkeit von Waffenlieferungen … ich sage, dass diese Waffenlieferungen hoffentlich wirklich die Not wenden können, dass ein Volk in seiner Identität bedroht ist und dass es einem ganzen Volk an den Kragen geht, bis dahin, dass es von der Landkarte verschwinden soll. Dieses Volk muss seine Würde und Freiheit verteidigen können.
Das ist das eine - und zugleich ist auch das andere wahr: Waffen allein werden nicht zum Frieden führen. Das lernen wir von Jesus, das lehrt uns aber auch die Erfahrung. Zu einem echten Frieden, der ja mehr ist als das Schweigen von Waffen, gehören Gespräche, gehören menschliche Begegnungen. Die sind im Moment sehr erschwert, auf oberster Ebene erst recht. Niemand kann jetzt gerade mit Putin verhandeln. Dennoch dürfen wir als Christen zu keiner Zeit sagen, es kann keine Gespräche geben, es ist jetzt kein Aufeinanderzugehen möglich. Ich weigere mich, die Hoffnung aufzugeben, dass es in jedem Augenblick Menschen geben kann, die einander begegnen und wo die Begegnung Kreise zieht und den Weg hin zu einem Waffenstillstand zunächst und dann zu echten Friedensverhandlungen bahnt. Also, Verhandlungen müssen herbeiverhandelt werden. Ich mache da nicht mit, dass jeder Ruf nach Verhandlungen als naiv, als unmöglich verurteilt wird. Das kann unser Sound nicht sein. Im Moment brauchen wir tatsächlich aus meiner Sicht beides: Eine starke Möglichkeit, sich zu verteidigen und jederzeit das Bemühen, ins Gespräch zu kommen und die Waffen zum Schweigen zu bringen.

"Niemand sollte in die Vereinzelung gehen"

Main: Sie neigen ja nicht zur Panikmache oder zu düsteren Visionen, dennoch ist es ja nicht komplett ausgeschlossen, dass dieser Krieg sich sogar ausweitet. Was tun Sie für sich in Sachen Resilienz? Oder anders, was empfehlen Sie denen, die nicht irre werden wollen an dieser unsäglichen Situation?
Kurschus: Unbedingt im Gespräch bleiben. Dafür bieten wir kirchlicherseits Räume. Das halt ich für sehr wichtig, dass wir über unsere Befürchtungen und Sorgen und Ängste im Gespräch bleiben, dass wir auch darüber im Gespräch bleiben, wie zerrissen wir manchmal sind, im Blick auf das, was Waffenlieferungen betrifft und die Aussichtslosigkeit, die es im Blick auf Gespräche zu geben scheint. Wir brauchen die Gemeinschaft. Das halte ich in dieser Situation für besonders wichtig. Niemand sollte in die Vereinzelung gehen und sich seinen Ängsten hingeben. Wir brauchen es dringend, dass wir einander zuhören. Ich finde wichtig, dass wir unterschiedliche Positionierungen in unserer Kirche haben, auch in dieser Friedensfrage, weil diese Unterschiedlichkeit uns daran hindert, unserer eigenen Position zu sicher zu sein.
Alle die, die in dieser Lage sehr genau wissen, was richtig oder falsch ist, sind mir verdächtig. Auch ich werde mir selbst verdächtig, wenn ich zu laut sage, das ist richtig oder das ist falsch. Ich kann das in dieser Situation nicht. Und ich vertraue – und das ist wirklich meine Kraftquelle –, ich vertraue das auch beständig Gott an, ich lege es ihm vor die Füße, ich haue es ihm auch um die Ohren, ehrlich gesagt, was ich nicht verstehen kann. Ich liege Gott täglich in den Ohren mit diesen Fragen um Krieg und Frieden. Ich bitte ihn, das Herz der Kriegstreiber zu wenden. Und dass ich all das, was mir so schwer ist, Gott ans Herz legen kann, das hilft mir, das ist für mich eine Quelle auch von innerer Stärke und Resilienz.
Main: Es ist so, dass Sie Räume schaffen als Kirche fürs Gespräch, für Begegnung. Dennoch die Frage, haben Sie als Evangelische Kirche versagt, wenn man sich anschaut, wie die psychiatrischen Praxen überquellen und wie sehr verunsichert die Menschen sind?
Kurschus: Wir haben kirchlicherseits ja nicht die Aufgabe, Menschen vor Verzweiflung und vor Ängsten zu beschützen. Wir eröffnen Räume, in denen Menschen mit ihrer Verzweiflung sich an Gott wenden können, auch an Menschen, die mit ihnen gemeinsam die Hände zu Gott im Himmel aufheben. Die Dienste von Therapeuten und PsychiaterInnen sind für mich überhaupt kein Gegenangebot oder Alternativangebot zur Seelsorge, beides geht Hand in Hand. Da, wo Psychiater mit ihren wichtigen Kompetenzen tätig werden, da bedeutet das nicht ein Versagen von Kirche, sondern da können wir nur froh sein, dass es diese Menschen gibt, an die sich Leute wenden können, die mit sich selber nicht mehr klarkommen.
Main: Aber vieles an Verunsicherung, was gesellschaftlich so manifest ist, resultiert ja, glaube ich, auch daraus, dass viele der realen Bedrohungen wie Pandemie, Klimaveränderungen im Modus der Panikmache besprochen wurden und werden. Ich frage mich, ob die Kirchen da immer genug entgegengesetzt haben?
Kurschus: Kirchen waren immer da. Kirchen haben ihre eigenen Zeichen gesetzt. Sie haben sicher nicht immer alle Erwartungen erfüllt, die es in unserer Gesellschaft an sie gab. Wir haben immer aus gut verantwortbaren Gründen gehandelt, etwa in der Zeit der Pandemie, in der Anfangszeit, als wir überhaupt noch nicht wussten, damit umzugehen – in der das übrigens keiner wusste. Wir haben auch im besten Wissen und Gewissen gehandelt, indem wir Gottesdienste ins Internet verlegt haben. Wir haben uns ja nie von den Menschen zurückgezogen, wir haben andere Wege gesucht, da zu sein. Wir versuchen jetzt in der Friedensfrage immer offen zu legen, wie wir um Positionen ringen. Wir versuchen Menschen mitzunehmen. Ich würde diesem Vorwurf entgegenhalten, dass ich das nie so empfunden habe, dass wir uns als Kirche zurückziehen oder versagen oder unsere Arbeit nicht machen.

"Klimafrage ist eine Frage von Gerechtigkeit"

Main: Darüber hinaus, worin sehen Sie neben den schon besprochenen Themen, die verunsichern, zentrale Herausforderungen für Politik und Gesellschaft in diesem Frühjahr 2023?
Kurschus: Zunächst müssen wir in unserer Gesellschaft – und da sehe ich kirchliche Aufgaben tatsächlich – lernen, mit Achtung und Respekt miteinander umzugehen. Vor allen Dingen auch in den Situationen, wo wir unterschiedlicher Meinung sind. Wir erleben ja gegenwärtig, dass der Toleranzpegel immer mehr sinkt, dass Menschen, die anderer Meinung sind, sofort niedergemacht werden und nicht nur das, sondern mit Hass und Drohungen versehen werden. Das ist eine Entwicklung, bei der wir kirchlicherseits nicht mitmachen können und auch nicht wollen und auch nicht werden. Ich nehme eine Tendenz wahr, die Welt in Schwarz und Weiß und Richtig und Falsch einzuteilen – meistens liegt die Wahrheit in vielen Graufeldern dazwischen.
Es gibt zwischen Richtig und Falsch ganz viel anderes - auch zwischen Schwarz und Weiß. Also, differenziert in die Welt zu gucken und vor allen Dingen damit zu rechnen, dass wir jederzeit lernen, das halte ich für eine ganz wichtige Botschaft, die wir in die Welt zu tragen haben. Ansonsten sind die Fragen um das Klima zentrale Fragen für uns, kirchlicherseits. Und zwar nicht nur im Blick auf die Bewahrung der Schöpfung. Das ist ganz wichtig, dass wir den Lebensraum, der uns anvertraut ist, schützen. Gleichzeitig ist die Klimafrage eine Frage von Gerechtigkeit und zwar von Gerechtigkeit zwischen den Generationen, von globaler Gerechtigkeit. Und aus meiner Sicht steht dabei auch die Freiheit künftiger Generationen auf dem Spiel. Also, wenn man das mal so durchdenkt und sich vorstellt, künftig sind wir fast nur noch mit Flutkatastrophen oder Dürrekatastrophen oder anderen Naturphänomenen beschäftigt, wo sollen dann noch Demokratien sich entfalten, wo wollen noch freiheitliche Demokratien überhaupt gepflegt werden? Das macht mir schon Sorge. Insofern ist die Klimafrage tatsächlich eine eminent wichtige. Ebenso macht mir zu schaffen – und auch das halte ich für ein wichtiges kirchliches Thema – die Frage von Armut. Kinderarmut ist ein gravierendes Problem in unserer Gesellschaft.
Main: Was könnte an dem Punkt die Bundesregierung anders und besser machen?
Kurschus: Na ja, im Blick auf die Kinderarmut halte ich es tatsächlich für sehr wichtig, dass wir zu einer Art Kindergrundsicherung kommen, die diese Bezeichnung auch wirklich verdient. Wir wissen, was das bedeutet, wenn Kinder in Armut aufwachsen und von vielen Prozessen in unserer Gesellschaft ausgeschlossen sind. Das wirkt sich auf den gesamten Bildungsweg aus, damit auch auf den gesamten Lebensweg und endet oft in Altersarmut. Dem können wir nicht tatenlos zusehen. Da sollten wir kirchlicherseits Treiber sein.

"Kirchlicherseits keine Politik machen"

Main: Haben Sie den Eindruck, dass Sie als Evangelische Kirche gehört werden in der Bundesregierung, die gerade amtiert?
Kurschus: Den Eindruck habe ich in der Tat. Es gibt regelmäßige Gespräche mit den unterschiedlichen Regierungsparteien. Es gibt Gespräche zwischen einzelnen Personen. Ich rede mit dem Bundeskanzler. Ich rede mit anderen Parteivorsitzenden. Also, da gibt es regen Kontakt. Wir hören aufeinander. Wir sind sicher nicht so aufgestellt, dass wir nun immer gleich das befolgen, was der andere zu sagen hat, aber wir nehmen einander ernst. Und das halte ich für wichtig. Wir haben ja kirchlicherseits keine Politik zu machen, aber wir haben schon unser Wort zu sagen in einer Welt, in der vieles im Argen liegt und die die Welt Gottes ist, die auf das Leben zugeht und nicht dem Verderben preisgegeben ist. Wer das glaubt, dem kann ja nicht egal sein, wie sich die Prozesse in dieser Welt entwickeln.
Main: Abschließend, falls wir uns Ostern 2024 wieder sprechen würden, welches der heute besprochenen Themen möchten Sie dann nicht mehr besprechen? Was sollte sich dann, bitte schön, erledigt haben?
Kurschus: Ich hoffe, dass es dann die Gespräche, um die wir jetzt so ringen, im Bereich von Ukraine und Russland geben wird, dass wir da ein ganzes Stück weiter sind - vor allen Dingen im Blick auf Freiheit und Würde der Ukrainerinnen und der Ukrainer. Ich gehe davon aus, dass wir auch im Bereich des Klimaschutzes wichtige Schritte getan haben – da tut sich zurzeit einiges. Ja, ich freue mich, dass wir dann einige Schritte gegangen sein werden.
Main: Sie haben den Satz eingeleitet mit der Formulierung, Sie hoffen, also „ich hoffe“ – was unterscheidet christliche Hoffnung von den vielen Hoffnungen, die wir haben oder uns machen?
Kurschus: Christliche Hoffnung macht sich an etwas fest, was nicht in unseren menschlichen Möglichkeiten steht. Und damit ist diese Hoffnung nicht begrenzt durch die Grenzen, an die wir ständig geraten. Das macht diese Hoffnung ungreifbar, aber auf eine heilsame Weise ungreifbar.
Main: Unverfügbar.
Kurschus: Weil sie nicht von uns gemacht werden kann. Das Unverfügbare – genau, Sie nennen das Stichwort –, von Hartmut Rosa in die Welt gebracht und prominent gemacht. Wir haben es ja in den vergangenen Jahren gelernt, wie viel uns als Gesellschaft, die immer dachte, sie beherrscht so vieles und sie kann so vieles, wie viel uns doch unverfügbar bleibt. Ein kleines Virus hat alles durcheinandergebracht, hat sämtliche Planungen für Jahre zum Erliegen gebracht. Da haben wir eine gewaltige Lektion über das Unverfügbare gelernt und haben gemerkt, wie wichtig das ist, dass wir unsere Hoffnung nicht an dem festmachen, was wir selbst erreichen können. Wir machen unsere Hoffnungen an dem fest, der diese Welt in seinen Händen hält und der verheißen hat, diese Welt geht auf das Leben zu und nicht auf das Verderben. Da macht sich meine Hoffnung fest und daraus schöpfe ich Kraft für das, was jetzt zu tun und zu sagen und hier und da auch zu lassen ist.
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