Werchojansk, 115 Kilometer nördlich des Polarkreises, ist bekannt als kälteste Stadt der Welt. Temperaturen von mehr als 60 Grad unter Null sind dort keine Seltenheit. Doch nun geriet die Kleinstadt in Sibirien wegen ihres Hitzerekordes in die Schlagzeilen: So heiß wie am 20. Juni 2021 – es waren 38 Grad Celsius – war es noch nie in diesen Breitengraden. Wie die Weltorganisation für Meteorologie bekannt gab, ist es die höchste jemals über dem Polarkreis gemessene Temperatur. Gemessen wird seit 1885.
Der Trend der Extreme hat sich auch in diesem Jahr fortgesetzt. Erstmals seit Beginn der Aufzeichnungen hat es am höchsten Punkt des grönländischen Eisschildes geregnet und nicht geschneit.
Arktis-Forscher berichtet von verheerenden Auswirkung der Erderwärmung
Seit über 40 Jahren fährt das deutsche Eisbrecher-Forschungsschiff Polarstern durch die Polarregionen der Erde. Es ist das Flaggschiff des Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meersforschung des Alfred-Wegener-Instituts. Markus Rex untersucht mit seinem Team die Auswirkungen des Klimawandels auf das arktische Ökosystem. Seiner Meinung nach wird dieser Hitzerekord nicht der letzte gewesen sein.
Auf seiner Arktismission habe er beobachtet, wie die Erwärmung der Arktis sich schon ausgewirkt hat. "Wir haben da gesehen, dass im Frühjahr 2020, als wir unterwegs waren, sich das Eis schneller als jemals zuvor in der Arktis zurückgezogen hat und dann im Herbst 2020 auch später wieder zurückgebildet hat als jemals zuvor. Wenn das so weitergeht, wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, dann wird die Arktis tatsächlich in wenigen Jahrzehnten im Sommer komplett eisfrei werden. Das wäre eine komplett andere Welt."
Eine Erwärmung der Arktis habe immer auch Auswirkungen auf den Rest der Welt, wie man an den Extremwetterereignissen in Deutschland, im Ahrtal, oder auch in Kanada gesehen habe.
Das Interview im Wortlaut:
Britta Fecke: Sind diese hohen Temperaturen nördlich des Polarkreises nur Extreme eines Sommers oder bestätigen sie einen Trend?
Markus Rex: Ja, ich denke, das wird nicht die letzte Nachricht eines neuen Temperaturrekords aus der Arktis sein, die wir hören, denn die Arktis erwärmt sich ja wirklich dramatisch. Sie erwärmt sich viel schneller als der Rest der Welt. Wir haben es da mit einer Erwärmung etwa zwei- bis dreimal schneller als im Rest der Welt zu tun.
Und natürlich sind die Rekordtemperaturen, die dann erreicht werden in den dazu noch auftretenden Extremwetterlagen, dann nur das Symptom, das Anzeichen dieser generellen Erwärmung. Die Arktis wird insgesamt wärmer, und damit werden natürlich auch die Hitzerekorde immer mal wieder neu geknackt.
Arktis erwärmt sich bis zu dreimal schneller als Rest der Welt
Fecke: Seit 1971 – Sie sagten es ja schon – erwärmt sich die Region dreimal schneller. Welche Mechanismen wirken da zusammen, dass es da zu dieser Beschleunigung gekommen ist?
Rex: Es gibt in der Arktis tatsächlich eine ganze Reihe von verstärkenden Effekten, warum der Klimawandel dort viel stärker ist als im Rest der Welt. Einige, viele von denen kann man nicht so gut erklären, einige andere sind allerdings gut zu verstehen. Das sind nicht unbedingt die wichtigsten. Aber einer, der sich sehr einfach erklären lässt, ist das, was wir den Ice Albedo Feedback nennen.
Denn wenn sich die Arktis erwärmt, dann schmilzt ja mehr Eis. Wenn das Eis verschwindet, kommt dadrunter eine entweder dunkle Ozeanoberfläche oder auf dem Land, wenn der Schnee schmilzt, eine dunkle Landoberfläche zum Vorschein, und die kann sich im Sommer, wenn die Sonne auf die Oberfläche brennt, viel stärker erwärmen als die vormals weiße Eis- oder Schneeoberfläche, und das trägt natürlich zu einer Erwärmung bei. Ist nicht unbedingt der stärkste Effekt, aber er trägt dazu bei.
Ruß aus Waldbränden oder Schifffahrt trägt zur Erwärmung bei
Fecke: Welche Rolle spielen denn, wenn Sie gerade von der Verdunklung des Eises oder von der Verdunklung der Oberfläche vielmehr gesprochen haben, welche Rolle spielen denn dann die Brände, die sich auch in Sibirien abgespielt haben, und der Ruß, der in der Luft lag?
Rex: Das ist ein weiterer Beitrag zur Erwärmung. Wenn wir mehr Ruß in der Atmosphäre haben – Ruß absorbiert Sonnenlicht –, dann erwärmt das die Atmosphäre auch noch weiter. Das kommt zum einen aus den vermehrt auftretenden Waldbränden, es kommt aber auch besonders in der Zukunft aus der vermehrten und intensiveren Schifffahrt, den Transportwegen auf dem Ozean durch die Arktis.
Wenn die Arktis im Sommer zunehmend eisfrei wird, dann werden die Handelsschifffahrtsrouten von Asien nach Europa, wo ein Großteil unserer Waren herkommt, zunehmend durch die Arktis führen, und auch die Schiffe setzen dort Ruß frei. Und das trägt natürlich dann auch lokal noch mal zur weiteren Erwärmung bei.
Arktis in wenigen Jahrzehnten im Sommer komplett eisfrei
Fecke: In diesem Jahr ist zum allerersten Mal am höchsten Punkt Grönlands kein Schnee mehr runtergekommen, sondern Regen. Sie waren ja selber im Herbst vor zwei Jahren mit Ihrem Team, mit Ihrem Forschungsschiff und Eisbrecher Polarstern im arktischen Eis, haben sich einfrieren lassen und ein Jahr lang mit dem Eis quer, wie sagt man, über die nördlichen Polkappen schieben lassen. Waren solche Trends schon zu erkennen?
Rex: Ja, wir haben natürlich ganz massiv selber gesehen, wie die Erwärmung der Arktis sich schon ausgewirkt hat. Das Eis war dünn, deswegen auch sehr mobil. Wir sind schneller durch die Arktis gedriftet mit dieser arktischen Eisdecke, als wir das erwartet hätten, eben weil es dünn und mobil geworden ist. Wir haben dann auch im Frühjahr, wenn die große Schmelze einsetzt immer im arktischen Frühjahr, gesehen, wie massiv dieses Schmelzen ist und welch großer Anteil der Niederschläge heutzutage schon als Regen runterkommt.
Das sind natürlich alles Folgen der generellen Erwärmung der Arktis. Wir haben da gesehen, dass im Frühjahr 2020, als wir unterwegs waren, sich das Eis schneller als jemals zuvor in der Arktis zurückgezogen hat und dann im Herbst 2020 auch später wieder zurückgebildet hat als jemals zuvor. Wenn das so weitergeht, wenn diese Entwicklung nicht gestoppt wird, dann wird die Arktis tatsächlich in wenigen Jahrzehnten im Sommer komplett eisfrei werden. Das wäre eine komplett andere Welt.
Fecke: Die Prognosen lauteten ja mal 2050, aber ich glaube, Sie haben sich da schon nach unten korrigiert.
Rex: Das kann sogar schon früher noch auftreten. Wir haben da große Unsicherheiten drin. Es kann auch natürlich dazu kommen, dass wir mal sporadisch in einzelnen Jahren eine quasi eisfreie Arktis im Sommer bekommen und dann im nächsten Jahr wieder etwas mehr Eis im Sommer in der Arktis liegen haben.
Das wird kein Umlegen eines Schalters werden von einer eisbedeckten Arktis zu einer eisfreien Arktis. Aber die Sommer, in denen die Arktis dann weitgehend eisfrei wird, werden immer häufiger werden, und das kann schon in wenigen Jahrzehnten einsetzen und mit Sicherheit auch schon deutlich vor Mitte des Jahrhunderts.
Methanemissionen in Ostsibirien können das Klima global anheizen
Fecke: Das Schmelzen der Kappen ist ja das eine, das andere ist das Schmelzen des Permafrostbodens. Welche Faktoren müssen wir da noch im Blick halten, Stichwort Methanausscheidung, wenn es um die Beschleunigung des Klimawandels geht?
Rex: Ja, diese Nachricht von 38 Grad Celsius jetzt nördlich des Polarkreises in Ostsibirien ist natürlich wirklich alarmierend, denn das ist genau der Bereich, in dem der Permafrost liegt. Diese 38 Grad Celsius sind gemessen worden auf einer Landoberfläche, die eigentlich bis Hunderte Meter tief in den Boden hinein gefroren ist, und in dem gefrorenen Boden sitzt sehr viel Kohlenstoff, der jetzt anfängt aufzutauen, und Sie können sich vorstellen, wie massiv das Tauen bei 38 Grad Lufttemperatur vonstatten geht.
Dann wird dieser Kohlenstoff freigesetzt, vieles wird umgesetzt in Methan, welches dann in die Atmosphäre gelangt. Methan ist ein sehr, sehr potentes Treibhausgas, es ist noch viel potenter, die Treibhausgaswirkung ist noch viel stärker als die von Kohlendioxid. Das kann zu einer weiteren Verstärkung der globalen Erwärmung führen, denn diese Methanemissionen wirken nicht nur lokal, sondern würden tatsächlich global das Klima anheizen.
Erwärmung der Arktis führt zu Extremwettersituationen - wie im Ahrtal
Fecke: Die Veränderungen des arktischen Klimas, die sind ja eng mit den klimatischen Verhältnissen auch in unseren Breiten gekoppelt. Welchen Einfluss nimmt die Erwärmung der Arktis auf unsere Klimaentwicklung?
Rex: Die Arktis ist ja tatsächlich gar nicht so weit weg von uns. Wenn Sie mal auf den Globus schauen, dann ist das unser Vorgarten, und sie ist insbesondere auch für unsere Wettersysteme ganz bestimmend. Sie ist die Wetterküche für viele der Tief- und Hochdrucksysteme, die bei uns hinterher wetterbestimmend werden. Insbesondere der Temperaturunterschied zwischen der kalten Arktis und den wärmeren mittleren Breiten treibt unser Westwindband an. Das ist der Grund dafür, warum der Wind meistens aus Westen weht und warum wir in zehn, zwölf Kilometer Höhe diesen ausgeprägten Westwind-Jetstream liegen haben, den Sie auch im Wetterfilm heutzutage häufig sehen, weil er eben so wetterbestimmend ist für uns.
Da sich die Arktis jetzt ja aber schneller erwärmt als der Rest der Welt, nimmt dieser Temperaturunterschied ab. Damit wird der Antrieb für dieses Westwindband schwächer, das wird instabiler, wir bekommen es mehr mit Nordsüdtransporten von Luftmassen zu tun, weniger mit von Westen nach Osten gerichteten Transporten. Das kann eben gerade solche Hitzewellen in der Arktis oder auch Hitzewellen in unseren Breiten verstärken.
Das führt zu diesen sehr trockenen, heißen Phasen im Sommer, die wir ja auch schon wirklich intensiv und verstärkt wahrgenommen haben in den letzten Jahren. Und es kann auch zu anderen Extremwetterlagen führen, weil auch die Drucksysteme nicht mehr so schnell um den Globus geschoben werden von Jetstream. Wenn sich ein Tiefdruckgebiet festsetzt über einer Region, dann wird eben das gesamte enthaltene Wasser, der gesamte Regen über einer Region abgelagert, anstatt wie mit der Gießkanne über große Bereiche verschmiert zu werden.
Rex: Da haben Sie genau den Stichpunkt wie im Ahrtal. Das trägt natürlich mit dazu bei, dass die extremen Niederschlagsereignisse intensiver werden. Es gibt da weitere Gründe dafür – insgesamt ist in warmer Luft mehr Wasserdampf drin, da regnet es sowieso schon mal mehr.
Fecke: So wie im Ahrtal.
Aber wenn dann so ein Tiefdrucksystem nicht mehr ordentlich weiterzieht, eben durch den verminderten Temperaturkontrast zwischen Arktis und mittleren Breiten, dann gibt es noch mal den letzten Push für das Extremwetterereignis und diese extremen Niederschläge. Deswegen, das, was im Ahrtal in diesem Sommer passiert ist, ist nicht unabhängig von der Entwicklung der Arktis.
Temperaturrekorde in Kanada wurden pulverisiert
Fecke: Was im Westen der USA und Kanadas passiert ist, nämlich diese Hitzewelle mit Temperaturen bis zu sechs Grad über den bisherigen Rekordwerten, ist dann auch in dem Kontext zu sehen.
Rex: Absolut. Da hat sich ein anderes Drucksystem festgesetzt, nämlich ein Hochdrucksystem ist dort stationär geworden. Es hat eine Hitzeglocke sich ausbilden können, einfach weil dieses Hochdruckgebiet nicht mehr weitergezogen ist und über lange Zeiten sich diese Region immer weiter aufheizen konnte.
Damit sind ja in Kanada jetzt im vergangenen Sommer 2021 die bisherigen Temperaturrekorde nicht nur mal so eben übertroffen worden, sie sind völlig pulverisiert worden. Es war in Kanada vorher noch nie wärmer als 45 Grad gewesen, was auch schon ganz schön warm ist, aber es ist tatsächlich in diesem Sommer in der Region fast 50 Grad warm geworden, fünf Grad über dem bisherigen Rekord. Da sieht man, welches Potenzial diese Extremwetterereignisse haben, die eben durch Veränderungen in der Arktis wahrscheinlicher werden.
Die ganze Region ist vollständig ausgetrocknet während dieser Phase der Hitzeglocke und danach dann auch komplett abgebrannt. Es gab gewaltige Schäden, die Menschen sind davon betroffen, und das zeigt uns auch, dass das alles hier nicht akademisch ist, was wir diskutieren.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.