Innerhalb von nur einer Woche hat Österreich seine Corona-Maßnahmen deutlich verschärft: vom Lockdown für Ungeimpfte zu einem generellen Lockdown für alle. So entscheidungsfreudig sei man in der Alpenrepublik leider längst nicht immer gewesen, erläuterte Nikolas Popper, Simulationsexperte an der TU Wien, im Deutschlandfunk.
"Wir haben ganz genau in den Modellen gesehen: Wenn wir bei dieser Durchimpfungsrate bleiben, werden wir im November ein Problem haben – es hat zu keiner Reaktion geführt."
Dabei komme es jetzt vor allem auf eines an, so Popper: Geschwindigkeit. "Es ist extrem wichtig, schnell zu entscheiden, lieber eine nicht optimale Entscheidung, aber dafür schnell, und auch eine möglichst einige Entscheidung treffen."
Durchsetzbarkeit der Impfpflicht als mögliches Problem
Manche der präventiven Maßnahmen seien in Österreich bundesweit "nicht wirklich konsequent umgesetzt worden", so Popper. Zudem hätten einige Notfallnetze – wie zum Beispiel PCR-Testungen – aufgrund fehlender Infrastruktur in manchen Regionen nicht gegriffen.
Österreich möchte – als bisher erstes Land in der EU – ab Februar eine Corona-Impfpflicht einführen. Popper hält diesen Schritt für problematisch. "Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass Pflicht bei präventiven Maßnahmen sehr schwierig umzusetzen ist, denn die Frage ist, wie will man es denn wirklich exekutieren?"
Das Interview in voller Länge:
Ralf Krauter: Heute vor einer Woche trat in Österreich ein Lockdown für Ungeimpfte in Kraft. Die 7-Tages-Inzidenz lag damals bei circa 800 pro 100.000 Einwohner. Was sprach aus Sicht des Corona-Modellierers für diese Maßnahme?
Nikolas Popper: Na ja, Sie haben’s schon angesprochen, wir haben in Österreich eine sehr regional unterschiedliche Lage. Wir haben also Regionen, die hatten schon zu diesem Zeitpunkt eine Inzidenz, die über 2.000 pro 100.000 Einwohnern lag, das bedeutet, das zwei Prozent der Menschen in einer Woche krank wurden. Das sprach auf jeden Fall für den Umstand – auch zusammen mit den stark beanspruchten Intensivbettenkapazitäten –, dass man etwas tun muss. Die Frage, die sich dann die Politik gestellt hat, ist: Was sollen wir tun? Heraus kam dann ein Lockdown.
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Krauter: Zuerst eben der Lockdown für Ungeimpfte – kann man denn heute mit einer Woche Abstand schon sagen, ob diese Maßnahmen etwas gebracht haben, schlägt sich das schon in den aktuellen Infektionszahlen, den 7-Tages-Inzidenzen, nieder in Österreich?
Popper: Nein, das kann es auch noch nicht. Wir gehen zwar aktuell davon aus, dass wir schon Vorgreifeffekte haben, dass also Menschen schon ihr Kontaktverhalten in der letzten Woche reduziert haben, die Diskussion war medial enorm laut und in aller Munde. Umgekehrt haben jetzt aber am Wochenende, das hat man hier in der Stadt gesehen, viele Menschen sozusagen das letzte Wochenende ausgenutzt. Wir werden uns bis Mitte der Woche einmal anschauen, wie es mit der Mobilität aussieht, die dürfte sich schon reduziert haben. Und dann werden wir mal schauen, ob wir das schon eben in den Positivtestungen sehen. Das größte Problem ist: Dort, wo Intensivbetten am Rande der Kapazitäten sind, dadurch hätten wir sicher erst in zwölf Tagen bis zwei Wochen sehen, das wird dann auch das Spannende sein, denn die Frage wird sich demnächst stellen, wie lange muss der Lockdown eben aufrecht erhalten werden. Denn das muss man immer sehen, das ist kein Modell, um eine Niedriginzidenz beizubehalten, da reicht es ja sozusagen, wenn man das Geschehen moderiert. Ein Lockdown mit den enormen Kosten macht nur dann Sinn, wenn man wirklich schnell und effektiv die Zahlen runterbringt – und das muss jetzt das Ziel sein.
Popper: Maßnahen müssen jetzt schnell wirken
Krauter: Wie kam es denn, dass die Regierung dann quasi innerhalb einer Woche ihre Maßnahmen noch mal so deutlich verschärft hat, vom Lockdown für Ungeimpfte jetzt zum Lockdown pauschal für drei Wochen ungefähr.
Popper: Na ja, ich bin jetzt kein Experte, aber grundsätzlich, glaube ich, war der Lockdown für Ungeimpfte eben der Anspruch von gewissen politischen Kräften, die quasi gesagt haben, ihr lieben Geimpften, wir werden euch nicht mehr behelligen. Aus wissenschaftlicher Sicht musste man eingestehen und sagen, wir können schlicht nicht sagen, wie gut ein Lockdown für Ungeimpfte funktioniert, weil die Bereitschaft der Menschen mitzumachen, vermuteterweise niedrig ist – gerade bei dieser Personengruppe. Aber wir wissen es einfach nicht. Und ich glaube, grundsätzlich hat dann zu der Entscheidung geführt, dass wir eben nicht mehr die Zeit hatten zu warten, um quasi zu schauen, ob Maßnahmen nur für Ungeimpfte wirken. Jetzt ist man natürlich politisch gesehen in einer sehr schwierigen Lage, weil eben diese Versprechen, dass die Geimpften sozusagen aus dem Schneider sind, nicht gehalten werden konnten. Zu hoffen ist jetzt im Sinne der Allgemeinheit, dass die Maßnahmen jetzt schnell wirken, dass wir jetzt schnell runterkommen, dass wir dann im Laufe des Dezembers wieder zu einer Normalität kommen, das, glaube ich, wünschen sich Geimpfte und Ungeimpfte gleichermaßen.
Krauter: Die 7-Tages-Inzidenz war ja in Österreich inzwischen auf über 1.000 gestiegen, also auch in der vergangenen Woche noch, von diesen schon genannten 800 – trotz des dann schon verhängten Lockdowns für Ungeimpfte. Insofern kann man wahrscheinlich schon nachvollziehen, dass die Regierung da nachgeschärft hat. Aber kommen wir noch mal auf dieses Versprechen, das der Bundeskanzler, Alexander Schallenberg, gegeben hat, zu sprechen. Er sagte, spätestens am 13. Dezember soll der heute begonnene Lockdown für Geimpfte wieder vorbei sein und man wieder zurück zur 2G-Regel kehren. Ist das nicht riskant, so etwas zu versprechen, wie realistisch ist es, dass das wirklich klappen wird, dass die Kuh bis dahin vom Eis ist?
Popper: Vielleicht hat er schlauere Modelle, als wir sie haben, das weiß ich nicht. Versprechungen sind in Covid-Zeiten immer riskant, das haben wir schon gelernt. Auf der anderen Seite muss man fairerweise auch sagen, Politiker, glaube ich, müssen den Menschen Perspektiven geben. Aus unserer Erfahrung kann man schon sagen, dass wenn ein Lockdown eingehalten wird, dann sieht man hier schon schnell Ergebnisse. Das muss man schon konstatieren. In Österreich gibt es im Moment gerade die große Diskussion, dass die Schulen weiterhin offen sind.
Das kann Sinn machen, weil es im Grunde ein sehr gutes Test- und Screening-System in den Schulen gibt mit PCR-Tests. Allerdings ist hier die große Kritik von Expertinnen und Experten, ob das denn auch wirklich umgesetzt werde. Das ist wie bei vielen anderen Dingen das große Fragezeichen, ob wir uns hier Probleme einhandeln, nicht weil das System nicht grundsätzlich funktionieren würde, sondern wie es auch wirklich in der Realität umgesetzt wird. Das müssen wir uns jetzt anschauen, da werden wir jetzt Mittwoch auch neue Zahlen bekommen, das werden wir uns ganz genau anschauen und in die Modelle auch einpreisen.
Präventive Maßnahmen sollten glaubwürdig sein
Krauter: Das Spannende ist ja, dass die Debatten, die bei Ihnen in Österreich geführt werden, mit ein paar Tagen Verzögerung eins zu eins auch so in Deutschland gerade geführt werden. Auch wird es jetzt regional ähnliche Strategien geben, Sachsen hat einen Wellenbrecher-Lockdown verordnet, in Baden-Württemberg und Bayern gibt es in Hotspots schon Lockdowns für Ungeimpfte, heute beraten in Deutschland mal wieder die Landesgesundheitsminister, wie es weitergehen soll. Was würden Sie denen denn im Lichte der Erfahrung aus Österreich raten, was wäre jetzt sinnvoll zu tun?
Popper: Na ja, die Frage kann man auf zwei Ebenen beantworten. Grundsätzlich glaube ich, was wir lernen können, ist: Es ist extrem wichtig, schnell zu entscheiden, lieber eine nicht optimale Entscheidung, aber dafür schnell, und auch eine möglichst einige Entscheidung zu treffen. Ich weiß, dass das in der Realpolitik oft schwierig ist, das ist aber in solchen Zeiten extrem wichtig, dass man schnell gemeinsam entscheidet, um Klarheit zu schaffen. Präventive Maßnahmen haben neben der realen Wirksamkeit eine ganz wichtige zweite Komponente, das ist die Glaubwürdigkeit. Und die beeinflusst dann wiederum, wie die Menschen das dann umsetzen, deshalb ist dieses Thema so wichtig. Ein zweites Thema, das man nicht ad hoc lösen kann, aber das mittelfristig zumindest für Österreich – und ich nehme an, auch für Deutschland – sehr wichtig ist, ist: Man muss sich vorbereiten.
Es ist ja nicht so, dass auch die jetzige Krise und der Lockdown vom Himmel gefallen sind, sondern wir sind eben zum einen bei der Durchimpfungsrate extrem hinter den Erwartungen zurückgeblieben. Wir haben ganz genau in den Modellen gesehen, wenn wir bei dieser Durchimpfungsrate bleiben, werden wir im November ein Problem haben, es hat zu keiner Reaktion geführt. Wir haben gesehen, dass manche der reduzierenden Maßnahmen, die gesetzt wurden, nicht bundesweit wirklich konsequent umgesetzt wurden, dann haben wir einen leichten Anstieg gehabt. Und drittens all die Notfallnetze, die wir dann eingeschaltet haben, wie eben strengere G-Regelungen, haben dann nicht gegriffen, weil die Infrastruktur, zum Beispiel die PCR-Testungen, in manchen Regionen nicht vorhanden waren. In Wien zum Beispiel sind sie stark ausgebaut, deshalb sind hier auch die Inzidenzen niedriger als anderswo. Da gibt es Dinge, die Hausübungen, die muss man machen, das ist der zweite wichtige Aspekt. Das hilft jetzt nicht für die aktuelle Situation, aber – und das kann man nicht oft genug sagen – diese Hausübungen werden wir von Januar bis April noch bitter, bitter benötigen. Insofern heißt das jetzt, einerseits auf die aktuelle Situation schauen, aber auch nicht nachhaltige Lösungen vergessen.
Eine Impfpflicht sei schwierig umzusetzen
Krauter: Nachhaltig könnte ja auch eine Impfpflicht wirken, die in Österreich ab Februar jetzt kommen soll. Wären wir auch in Deutschland gut beraten, da wirklich ernsthaft drüber zu diskutieren?
Popper: Da bin ich ein bisschen der Falsche, den Sie fragen, ich bin kein Experte für die Frage, ob eine Impfpflicht hilft. Aus meiner Erfahrung weiß ich, dass Pflicht bei präventiven Maßnahmen sehr schwierig umzusetzen ist, denn die Frage ist, wie will man es denn wirklich exekutieren? Aus der Evidenzsicht muss man sagen, die Pflicht ist für Februar 2022 jetzt vorgesehen. Warum? Weil es eben viele schwierige rechtliche und organisatorische Dinge zu klären sind, aus meiner Sicht muss davor schon etwas passieren. Idealerweise schaffen wir es schon vorher, dass viele Menschen sich erstimpfen, denn das ist die große Hürde. Die Zweitimpfungen, die Booster-Impfungen folgen dann eh, weil man ja die Menschen schon im Boot hat. Wir müssen jetzt schauen, dass wir auf über 90 Prozent Erstimpfungen kommen – und das sollten wir eigentlich bis zu dem Termin schon schaffen. Idealerweise brauchen wir die Impfpflicht dann gar nicht mehr, aber das ist jetzt keine wissenschaftliche Aussage, sondern positives Denken, dass ich hier beitragen kann.
//Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.//