Olympische Winterspiele in Peking und die Fußball-WM im Wüstenstaat Katar: Das Sportjahr 2022 hält zwei Sportgroßereignisse parat. Die Gastgeber und Organisatoren müssen sich dabei immer wieder heftiger Kritik stellen. So sollen laut einem Bericht von Amnesty International seit der WM-Vergabe 2010 nach Katar über 15.000 Gastarbeiter ums Leben gekommen sein. In China werden ethnische Minderheiten und die Meinungsfreiheit unterdrückt. Die australische Menschenrechts-Expertin Rachel Davis von der Organisation Shift hat für das IOC und die FIFA als unabhängige Co-Autorin analysiert, wo deren Verantwortung liegt und was sie tun müssen, um eine Menschenrechtsstrategie nach den Standards der Vereinten Nationen aufzustellen.
Das Interview in verschrifteter Sendefassung:
Marina Schweizer: Es gibt viele Diskussionen über China als Gastgeberland und das IOC, weil es die Spiele dort hingegeben hat und weil es den Druck auf China nicht erhöhe. Sie haben Empfehlungen für eine Menschenrechts-Strategie an das IOC verfasst. Denken Sie sich gerade: Nun ja, ich habe es euch gesagt.
Rachel Davis: Wir bei Shift haben 2018 begonnen, mit dem IOC zu arbeiten, an seinem Verständnis der eigenen Verantwortung, Menschenrechte zu respektieren. Da war die Unterzeichnung des Gastgebervertrages mit Peking schon drei Jahre her. Und das IOC hat 2020 Empfehlungen von mir und Prinz Zeid, dem ehemaligen UN-Hochkommissar für Menschenrechte, dazu veröffentlicht, was es aus unserer Sicht machen sollte: Nämlich die Arbeit und die Bemühungen in Sachen Menschenrechten voranzutreiben. In unserem öffentlichen Bericht haben wir beide die Auswirkungen auf Menschenrechte festgestellt, die mit den Olympischen Spielen in Peking in Verbindung gebracht werden könnten. Und diese anzusprechen ist nach wie vor eine Herausforderung.
Und obwohl ich nicht in der Position dazu bin, die spezifischen Handlungen des IOC im Rahmen der gebotenen Sorgfalt rund um die Spiele zu kommentieren, kann ich sagen: Dass wir uns seit wir den Bericht eingereicht haben, bei unserer Beratung darauf fokussiert haben, was die Organisation braucht, um eine allumfassende Verpflichtungserklärung zu verfassen. Eine Menschenrechtsstrategie und sorgfältige Überprüfungsmechanismen, die das unterstützen, die Risiken bei den Menschenrechten verhindern und ansprechen. Damit man eben in Zukunft auf absehbar herausfordernde Situationen vorbereitet ist und damit man Menschenrechte, Respekt und gebotene Sorgfalt bei diesen Rechten von Anfang an in die Beziehungen zu Gastgebern einbaut. Und es ist wichtig zu wissen, dass das IOC diese Erwartungen für die Zukunft eingebaut hat. In Gastgeberverträge, die ab den Spielen in Paris 2024 gelten.
"Wir sehen die ersten Schritte"
Schweizer: Das ist ganz interessant, weil es hier so rübergekommen ist, als hätte es eine ganz schön lange Zeit gedauert, bis das IOC Ihre Empfehlungen überhaupt veröffentlicht hat. Waren Sie da von der Geschwindigkeit des IOC enttäuscht?
Davis: Als wir unsere ursprünglichen Empfehlungen an den IOC-Präsidenten gegeben haben, der diese in Auftrag gegeben hatte, haben wir nicht erwartet, dass der ganze Bericht öffentlich gemacht wird. Die Tatsache, dass das passiert ist, war sogar eine ziemlich wichtige Entwicklung, finde ich. Und das hat die Möglichkeit für eine breitere Debatte eröffnet. Auch für betroffenen Gruppen, die dadurch diese Themen nochmals beim IOC ansprechen konnten – ich denke, dass das der Diskussion genutzt hat. Wir haben also die Veröffentlichung durchaus positiv gesehen.
Und wissen Sie, was ja auf jeden Fall passiert ist in der Zwischenzeit, ist, dass das IOC eine der wichtigsten Sachen getan hat: Jemanden einzustellen, der Verantwortung dafür hat, eine interne Struktur, eine Abteilung aufzubauen, die sich mit Menschenrechten befasst und der damit anfängt, eine Strategie zu entwickeln. Wir sehen also die ersten Schritte. Aber natürlich will jeder, der zu Menschenrechtsfragen arbeitet, dass die Dinge schneller gehen – wir sind immer ungeduldig und wollen bessere Ergebnisse.
Schweizer: Was ist denn das nächste, bei dem sich das IOC bewegen sollte – was ist das dringendste, was das IOC jetzt machen muss?
Davis: In unseren Empfehlungen haben wir die Organisation aufgefordert, die Olympische Charta formell zu ändern und diese politische Verpflichtung durch eine Strategie und eine Reihe klarer interner Maßnahmen zu unterstützen. Und das IOC hat öffentlich erklärt, dass es daran arbeitet. Und ich denke, dass wir schon bald, im Jahr 2022, weitere Fortschritte bei diesen wirklich wichtigen Schritten sehen werden. Und wie ich schon sagte, wenn man das mit der Verpflichtung zusammenbringt, die es jetzt eingegangen ist, um die Erwartungen in Bezug auf die Menschenrechte in die Gastgeberverträge zu integrieren, wird das in Zukunft zu Veränderungen führen.
Aber auch in der Zwischenzeit hat das IOC Fortschritte in einem anderen Bereich gemacht, nämlich bei der Einbeziehung von Transgender- und Interfrauen in den Spitzensport. Ende letzten Jahres wurde ein Rahmenwerk veröffentlicht. Dieses Thema wurde auf der Grundlage von Gesprächen mit schwer betroffenen Frauen und der Anhörung eines breiteren Spektrums von Meinungen, einschließlich Menschenrechtsexperten, behandelt. Ich denke, dass dies bereits zeigt, wozu die Organisation in der Lage ist, wenn sie sich ernsthaft mit Menschenrechtsthemen auseinandersetzt.
English Original: Human Rights in FIFA and IOC - Interview with Rachel Davis
"Dass man bereit ist auch schwierige Gespräche zu führen"
Schweizer: Ja, ich meine, wir konzentrieren uns zum Beispiel auf Peking. Im Moment gibt es eine ganze Reihe von Dingen, von denen Sie sagen, dass das IOC sie berücksichtigen muss, zum Beispiel die Rechte von LGBTQI+ oder die Rechte von Frauen. Wir sind uns dessen bewusst, und ich möchte das in diesem Interview nicht aussparen. Aber Sie sprechen in Ihrem Bericht auch von angemessenen Erwartungen an das IOC in Bezug auf Menschenrechtsfragen. Können Sie mir also sagen, was aus Ihrer Sicht die angemessenen Erwartungen an eine Organisation wie das IOC sein können, denn hier gibt es auch eine Diskussion darüber, ob die Öffentlichkeit zu viel von einer solchen Organisation verlangt.
Davis: Ich denke, wir sehen, dass die Sportverbände, und nicht nur das IOC, sondern auch die FIFA, zunehmend anerkennen, dass sie eine Verantwortung für die Achtung der Menschenrechte haben, aber sie ringen damit, was das bedeutet. Es gibt einen internationalen Standard, den die UNO vor einem Jahrzehnt festgelegt hat, die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte. Sowohl die FIFA als auch das IOC haben diesen Standard in ihre Erwartungen an künftige Gastgeber integriert.
Für die Sportverbände, die Veranstaltungen organisieren, bedeutet das, dass sie diese Erwartungen in dreifacher Hinsicht erfüllen müssen: Erstens müssen sie eine sorgfältige Prüfung durchführen, um zu verstehen, welche negativen Auswirkungen die Veranstaltung auf die Rechte der Menschen haben könnte. Das sieht natürlich von Land zu Land unterschiedlich aus. Zweitens müssen sie anfangen, diese Risiken abzuschwächen und zu verhindern, wobei sie mit den schwerwiegendsten Risiken für die Menschen beginnen müssen, und drittens müssen sie mit den Partnern im Gastland in Kontakt treten und ihre Einflussmöglichkeiten nutzen, um die Menschenrechtsrisiken zu beseitigen.
Wenn man sich den Lebenszyklus eines großen Sportereignisses vor Augen führt, ist es ziemlich offensichtlich, dass man als Sportorganisation gerade in der Anfangsphase den größten Einfluss hat. Und das ist die Veränderung oder der Wandel, den wir bei Sportverbänden sehen müssen. Nämlich, dass man von Anfang an mit offenen Augen an die Sache rangeht und vorhersehbare Risiken erkennt. Dass man bereit ist auch schwierige Gespräche zu führen. Aber in den UN-Leitprinzipien ist dies in einer Weise dargelegt, die den Sportverbänden den Umfang der Risiken, mit denen sie sich befassen müssen, und die Art der Maßnahmen, die sie ergreifen müssen, deutlich macht. Ich würde also sagen, es geht darum, dass die Sportorganisationen eine Art Muskel aufbauen, dass sie da sorgfältig arbeiten und sich daran gewöhnen, das als Teil der Organisation von Großveranstaltungen zu tun.
"Und natürlich muss man auch das Vermächtnis im Auge behalten"
Schweizer: Der Aufbau eines Muskels, um dies zu erreichen, ist die Art von Hebelwirkung, wie ich sie verstehe. Nach dem, was Sie sagen, sind für mich Ausschreibungsverfahren und Verträge mit den Gastgeberstädten die wichtigsten Hebel, die eine Organisation wie diese hat. Würde das bedeuten, dass das IOC, wenn es mit einem künftigen Gastgeberland verhandelt, diesem einfach sagen kann, wenn ihr dies und das nicht tut, geben wir euch die Veranstaltung nicht.
Davis: Verhandlungen sind aus meiner Sicht immer komplexer als das. Aber ich glaube, dass das, auf was Sie hier abzielen, wichtig ist: Die Festlegung der richtigen Bedingungen in einem Vertrag ist die Grundlage dafür, Menschenrechtsrisiken zu managen und Druckmittel zu nutzen. Aber es geht auch um alles, was nach dem Vertrag kommt. Es geht also um die Art der Beziehung, die man aufbaut, und darum, wie klar man von vornherein die Erwartungen formuliert. Und es geht darum, die Risiken weiter zu überwachen, um zu sehen, ob sich die Dinge geändert haben, um wirklich gute Arbeitsbeziehungen mit den Partnern aufzubauen und dies bis zum Ende der Veranstaltung zu tun. Und natürlich muss man auch das Vermächtnis im Auge behalten. Und ich denke, dass das Organisationen helfen kann. Sie können sich sicher fühlen: Oh, wir schreiben etwas in einen Vertrag - das war's. In der Praxis zeigt sich jedoch, dass die harte Arbeit, die nach dem Vertrag kommt, genauso wichtig ist. Wenn man die richtigen Bedingungen festlegt, wenn man die richtige Grundlage schafft, ist es viel wahrscheinlicher, dass man bessere Ergebnisse für die Menschen bekommt. Mehr Respekt für Menschenrechte am Ende des Tages.
Schweizer: Wie geht es Ihnen, wenn Sie den Einfluss des IOC betrachten, den es bei der chinesischen Tennisspielerin Peng Shuai nutzt – und auch die Handlungen, die es vollzogen hat?
Davis: Nochmals: Ich kann Schritte, die das IOC in diesem Falle unternommen hat, nicht spezifisch kommentieren. Weil wir nach wie vor mit ihnen eine Beziehung pflegen. Was ich aber sagen kann ist, dass die UN Leitprinzipien, die wir ja dem IOC empfohlen haben anzunehmen, von Organisationen erwarten, dass sie ihren Einfluss nutzen, wo die Gefahr für Menschen am größten ist. Und es gibt keinen Zweifel daran, dass sexuelle Belästigung oder Missbrauch im Sport allgegenwärtig sind. Das ist ein Problem, mit dem so viele Mädchen und Frauen im Sport konfrontiert sind und das haben sie auch mit Prinz Zeid und mir geteilt, als wir an dem Bericht gearbeitet haben. Es gilt also für das IOC bei diesem Thema eine wichtige Rolle zu spielen. Es hat erste Schritte bei diesem Thema gemacht. Und der Schutz vor sexueller Belästigung und Missbrauch ist ja in der Olympischen Charta verankert und das ist ein Bereich, in dem das IOC vorangehen kann. Also nochmal: Ich glaube, an dieser Stelle können unsere Empfehlungen der Organisation helfen, seine Muskeln aufzubauen und seinen Einfluss geltend zu machen. Und zwar so, dass es einfühlsam gegenüber der Erfahrung von Betroffen ist.
"Diese Organisationen müssen das schaffen"
Schweizer: Lassen Sie mich noch einmal kurz nachfragen, zur Klarheit: Was ist Ihre Verbindung zum IOC momentan, nachdem Sie ihren Bericht eingereicht haben?
Davis: Meine Organisation Shift gibt dem IOC Ratschläge, wie es die strategischen Empfehlungen von Prinz Zeid und mir umsetzen kann. Wir beraten den Verantwortlichen in Sachen Menschenrechten, besonders dabei, wie eine Menschenrechtsstrategie und eine Änderung der Olympischen Charta entwickelt werden können. Die Organisation hat ja gesagt, dass sie das machen will und dass sie das wirklich einbauen will in den künftigen Entscheidungsprozess. Nachdem wir die ganze Mühe in den Bericht gesteckt haben, wollen wir natürlich auch, dass es umgesetzt wird. Was die FIFA und das IOC tun, ist wirklich wichtig. Diese Organisationen müssen das schaffen, weil wenn sie das richtig hinbekommen, dann ist das ein Präzedenzfall für andere Sportverbände. Natürlich ist es wichtig für die Menschen, was die FIFA und das IOC tun. Es ist auch wichtig für die Betroffenen, natürlich in breiterer Form von der Olympischen Bewegung. Und deshalb wollen wir als Organisation uns wirklich bei ihnen einsetzen, dass das in die Praxis umgesetzt wird.
Schweizer: Wir haben über die FIFA und das IOC gesprochen und natürlich über die Großveranstaltungen, die dieses Jahr anstehen – weil sich die Menschen da gerade drauf konzentrieren. Haben beide Organisationen mit der Vergabe dieser Events den Tiefpunkt erreicht und glauben Sie, dass es ein Wendepunkt war?
Davis: Naja, sie haben diese Entscheidungen weit vor dem Zeitpunkt getroffen zu dem sie vermutlich überhaupt auf die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte aufmerksam geworden sind – und damit auch dem internationalen Standard, dem sie sich jetzt öffentlich zuwenden. Ich glaube, diese Entscheidungen wurden zu einer anderen Zeit in einer anderen Ära getroffen. Als wir noch nicht die Gewissheit hatten, die wir jetzt haben.
Und die Tatsache, dass beide diese Leitprinzipien übernommen haben, sie in Entscheidungsprozesse für kommende Veranstaltungen eingebaut haben, und dass ihre Herausforderung jetzt ist, diesen Muskel aufzubauen, wie ich es genannt haben, den Menschenrechts-Verantwortungs-Muskel, zeigt, dass sie die Richtung in die es geht verstanden haben. Und dass sie verstehen, dass was Athleten, Fans und andere sagen, wirklich wichtig im Sport ist. Es ist einfach, das zu sagen, aber es ist in Wahrheit wirklich harte Arbeit und wir müssen davon mehr sehen.
"Je mehr sie zu Beginn tun können, desto besser werden die Ergebnisse"
Schweizer: Trotzdem: Wie passt das dann zusammen, wenn der IOC-Präsident sagt: Wir können nicht die ganze Welt retten oder wir können nicht Probleme lösen, die sogar Politiker*innen nicht lösen können. Also sprich: Dem IOC wird zu viel abverlangt. Wie passt das zu den Anstrengungen, die Sie jetzt zeichnen?
Davis: Also, da ist die Erwartung in den UN-Leitprinzipien wirklich klar: Sportverbände sind nicht verantwortlich für Menschenrechts-Risiken, die in einem Land passieren, in dem eine Veranstaltung ausgetragen wird. Aber es wird von ihnen erwartet, dass sie die Risiken anpacken, die mit ihrer Veranstaltung in Verbindung stehen. Das bedeutet, dass sie da mit offenen Augen hineingehen sollten und die absehbaren Risiken verstehen, die damit in Verbindung stehen könnten und verstehen, was vernünftig dagegen getan werden kann. Und sie sollten ihren Einfluss früh und andauernd ausüben, wenn es darum geht, diese Risiken anzusprechen.
Und natürlich können manche dieser Risiken in einigen Ländern schwieriger anzugehen sein, als in anderen. Vor allem, wenn die nationalen Gesetze im Konflikt mit internationalen Menschenrechtsstandards stehen oder wenn Regierungshandeln hinter diesen Standards zurückbleibt. Aber es braucht eben offenen Dialog mit der Gastgeberregierung über die allgemeinen Bedingungen unter denen es ein erfolgreiches Sportereignis geben kann. Auch für alle Beteiligten – Fans, Athleten, die Gesellschaft vor Ort, Arbeiter, Journalisten und so weiter. Nochmal: Wenn wir über den Lebenszyklus eines Ereignisses sprechen, ist es logisch, dass Sportverbände den größten Einfluss für diese Art der Konversation am Anfang haben. Und je mehr sie zu Beginn tun können, die Basis zu schaffen, desto besser werden die Ergebnisse.
Schweizer: Was erwarten Sie von den beiden Dachverbänden dieses Jahr, wenn die Veranstaltungen laufen?
Davis: Wir wollen, dass sie tun, was sie können. Obwohl die Verträge selbst noch nicht die klaren neuen Erwartungen beinhalten, die künftige Verträge haben. Aber wir wollen, dass sie mit ihrem Einfluss tun, was sie können. Und das sagen wir, die UN-Leitprinzipien erwarten das und das denke ich. Beide Verbände verstehen das auch, denke ich. Aber wir erwarten, dass das in Zukunft in einem Vertrag gesichert wird, der es einfacher macht, Hebel auch anzusetzen, wenn man früher auf dieser Basis ansetzt.
Das Interview wurde für die übersetzte Fassung gekürzt. Das ganze Gespräch gibt es im englischen Originalton.
English Original: Human Rights in FIFA and IOC - Interview with Rachel Davis