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Proteste im Iran
Shirin Ebadi: „Das ist der Beginn einer Revolution"

Die Demonstranten hätten die gemeinsame Forderung, dass die islamische Republik Iran aufhöre zu existieren, so die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi im Dlf. Die Menschen protestierten gegen Ungleichheit, Korruption, Armut – und seien mutiger geworden.

Von Stephanie Rohde | 08.10.2022
Shirin Ebadi, Friedensnobelpreisträgerin und iranischen Menschenrechtsverteidigerin
Shirin Ebadi, Friedensnobelpreisträgerin und iranischen Menschenrechtsverteidigerin (imago images / Eventpress)
Sowohl verschiedene politische Gruppen, als auch verschiedene Ethnien und Menschen aller Altersgruppen hätten einen gemeinsamen Wunsch: Die Umbildung der Islamischen Republik Iran, sagte die Friedensnobelpreisträgerin Shirin Ebadi im Deutschlandfunk über die Proteste in dem Land.

43 Jahre keine Antworten vom Regime für die Menschen

Die Menschen seien an einem Punkt angekommen, an dem für sie die Fortführung dieses Regimes keinen Sinn mehr ergebe. 43 Jahre habe das Regime den Menschen keine Antworten gegeben und sei noch nicht einmal bereit gewesen, ihnen zuzuhören. Auch habe sich herausgestellt, dass man das Regime nicht mit Reformen verbessern könne. Daher gebe es keinen anderen Weg außer den Umsturz des Regimes und die Etablierung eines demokratischen, besseren Systems.

Wandlung des "Führers" zu einem erbarmungslosen Diktator

Es sei ein Fehler bei der letzten iranischen Revolution gewesen, vorab einen "Führer" festgelegt zu haben, der sich dann zu einem erbarmungslosen Diktator gewandelt habe. Während des jetzigen Widerstandskampfes werde es sich zeigen, wer die Führung übernehmen könne. Sollte es jedoch eine freie Wahl geben, würden die Menschen selbst eine Führung finden. Shirin Ebadi äußerte sich zuversichtlich, eines Tages in ein demokratisches Iran zurückkehren zu können. Dann eine politische Führung zu übernehmen, lehnte sie aber ab. Sie sei eine Verteidigerin von Menschenrechten, keine politische Aktivistin und keine Führerin, betonte Shirin Ebadi.

Das Interview im Wortlaut:
Stephanie Rohde: Frau Ebadi, sind diese Proteste im Iran der Anfang einer Revolution?
Shirin Ebadi: Ja, das ist der Beginn einer Revolution. Wenn ich Filme und Bilder anschaue aus dem Iran, sehe ich junge Schülerinnen zwischen 15 und 16 oder 14 und 17, die auf den Straßen protestieren an der Seite von Pensionären, die so alt sind wie ihre Großeltern. Wenn von der Enkelin bis zur Großmutter alle unzufrieden sind und das nicht nur in einer Stadt, sondern in hundert Städten, muss man davon überzeugt sein, dass das der Beginn einer nächsten Revolution in Iran ist.
Rohde: Wenn man bedenkt, dass hier verschiedene Gruppen mit unterschiedlichen Forderungen protestieren – kann man dann davon sprechen, dass es sich hier um eine Bewegung handelt, in der alle vereint kämpfen?
Ebadi: Genauso ist es. Sowohl verschiedene politische Gruppen als auch verschiedene Ethnien in Iran und auch Menschen aller Altersgruppen haben einen Wunsch, und das ist die Umbildung der Islamischen Republik Iran.

Forderung der Proteste: Islamische Republik Iran soll "aufhören zu existieren"

Rohde: Was ist das Besondere an diesen Protesten im Vergleich zu anderen in der Vergangenheit, was ist der Unterschied?
Ebadi: Im Unterschied zu anderen Protesten der Vergangenheit, die auf inhaltliche Forderungen gerichtet waren, ist das ein Protest, der gemeinsam eine Forderung hat, nämlich, dass die islamische Republik Iran aufhört zu existieren. 
Und ein weiterer Unterschied ist, dass alle politischen Gruppierungen teilnehmen. Und drittens, und das ist meiner Meinung nach sehr wichtig, dass die Menschen verstanden haben, was ihre Rechte sind. Sie haben verstanden, dass sie sowohl nach dem iranischen Gesetz als auch nach internationalem Gesetz das Recht haben, sich selbst zu verteidigen. Wenn die Staatsgewalt sie schlägt, dann wehren sie sich. Wenn die Sicherheitskräfte eine Person festnehmen wollen, ist es nicht wie in der Vergangenheit, dass die Menschen nur daneben stehen. Alle greifen ein und retten diese Person aus den Händen der Sicherheitskräfte. Das ist der Grund, weshalb wir sehen, dass die meisten Festnahmen derzeit nach Mitternacht und bei Hausdurchsuchungen auf sehr brutale Art stattfinden. 
Rohde: Kann dieser Umgang des Regimes mit den Protestierenden, also die Unterdrückung und Festnahmen, wie in der Vergangenheit funktionieren, wenn die Proteste sich ausweiten und mehr Menschen auf die Straße gehen?
Ebadi: Nein, diese Unterdrückung wird nicht erfolgreich sein, denn je mehr das Regime die Proteste niederschlägt, desto mehr werden Menschen auf die Straße gehen. Bis zu einem Punkt, wo die Sicherheitskräfte zu wenige sind, um die Proteste niederzuschlagen. Laut Informationen, die ich habe, missbrauchen sie bedauerlicherweise Waisenkinder oder Heimkinder, geben ihnen beispielsweise eine Kiste mit Grundnahrungsmitteln oder Geld für Essen und missbrauchen sie zur Niederschlagung der Proteste. Das ist Kindesmissbrauch.

Menschen lassen sich nicht mehr "vom Regime unter Druck setzen"

Rohde: Dieses Regime unterdrückt Menschen, sperrt sie ein, jetzt sagen einige Parlamentarier im Iran: Wir sollten über die Forderungen der Protestierenden sprechen. Zeigen die Reaktionen des Regimes, dass es schwächer ist als früher? 
Ebadi: Im Vergleich zu früher ist es nicht schwächer, die Menschen sind mutiger geworden – und sie sind mehr. Sie lassen sich nicht mehr vom Regime unter Druck setzen. Wenn die Proteste niedergeschlagen werden, gehen sie trotzdem auf die Straße. Die Zahl der Getöteten ist sehr hoch und die der Festgenommen auch. Laut inoffiziellen Zahlen wurden über 2000 Menschen festgenommen, aber das bringt nichts, es gehen trotzdem mehr Menschen auf die Straße.
Rohde: Wie können die Proteste denn weitergehen, ohne, dass so viele Menschen verletzt werden, sehen Sie einen friedlicheren Weg mit möglichst geringem Schaden? 
Ebadi: Die Menschen sind an einem Punkt angekommen, an dem sie denken, dass die Fortführung dieses Regimes keinen Sinn mehr ergibt. 43 Jahre lang haben sie erlebt, dass das Regime ihnen keine Antworten gegeben hat. Es ist nicht mal bereit, den Menschen zuzuhören. Die Menschen haben alle möglichen Wege ausprobiert. Eine Zeitlang waren sie auf dem Weg der Reformer und haben gehofft, dass man das Regime mit Reformen besser machen kann – aber am Ende hat sich rausgestellt, dass man das Regime nicht besser machen kann. Und deshalb gibt es keinen anderen Weg außer den Umsturz des Regimes und die Etablierung eines demokratischen, besseren Systems.

Verfassung und die Struktur dieses Regimes nicht reformierbar

Rohde: Wo sie gerade vom Versuch friedlicher Reformern sprechen. Ein Politiker der Reformpartei Neda hat die Proteste im staatlichen Fernsehen gegen den Vorwurf der ausländischen Einmischung verteidigt und dafür den persischen Spruch benutzt, dass die Fliege sich immer auf die Wunde setzt – er meinte mit der Fliege die Proteste. Er hat das Regime aufgefordert, die selbst verursachte Wunde zu heilen. Aber Sie sagen: Die Wunde ist nicht zu heilen, das System ist nicht reformierbar?
Ebadi: Ja genau, die Menschen haben es probiert und gesehen, dass Reformen nicht möglich sind, weil die Verfassung und die Struktur dieses Regimes nicht reformierbar sind.

Protest gegen "Ungleichbehandlung, Korruption, Zensur und Armut"

Rohde: Und eine Islamische Republik im Iran ohne Kopftuchzwang können Sie sich nicht vorstellen?
Ebadi: Es ist nicht vorstellbar – und andererseits protestieren die Menschen nicht nur gegen den Kopftuchzwang. Sie protestieren gegen die Ungleichbehandlung per Gesetz. Sie protestieren gegen Ungleichheit, gegen die grassierende Korruption, gegen die heftige Zensur, gegen die Armut, gegen zu wenige Arbeitsplätze. Und weil sie das schon seit Jahren wollen und das Regime bislang keine Antwort gegeben hat, sind sie zu dem Schluss gekommen, dass das Regime weg muss.
Rohde: Brauchen diese Proteste eine Führung oder eine Sprecherin, einen Sprecher oder ist das ein Fehler, der in der Vergangenheit gemacht wurde, den man nicht wiederholen will?
Ebadi: Genau das war der Fehler der Vergangenheit, bei der letzten Revolution. Das der Führer vorher festgelegt wurde und sich dann zu einem erbarmungslosen Diktator gewandelt hat. Während des jetzigen Widerstandskampfes wird sich zeigen, wer die Führung ist und sollte es eine freie Wahl geben, werden die Menschen selbst eine Führung finden.
Rohde: Könnten Sie sich denn vorstellen, in der iranischen Politik aktiv zu werden oder jemand wie Sie?
Ebadi: Ich bin eine Verteidigerin von Menschenrechten. Ich bin keine politische Aktivistin und keine Führerin. Ich wünsche mir, dass ich die Arbeit, die ich immer gemacht habe, im Iran auch weiterführen kann, also meine Tätigkeit als Anwältin und Verteidigerin von Menschenrechten.

Atomabkommen: Den Worten des Regimes keinen Glauben schenken

Rohde: Schauen wir auf das Atomabkommen. Kann man das mit Iran in dieser Situation unterzeichnen?
Ebadi: Vielleicht bestehen die USA darauf, dass sie es unterschreiben können. Aber das hat keinen Zweck. Den Worten des iranischen Regimes darf man keinen Glauben schenken. Wenn es glaubwürdig wäre, dann hätten sie der Atomenergiebehörde Auskunft gegeben. In den fast drei Jahren, in denen das Atomabkommen in Kraft war und die Sanktionen ausgesetzt waren, haben sich die Lebensbedingungen der Menschen nicht verbessert, es gab nicht mehr Wohlstand im Iran. Die Gelder sind in Waffen für die Hizbollah im Libanon, in Syrien und die Huthis in Yemen geflossen. Aber die Situation für die Menschen im Iran hat sich nicht verändert.
Rohde: Aber einige Expertinnen und Experten argumentieren nun, dass die Situation ohne Atomabkommen sogar noch schlimmer wird für die Menschen im Iran.
Ebadi: Ja, das ist möglich. Aber ich möchte zwei Punkte nochmal betonen: Wenn das Atomabkommen unterzeichnet wird, wird die Situation nicht besser als sie ist, das hat die Vergangenheit gezeigt. 

"Iran wird demokratisch sein"

Rohde: Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock will eine feministische Außenpolitik machen. Welche Erwartung haben Sie als Feministin an die deutsche Regierung und spezifisch an die deutsche Außenpolitik?
Ebadi: Ich habe die Erwartung, dass die deutsche Regierung aus Protest gegen die Niederschlagung der Protestierenden im Iran den deutschen Botschafter aus Iran abberuft und die politischen Beziehungen mit dem Iran von einem Botschaftsstatus auf einen Konsulatsstatus herunterstuft.
Rohde: Was können denn Exil-Iranerinnen und -Iraner aber auch alle anderen Ihrer Meinung nach tun, wenn sie die Protestierenden unterstützen wollen? 
Ebadi: Das wichtigste was Exil-Iranerinnen und Iraner machen können ist, die Proteste im Iran zu bestärken und ein Lautsprecher für ihre Stimmen zu sein. Bislang haben sie diese Aufgabe sehr gut wahrgenommen.
Rohde: Sie haben in unserem letzten Interview 2018 gesagt, dass sie irgendwann in den Iran zurückkehren, wenn der Iran eine Demokratie ist. Haben Sie jetzt die Hoffnung, dass sie schon sehr bald zurückkehren können?
Ebadi: Ich weiß, dass ich eines Tages in ein demokratisches Iran zurückkehre, aber ich kann nicht sagen, wann. Das kann in sechs Monaten oder in einigen Jahren sein. Aber ich bin mir sicher: Iran wird demokratisch sein.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.