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Russischer Schriftsteller Jerofejew
„Meine Landsleute sind nicht reif für die Demokratie“

Weil Russland kein Interesse daran habe, der Bevölkerung eine gute politische Kultur zu vermitteln, seien die Bürgerinnen und Bürger in gewisser Weise wie Kinder, sagte der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew im Dlf. „Keine lachenden, glücklichen Kinder, sondern harte Kinder, die um sich herum Feinde sehen.“

Viktor Jerofejew im Gespräch mit Gisa Funck |
Der russische Schriftsteller Viktor Jerofejew (aufgenommen im November 2021)
Viktor Jerofejew: „Russland ist eine Zivilisation, die immer noch eher asiatisch als europäisch ist. Dort glaubt man eher an einen Kult der Macht als an Humanismus.“ (Imago/ Sergei Karpukhin/TASS)
Viktor Jerofejew gilt als einer der prominentesten Putin-Kritiker. Vor Kurzem hat der 74-Jährige seine Heimat in Richtung Deutschland verlassen und zuletzt einige Tage im Heinrich-Böll-Haus bei Düren gewohnt.
Die russische Realität sei eine „Fernseh-Realität“, die den Leuten seit Jahren erzähle, sie seien das Licht der Welt, während die Ukraine und der Westen die Dunkelheit verkörperten. „Deswegen müssten wir die Ukraine angeblich befreien“, erläuterte Viktor Jerofejew im Gespräch mit dem Büchermarkt. Die russische Bevölkerung sähe nicht die Aggression des eigenen Landes, sondern nur jene der Welt um sie herum. „Darum ist es so schwierig zu verhandeln, weil die Werte total gegensätzlich sind.“

Das Interview in voller Länge:

Gisa Funck: Sie sind kürzlich aus Russland emigriert. Was war der Anlass dafür?
Viktor Jerofejew: Nun, ich würde sagen „emigriert“. Denn zur ganzen Wahrheit gehört, dass ich zwei Seelen habe: Eine russische und eine europäische. Ich habe ja seit meiner Kindheit immer wieder auch viel Zeit in Paris verbracht. Ich fühle mich also auch in Europa zuhause. Und zuletzt hörte ich auf meine europäische Seele – und die riet mir: Es ist Zeit zu gehen und ein bisschen in Deutschland und Frankreich zu arbeiten.“
Funck: Sie haben zuletzt einige Tage im Heinrich-Böll-Haus bei Düren gewohnt, exakt in demselben Haus, in dem Heinrich Böll 1974 auch schon den russischen Dissidenten-Schriftseller Alexander Solschenizyn untergebracht hatte. Wie sehr war Ihnen das bewusst?
Jerofejew: Natürlich, das war mir sehr bewusst! Ich hatte immer dieses Bild von Böll und Solschenizyn vor Augen, während ich auf der Terrasse dort saß. Ich habe Böll auch mal vor vielen Jahren persönlich in Moskau getroffen. Davon habe ich noch ein Foto, wir zwei und die Mannschaft vom „Metropol“-Magazin, das ich damals gegründet hatte. Das war eine Underground-Zeitschrift, in der wir Kurzgeschichten, Essays und Lyrik veröffentlichten – die dann aber von der Sowjet-Zensur verboten wurde. Also, Sie sehen: Ich bin ein Dissident mit einer langen Erfahrung    
Funck: Natürlich müssen wir heute auch über den russischen Einmarsch in der Ukraine sprechen. Das ist ja ein Szenario, vor dem Sie seit 2014 immer wieder gewarnt hatten. Wie wütend sind Sie heute, dass ihre Warnungen vor einem Krieg Putins so lange ignoriert wurden – in Deutschland und der westlichen Gemeinschaft?
Jerofejew: Ja, völlig richtig. Ich hatte schon nach dem Überfall auf die Krim den Eindruck, dass ein Krieg beginnt. Ich habe dann viel über diese Aggression geschrieben und jetzt kurz vor dem russischen Einmarsch noch einmal einen FAZ-Artikel, in dem ich noch mal sagte: „Seid vorsichtig, dieser Krieg ist möglich!“ Ich fühlte einfach, dass es so weit kommt. Das war wohl meine Schriftsteller-Intuition: Ich hab’s gefühlt, ich hab’s gerochen – und ich war erschrocken darüber.   

Russland und seine „Fernseh-Realität“

Funck: In Ihrem letzten Artikel in einer deutschen Zeitung beschreiben Sie den russischen Krieg in der Ukraine als eine „doppelte Apokalypse“. Apokalypse bedeutet: Das Ende der Welt. Ist die Situation wirklich so hoffnungslos für Europa?
Jerofejew: Sie ist weniger hoffnungslos als die Realität. Wir haben ja gerade zwei Realitäten: Eine europäische mit ihren humanistischen Werten, die ich persönlich teile. Und eine russische Realität, eine Fernseh-Realität, die den Leuten seit Jahren erzählt, sie seien das Licht der Welt, während die Ukraine und der Westen die Dunkelheit verkörpern. Deswegen müssten wir die Ukraine angeblich „befreien“.
Was also wirklich ziemlich hoffnungslos ist, ist die politische Kultur meiner Landsleute. Denn in einem so autokratisch regierten Land wie Russland hat niemand an der Spitze ein Interesse daran, den Bürgern eine gute politische Kultur zu vermitteln. In gewisser Weise sind die darum wie Kinder. Keine lachenden, glücklichen Kinder, sondern harte Kinder, die um sich herum Feinde sehen – und die nicht ihre eigene Aggression wahrnehmen, sondern nur die Aggression der Welt um sie herum. Darum ist es so schwierig zu verhandeln, weil die Werte total gegensätzlich sind. Und es ist ja auch noch nicht klar, ob nicht vielleicht noch nukleare Waffen zum Einsatz kommen. Das ist überhaupt noch nicht klar.

Russland ist eine Zivilisation, die immer noch eher asiatisch als europäisch ist. Dort glaubt man eher an einen Kult der Macht als an Humanismus.

Funck:  Viele Menschen in Deutschland und Europa können nicht verstehen, warum es so wenige Proteste in Russland gegen Putins Krieg in der Ukraine gibt. Sie selbst haben in ihrem letzten Artikel geschrieben: Die meisten Russen wären eigentlich gar nicht an diesem Krieg interessiert. Wie kann das sein?
Jerofejew: Sehen Sie, das zeigt genau die Fehleinschätzung des Westens, die auf dem Glauben beruht, dass ein Menschenleben das wichtigste ist. Aber schauen Sie nach China oder nach Nord-Korea! In solchen Staaten ist ein Menschenleben auch nicht so wichtig. Russland ist eine Zivilisation, die immer noch eher asiatisch als europäisch ist. Dort glaubt man eher an einen Kult der Macht als an Humanismus.
Es gibt zwar circa 15 Prozent der Bevölkerung, die Russland für europäisch halten. Und von denen protestierten am Anfang auch einige auf den Straßen gegen den Krieg. Aber die Reaktion der Behörden darauf war sehr hart. Solche Proteste können mit mehrjähriger Gefängnishaft bestraft werden. Auf diese Weise wurden sie gestoppt. Und diese 15 Prozent der russischen Bevölkerung, die leben hauptsächlich in den großen Städten wie Moskau oder Sankt Petersburg. Alle anderen aber glauben fest an Putins Herrschaft und daran, dass er ein Führer ist, der besser als sie selbst weiß, was zu tun ist und wie zu kämpfen.   

"Russen halten Demokratie für eine schwache Staatsform"

Funck: Bedeutet das, dass die russische Gesellschaft so zerstört durch ihre lange Diktatur-Erfahrung ist, dass sie immer noch nicht bereit für die Demokratie ist?
Jerofejew: Ich würde nicht von „zerstört“ sprechen. Denn, um etwas zu zerstören, muss etwas zum Zerstören da sein. Aber da ist nichts an demokratischer Mentalität zu zerstören in Russland. Stattdessen herrscht eine brutale Mentalität vor, die eigentlich noch aus der mittelalterlichen Mongolen-Zeit stammt. Meine Landsleute sind also tatsächlich nicht reif für die Demokratie, weil sie gar nicht wissen, was das ist. Sie schauen auf den Westen und halten eine Demokratie für eine schwache Staatsform voller Kompromisse. Und die Fernsehpropaganda verstärkt dieses Denken.      
Funck: Sie arbeiten gerade an einem neuen Roman, der „Der große Gopnik“, so heißt es. Wovon handelt der?
Jerofejew: Ach, ich hatte vorher ein Buch, das auch in Deutschland recht populär wurde, es heißt: „Der gute Stalin“. Das war meine Autobiografie bis zum Ende des vorigen Jahrhunderts. Und ich wollte diese Autobiografie jetzt weiterschreiben. Und dabei fiel mir auf, dass Putin Ende des letzten Jahrhunderts ja ebenfalls auf der Bildfläche erschien. Und da verstand ich, dass wir beide parallele Lebenswege haben.
Putin ist allerdings jemand, der aus einer sehr armen Sankt Petersburger Familie kommt und für den das Wort „Sieg“ das wichtigste Wort überhaupt ist. Er hat verinnerlicht, dass er nie besiegt werden darf. Und mit seiner Kindheit plus seinem Job beim KGB ist er dann zu der Person geworden, die er heute ist, von den Werten her sehr weit von mir entfernt.
Also entschied ich ein Buch über zwei parallele, völlig unterschiedliche Leben zu schreiben.  Und dieses Buch fing eigentlich erst sehr ironisch an. Jetzt aber ist alle Ironie daraus verschwunden und ist es zu einer echten Tragödie geworden. Und es wird wohl mein nächstes Buch werden.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.