"Indische Hunde, geht nach Hause": Die Stimmung ist aufgepeitscht, die Schlachtrufe sind wütend. Erst sind es nur wenige, dann werden es immer mehr. Die Demonstranten, die sich nach dem Freitagsgebet in Kaschmirs Hauptstadt Srinagar versammeln, sind ganz überwiegend männlich und jung, viele sind noch Kinder.
"Diese Menschen hier folgen nicht den Separatisten, sie folgen nicht der Regierung, sie folgen nicht der indischen Armee. Sie folgen nur ihrem Willen", erklärt ein junger Student herausfordernd und ergänzt:
"Die Inder hissen ihre Flagge in Kaschmir wo immer sie wollen, aber niemals in unseren Herzen."
Mit Tränengas gegen Demonstranten
Die Polizisten mit Helm und Schutzschild werden nervös und feuern ohne Vorwarnung mit Tränengas und ohrenbetäubenden Blendgranaten. Die Augen tränen, die Lunge brennt, die Orientierung schwindet. Die Demonstranten rennen weg, einige stürzen, wenig später hagelt es Steine auf die Sicherheitskräfte. Die nehmen die Verfolgung auf. Ein Helikopter taucht am Himmel auf, um die Truppen unten zu dirigieren.
Solche Jagdszenen gehören seit dem 8. Juli zum Alltag im indischen Teil Kaschmirs. An diesem Tag erschossen Sicherheitskräfte Burhan Wani. Einen 22-jährigen Kämpfer, auf den die indischen Behörden ein hohes Kopfgeld ausgesetzt hatten – wegen terroristischer Aktivitäten. Doch für die Jugendlichen in Kaschmir war Burhat Wani kein Terrorist, sondern ein Freiheitskämpfer, erklärt der kaschmirische Journalist Shujaat Bukhari.
"Burhan steht symbolisch für die Wut der jungen Generation. Er hat die Jugendlichen mit seinen Facebook-Videos für sich eingenommen. Wir sitzen hier in Kaschmir auf einem Vulkan. Es braucht nur einen Funken, um ihn zum Ausbruch zu bringen. Burhan war dieser Funke."
Weiteres blutiges Kapitel in der Geschichte Kaschmirs
Die Gewalt, die nach Burhan Wanis Tod ausgebrochen ist, fügt der tragischen Geschichte Kaschmirs ein weiteres blutiges Kapitel hinzu. Das früher unabhängige Fürstentum in der Himalaya-Region ist seit 1947 geteilt. Damals zerfiel das britische Kolonialreich. Mit Indien und Pakistan entstanden zwei Staaten, die sich bis heute feindlich gegenüberstehen und das muslimisch geprägte Kaschmir ganz für sich beanspruchen. Auch China hat sich einen kleinen Teil einverleibt. Kaschmir gehört heute zu den am stärksten militarisierten Gebieten der Welt.
Im größten staatlichen Krankenhaus in Srinagar kämpft Mubashir um sein Augenlicht. In seinem Gesicht sind kleine Kugeln eingeschlagen, abgeschossen aus den Pelletgewehren der paramilitärischen indischen Polizisten, die die Unruhen eindämmen sollen. Vermutlich wird Mubashir erblinden wie dutzende andere junge Demonstranten. Er hat Steine geworfen, andere greifen auch mit Molotow-Cocktails und brennenden Reifen an.
"Unsere Kinder sterben. Sie sind unschuldig. Das muss aufhören, die Regierung muss das stoppen", fleht Mubashirs verzweifelte Mutter, die an seinem Bett Wache hält.
"Warum lassen die Eltern das zu? Wo sind die Älteren? Wo ist die Zivilgesellschaft, warum gibt es dieses Vakuum?", fragt sich Kommandant Rajesh Yadav, der Sprecher der paramilitärischen Polizei-Einheiten, die in Kaschmir stationiert sind.
"Überall auf der Welt gibt es friedliche Formen des Protests. Warum werden in Kaschmir nur Steine geworfen? Unsere Jungs sind für die Regierung im Einsatz. Und wenn sie angegriffen werden, wehren sie sich. Sie haben das Recht auf Selbstverteidigung. Wir halten uns im Höchstmaß zurück", versichert Yadav.
Extremistische Gruppen in Pakistan wollen Kaschmir befreien
Das Leben steht still – bis zur nächsten gewaltsamen Demonstration. Die Behörden haben eine Ausgangssperre verhängt, die Anführer der separatistischen Parteien haben einen Generalstreik angeordnet. Die Separatisten leben in Srinagar unter Hausarrest in prächtigen Villen. Der Straßenkampf wird von Jugendlichen und Kindern ausgefochten. Indien beschuldigt Pakistan, die jugendlichen Straßenkämpfer zu bezahlen. In Pakistan gibt es viele extremistische Gruppen, die vorgeben, das muslimische Kaschmir von der Fremdherrschaft Indiens befreien zu wollen.
"Ich möchte sagen, dass … Ich möchte sagen, dass ich …”
Der junge Mann ringt um Worte. Er ist Student und will Ingenieur werden. Seine Uni ist wegen der Unruhen geschlossen.
"Wir fühlen uns eingesperrt. Wie im Käfig. Indien benutzt unser Land, ohne uns Menschen zu wollen. Indien will seine Grenzen sichern und verhindern, dass Leute aus Pakistan einsickern oder China einmarschiert", sagt der junge Mann aufgewühlt. Er wirft keine Steine und wird doch von der Gewalt zerrieben. Der Student sehnt sich nach einem normalen Leben. Er fragt sich, warum dem Rest der Welt egal ist, was in Kaschmir passiert.
"Ich möchte der indischen Regierung sagen: Gebt uns wenigstens die Chance, uns auf unserem eigenen Boden frei zu bewegen. Wann immer ich das Haus verlasse, um etwas einzukaufen, muss ich an Bewaffneten vorbei. Wir fühlen uns bedroht."
Fast 70 Jahre nach der Teilung Kaschmirs ist eine politische Lösung nicht in Sicht. Es gibt keine politischen Gespräche zwischen Indien und Pakistan. Und es gibt keine politischen Gespräche zwischen den Separatisten im indischen Teil und der indischen Regierung. Zwar sickern heute weniger Kämpfer aus dem pakistanischen Teil Kaschmirs in den indischen ein. Doch stattdessen entscheiden sich im indischen Teil selber immer mehr junge Kaschmiris für den bewaffneten Kampf – wie Burhan Wani.