Wir gehen wieder aus, wir sind geimpft, jedenfalls die meisten, wir treffen unsere Freunde wieder leiblich, die Geschäfte füllen sich und auch die Büros. Und das große Thema des Wahlkampfes ist der Benzinpreis. Alles also wieder wie sonst?
Inventur und Neustart
Eine Reihe in drei Teilen
- Überlegungen zur Zukunft des Staates (13.06.2021)
- Gedanken zur Rolle der Wissenschaft in der Energiewende (20.06.2021)
- Überlegungen zur Bildung und Schule der Zukunft (27.06.2021)
Zwei Erfahrungen aus dem letzten Jahr verdienen es, über den Wahlkampf hinaus gerettet zu werden. Erfahrungen, die in die Zukunft weisen. Das eine ist die Erfahrung aus den ersten Monaten der Pandemie, dass die alten sozialen Reflexe doch noch da sind. Offenbar gibt es da menschliche Eigenschaften, die selbst nach jahrzehntelangen Exzessen des Individualismus und Konsumismus noch intakt sind.
Die Zettel vom Nachbarn an der Tür, ob man was mitgebracht kriegen will; die Urtechniken des Backens und des Hortens; die Chauffeurdienste für Gebrechliche, der kleine Kaffee für den Paketboten – der Mensch, so sagte es der Psychiater Klaus Dörner einmal, der Mensch ist helfensbedürftig. Und auch die kollektive Vernunft und der gesellschaftliche Zusammenhang erwiesen sich, aufs Ganze gesehen, als ziemlich intakt.
Offenbar gibt es den "Yes-We-Can-Trieb"
Die gute alte Realwirtschaft ging "in den Kriegsmodus". So schrieb es martialisch die Welt. Die Frauen bei Trigema nähten hunderttausende von Masken, SEAT versuchte sich in der Produktion von Beatmungsgeräten mit Hilfe von PKW-Türhebern, pensionierte Feuerwehrleute organisierten Behelfskrankenhäuser in fast schon chinesischer Geschwindigkeit, und selbst Lamborghini machte sich nützlich. Bürger aller Klassen schlossen sich innerhalb von Tagen zu einer großen gemeinsamen Anstrengung zusammen, so als hätten sie nur darauf gewartet, dass sie endlich mal gefordert werden. Und abends standen wir auf den Balkons und machten es den Italienern nach.
In dem Maße, in dem sich dann überraschenderweise und schneller als gedacht, der Impfstoff als silberne Kugel am Horizont zeigte, verflogen die kleinen Revolutionen allmählich im Alltag. Schwindende Spuren von Aufbruch, nur Warten auf Biontech und jeden Abend um acht die Inzidenzstandsmeldungen. Die kapitalistische Industriemoderne hatte uns wieder, mit ihrem Versprechen, dass alles immer da ist, und dass es für alles eine technische Lösung gibt. Aber irgendetwas fehlt. Offenbar gibt es doch so etwas wie den "Yes-We-Can-Trieb". Vielleicht reden die Spindoktoren der Parteien deshalb gerade so viel vom Aufbruch. Schwierig wird’s nur, wenn der Aufbruch konkret werden soll.
Globale Zusammenhänge wurden durch Corona spürbar
Und das hat mit der anderen Erfahrung zu tun aus diesem Corona-Jahr: mit der Erweiterung der sozialen Wahrnehmung hin zu einem umfassenderen Bild der Welt. Die Videos von Klimaflüchtlingen hatten sich mit denen von den seuchenbedingten Grenzschließungen verbunden; die Meldungen vom Hunger in Afrika mit dem Streit der Giganten über die Patentierung von Impfstoff; die Cyberattacken auf das Gesundheitssystem mit den Bildern von unterversorgten Intensivstationen. Die stillgelegten Einkaufsstraßen und das explosive Wachstum von Amazon und die Verdopplung des Vermögens von Jeff Bezos. Der Nachschubstau bei Laptops und die Lieferschwierigkeiten taiwanesischer Super-Chips und der Stau im Suez-Kanal; Pelztierhandel und Virenwanderung: Globale Zusammenhänge und Abhängigkeiten aller Art, vor allem von China, wurden schmerzlich spürbar in vielen Branchen. Urbi und orbi verbanden sich, nicht segensvoll, sondern quälend.
Wir wissen das schon lange – oder können es doch wissen; nur unser Wortschatz, der hinkt noch hinterher. Konzepte wie "Risikogesellschaft" oder auch "Nachhaltigkeit" sind obsolet geworden. Wer Krise sagt, der denkt immer noch an Wiederherstellung. Wer Nachhaltigkeit sagt, der glaubt an die Herstellbarkeit von Dauer und Stabilität. Aber wir leben nicht mit Risiko, sondern in der Gefahrenzone, und was "progressives Artensterben, dynamischen Klimawandel, Vermüllung des Landes und der Meere sowie den Umgang mit Atommüll angeht, haben wir längst den Punkt verpasst, an dem das letztlich konservative Nachhaltigkeitsprinzip noch hätte greifen können", schreibt der Münchner Juraprofessor Jens Kersten. Und er fragt: "Was kommt nach der Nachhaltigkeit? Welche Gesellschaft kommt nach der Risikogesellschaft?"
Ein neuer Begriff hat sich eingeschlichen, ein Begriff, der bezeichnet, dass die Menschheit insgesamt – wenn auch zu ungleichen Maßen betroffen, in ungleicher Weise profitierend, auf ungleiche Weise leidend – dass die Menschheit die Oberfläche, den Untergrund, die Meere und die Atmosphäre in ungute Regie genommen hat: Anthropozän.
Universalgenie Leonardo – vor der Spezialisierung des Wissens
Neu ist der Tatbestand nicht, nur um Dimensionen größer. In der Berliner Staatsbibliothek kann man zurzeit in einer kleinen feinen Ausstellung den Wissenskosmos des Leonardo da Vinci besichtigen: Zeichnungen, Modelle, Berechnungen, Notizen, Bücher aus einer Zeit vor unserer Neuzeit, in der die "intellektuellen, handwerklichen und künstlerischen Praktiken noch nicht so deutlich geschieden waren, wie sie es in den Jahrhunderten wurden, die auf ihn folgten."
Leonardo, so schreibt es Jürgen Renn im Katalog der Ausstellung, Leonardo hat "Zusammenhänge hergestellt, die in der späteren Entwicklung mit ihrer zunehmenden Spezialisierung und Kanonisierung des Wissens wieder verloren gegangen sind – etwa beim Zusammenhang von Fossilien und der geologischen Geschichte der Erde", und er hat künstlerische, philosophische, wissenschaftliche und technische Sichtweisen in seinem Werk verbunden: liebenswürdige Skizzen von der Oberfläche der Erde und der Körper, die sich auf ihr bewegen, mit ihrer analytischen und mathematischen Durchdringung. Und auch die Ambivalenz der wissenschaftlichen Erkenntnis und ihrer Praxis findet sich in Leonardos Werk: wunderschöne Zeichnungen des Arnotals, aber auch das größenwahnsinnige Projekt, diesen Fluss umzulenken, um der Stadt Pisa das Wasser abzugraben und Florenz in einen Mittelmeer- und Militärhafen zu verwandeln.
Leonardo, das Universalgenie, stand zwischen den Epochen. Auf ihn folgten die Aufbrüche der frühen Neuzeit: die Nova Scientia: die Mathematisierung der Naturerkenntnis und die experimentelle Physik Galileos, die Ablösung der Alchimie durch die Chemiker, die Sezierung des menschlichen Körpers durch Vesalius, die Spezialisierung des Wissens in Disziplinen. Es war eine Zeit der großen Entdeckungen und des Aufbruchs in unbekannte Welten – mit Techniken, die das Leben sicherer machten, die Arbeit revolutionierten, die Eroberung der Welt ermöglichten – mit dem Betriebsstoff Kapital, das den Prozess antrieb.
Es gibt keine unbeteiligten Beobachter mehr, nur Beteiligte
"Jetzt schließen sich die Horizonte wieder", sagt Jürgen Renn, der Direktor des Berliner Max-Planck-Instituts für Wissenschaftsgeschichte ist und Mitglied der Nationalen Akademie Leopoldina, "und diese Schließung ist eine Herausforderung, auch für die Wissenschaftler, die noch in der Denkweise und den Disziplinen der ersten Kopernikanischen Wende stecken." Nicht mehr Forschungsdrang und Wissenslust allein, sondern die Massivität der Eingriffe in die natürlichen Kreisläufe, die Wissenschaften, Technik und Kapital über Jahrhunderte vorgenommen haben, nötigen uns heute dazu, die Welt als Ganze zu denken.
"Eigentlich", sagt Jürgen Renn, "eigentlich hat auch das schon angefangen mit Kopernikus, der die Himmelskörper und die irdische Bewegung in einem Zusammenhang sah." Heute erfahren wir – und Corona hat es noch einmal provoziert –, dass die Trennung zwischen Subjekt und Objekt – dort Natur, hier die menschliche Aktivität – nicht mehr funktioniert; heute nehmen Wissenschaftler die ganze Erde in den Blick, wenn auch unendlich detaillierter und arbeitsteiliger als in der ganzheitlichen Weltsicht des Renaissance-Künstler-Forschers Leonardo.
Es ist eine zweite kopernikanische Wendung des Blicks: nicht Ausgriff ins Unendliche, sondern die reflexive Rückwendung auf den Planeten. Das Anthropozän ändert das Verhältnis der Wissenschaft zu ihren Gegenständen: Wenn der Stoffwechsel der Menschengattung mit der Natur die Beschaffenheit der Erde verändert, dann gibt es keine unbeteiligten Beobachter, dann gibt es nur Beteiligte. Erkenntnis ist immer erkennende Praxis, als Veränderung des Verhältnisses von Experimentator und Gegenstand – die Physiker wissen das seit einem Jahrhundert –; aber es gilt, und das immer mehr und in planetarischem Ausmaß, nicht länger nur im Labor, sondern in dem Realexperiment des fossil getriebenen Fortschritts.
Und das kehrt auch die Fragerichtung der Wissenschaften um. Nicht mehr "Wohin entwickelt sich das Ganze" ist die Leitfrage, sondern: "Welche Entwicklung muss vermieden werden" – und mit welchen Mitteln und an welchem Ort – und mit welchen Konsequenzen. Wenn man so will: Die Welterkenntnis wird zur Navigationskunst. Die Wenn-Dann-Kausalität wird überholt von einer Das‑Damit‑Relation. Nicht "Wenn alles so weitergeht, werden die Polkappen schmelzen"; sondern "Das müssen wir machen, damit der Golfstrom nicht stillsteht". Und das alles nicht unter einem offenen und unendlichen Zukunftshorizont. Erkenntnis der irdischen Natur hat eine Frist bekommen.
"Sicher", so führt Renn den Gedanken weiter, "wir sehen, dass wir unsere Lebensweise ändern müssen. Wenn man diese Aufgabe dann in ihrer ganzen Komplexität sieht, stellt sich die Frage: Wo muss der Hebel angesetzt werden? Man kann nicht alles gleichzeitig machen: die Natur schützen, die Arten bewahren, die Ungleichheit auf der Welt, den Kapitalismus abschaffen. Es gibt eine lange Wunschliste, es gibt die Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen, aber die Zeitdimension zwingt uns die Prioritäten auf. Die Klimakrise ist die größte Bedrohung. Deshalb muss die globale Energiewende der Fokus sein."
Anthropozän, das Zeitalter der Menschen
Anthropozän – das Wort hat Karriere gemacht, zuerst bei den Sozial- und Kulturwissenschaftlern, die immer begierig nach neuen Deutungsmustern greifen, zunehmend nun auch in den sogenannten "harten" Wissenschaften von der Natur. Anthropozän – das Zeitalter der Menschen. Wer Menschheit sagt, will betrügen, so der alte Spruch von Carl Schmitt; es ist nicht die Menschheit, die handelt, sondern es sind Menschen, Gruppen, Mächte, die den Prozess antreiben. Man könnte also, schreibt Jürgen Renn, vielleicht sogar präziser auch "Kapitalozän" sagen – aber Anthropozän sei umfassender, impliziere die Brücke zwischen den Wissenschaften.
Und es ist auch, so denke ich, optimistischer, offener: Anthropozän, das Zeitalter der Menschen: Wer weiß, wozu wir noch fähig sind? Aber unabhängig davon, ob man den Begriff benutzt: Das Bewusstsein von systemischen, globalen Zusammenhängen ist gewachsen, nicht nur in den computergestützten und immer komplexeren Modellen der Erdsystemwissenschaft. So wird in der Max‑Planck‑Gesellschaft ein Institut für Geoanthropologie konzipiert, das die Einheit von Menschengeschichte und Naturgeschichte, die Wechselwirkungen von homo sapiens und Erde untersuchen soll. Und Jürgen Renn ist der Initiator dieses Projekts.
Die empirischen Wissenschaften zogen seit ihrem Beginn eschatologische Hoffnungen auf sich: die Verbesserung der Welt, den Anbruch einer neuen Zeit. Die naturrechtlichen und utopischen Inselfantasien des 16. und 17. Jahrhunderts verbanden technische, soziale kosmologische Spekulationen. Heute hängt zwar nicht ein endzeitliches Heil, wohl aber die Bewahrung erträglicher Lebensbedingungen auf unserem Planeten an den Erkenntnissen der Wissenschaften. Und daran, dass die Lebensweise und die Mentalitäten von Milliarden von Menschen sich an diesen Erkenntnissen orientieren.
Die "Nova Scientia", die neue Wissenschaft, die wir heute brauchen, um unseren Stoffwechsel mit der Erde zu reformieren, diese Wissenschaft ist noch im Entstehen. Eine Wissenschaft, die dabei hilft – so formuliert Jürgen Renn es tastend – die Erde zu "kuratieren". Bei Voltaire hieß das: Wir müssen unseren Garten bestellen.
Die globale Klimakatastrophe noch abwenden
Wissenschaft braucht Zeit. Die aber drängt. Die Frist, in der wir die Klimakatastrophe noch abwenden können, ist bezifferbar, die Werkzeuge, die dazu erforderlich sind, liegen bereit. Und so wie es aussieht, geht es dabei auch um Maßnahmen, die weder rechts noch links, weder in grünen noch in technoliberalen Kreisen auf dankbaren Boden fallen werden. So ist es berechenbar, dass aus Gründen regionaler Geographie und globaler Gerechtigkeit der Schwerpunkt der Energietransformation nicht in Europa, sondern im globalen Süden, in Afrika und Indien liegen muss.
Und das heißt: Das Argument der Weitermacher und Blockierer, Deutschlands Beitrag zur Erwärmung der Erde sei ja nur zwei Prozent – dieses Argument richtet sich gegen sich selbst; es läuft auf die Konsequenz hinaus, dass die reichen und früh kapitalisierten Gesellschaften a tempo nicht nur ihre Emissionen senken und dabei technologische Führung erringen, sondern dass sie in Indien und Afrika nachhaltige Energiesysteme finanzieren müssen. Es wird also teuer für uns, für alle – auch für die unteren Gehaltsklassen – um diese Einsicht drücken sich nicht nur Wahlkämpfer.
"Die meisten Politiker haben die Dimension des Ganzen noch nicht verinnerlicht", sagt mir Robert Schlögl, Chemiker, Direktor am Fritz‑Haber‑Institut der Max‑Planck‑Gesellschaft, wie Jürgen Renn Mitglied der nationalen Akademie Leopoldina und deren stellvertretender Präsident. Es geht nicht nur um ein paar technische Innovationen und um Umweltschutz, sondern um den Umbau des gesamten Energiesystems in kurzer Zeit. Und das unter den Bedingungen des wissenschaftlichen Pluralismus und des real existierenden Parlamentarismus. Und das macht es kompliziert.
Denn anders als in der frühen Neuzeit, in der ein König und sein Finanzminister entscheiden konnten, ob eine Manufaktur gebaut wird und wo ein Kanal, besteht heute der Souverän auch in industriepolitischen Fragen aus vielen Interessengruppen, moralischen Communities, Expertenkulturen – und dem Wahlvolk als Ganzem. "Die" Wissenschaft gibt es da ebenso wenig wie "die" Wirtschaft, und der übliche Modus, Kompromisse auszuhandeln, könnte verderblich sein, wenn er zu falschen, ideologisch oder machttheoretisch motivierten Entscheidungen führt. Entscheidungen, die im Fall großtechnischer Infrastrukturen für Jahrzehnte Bestand haben.
Politische Fehlentscheidung: die Atomenergie
Bestes Beispiel für eine Fehlentscheidung in der jüngsten Zeit: die Atomenergie. Inzwischen gibt es einen Konsens, dass es nicht die Wirtschaft war, die diese nur scheinbar effiziente Energiequelle unbedingt wollte, sondern die politische Elite – Adenauer und Strauß – vor allem aus Atommacht-Prestigegründen.
Es gibt nicht nur eine Lösung unseres Energieproblems, nur das Ziel steht fest, die Nullemissionswirtschaft; und die wichtigste Aufgabe der Politiker besteht darin, sagt Robert Schlögl, "den Menschen klar zu machen, dass wir nur mit einem geänderten System der Energieversorgung eine Zukunft haben. Das wird etwas kosten, also gewöhnt Euch lieber gleich daran" müsse die Botschaft an die Wähler und an die Industrie sein. "Fossil ist nicht mehr. Das haben wir mit dem Vertrag von Paris beschlossen. Basta." In diesem Abkommen haben 195 Staaten vereinbart, die CO2‑Emissionen bis zum Jahr 2050 auf null zu bringen. Einen zivilen Mondflug hat die EU-Kommisssionspräsidentin von der Leyen das genannt – und das ist mehr als eine Metapher: eine Aufgabe, so groß, dass sie nicht zu bewältigen sei, wenn fünf oder mehr Ressorts denselben Prozess konfliktreich und stotternd steuern in einem Kräfte‑Parallelogramm aus Lobbyinteressen und Zuständigkeiten.
"Es bedarf" – so formuliert es der Chemiker Schlögl, der Katalyseforscher ist, also ein Spezialist für die Beschleunigung von Prozessen – "es bedarf der Projektsteuerung mit klaren Zielvorgaben und Fristen und Verantwortlichkeiten." "Missionsprinzip" nennen das die Ökonomen. Konzentration ist dazu erforderlich und Kontinuität.
"Entscheiden muss die Politik, das Parlament", sagt Schlögl, "die Steuerung muss dann zentral erfolgen, als Chefsache." Aber in die Vorbereitung dieser Entscheidungen müsse der gesammelte Sachverstand des Landes eingehen, müssten alle Optionen auf den Tisch und abgewogen werden angesichts eines technologischen Schubs, der Konsequenzen für Unternehmen, Arbeiter, Regionen, für internationale Beziehungen und Handelsströme hat.
Chemiker Schlögl: Wissenschaftler müssten der Politik Handlungsoptionen vorlegen
"Die organisierte Wissenschaft", erklärt Robert Schlögl, "hat hier eine Mission, jenseits unserer spezialisierten Arbeiten. Hier könnten wir als Zusammenschluss von Spezialisten nützlich werden bei der Lösung einer allgemeinen großen Aufgabe. Aber es gibt immer noch zu viele meiner wissenschaftlichen Kollegen, die meinen, unsere Aufgabe sei es, der Gesellschaft zu sagen, wie es geht und wo es langgeht. Nein. Die Aufgabe der Wissenschaftler ist es, die Handlungsoptionen herauszuarbeiten und der Politik vorzulegen."
Denn da es sich um große, robuste und eingreifende Planungen handelt, muss ein solcher Prozess in der Demokratie gesellschaftlich abgesichert sein. In diesem Sinne hat die Nationale Akademie Leopoldina, zusammen mit dem Rat für Nachhaltige Entwicklung in diesem Monat der scheidenden Kanzlerin ein Papier mit umfassenden Empfehlungen überreicht, getragen vom nüchternen Pathos der Dringlichkeit. Es komme darauf an, dass in der nächsten Legislaturperiode "signifikante Fortschritte" erreicht werden.
"Es wird schiefgehen", betont Schlögl mit rhetorischem Nachdruck, "wenn es nicht schnell gelingt, die Energiewende zu einem parlamentarischen Prozess mit Gesetzgebung zu machen. Verordnungen reichen nicht, und auch nicht die Vergrößerung der Verwaltung. Was wir brauchen, ist ein Parlamentsausschuss für die Energiewende, der die Regierung kontinuierlich zwingt, Optionen vorzulegen, über die dann entschieden wird." Denn es muss schnell gehen, auf vielen Gebieten, in vielen Dimensionen.
Wasserstoff-Knowhow als Gelddruckmaschine
Nur ein Beispiel. Teil der Klimaneutralitätsstrategie ist die Wasserstoffwirtschaft. Wasserstoff wird der wertvollste Energieträger einer postfossilen Zukunft sein, in der es weiterhin Schwerindustrie, Chemie, Langstreckenflüge und Ozeanschiffe gibt – für den Automobilverkehr kommt er einstweilen, weil zu teuer, weniger in Frage. Die Größe des deutschen Bedarfs an Wasserstoff aber hängt davon ab, ob das Land weiterhin Stahl- und Chemiestandort sein, vor allem aber, ob die deutsche Wirtschaft und Wissenschaft führend im Bau der Wasserstofftechnologien werden will.
"Grüner" Wasserstoff benötigt zu seiner Herstellung große Mengen von Wind- und Sonnenstrom. Sehr große Mengen, das erfordert die Kooperation mit Standorten in Osteuropa und Nordafrika und darüber hinaus. Daraus folgen große Herausforderungen für Logistik, für Investitionsstrategien, Infrastrukturentscheidungen, Wirtschaftspolitiken, Handelsvereinbarungen und Sicherheitsabkommen. Der Wettlauf, wer diese Technik als erster marktreif produzieren kann, hat begonnen. Wer das Wasserstoff-Knowhow hat und die Anlagen bauen kann, werde, so sagt es Robert Schlögl, eine Gelddruckmaschine besitzen – anders gesagt: Gestaltungsmöglichkeiten auch auf anderen Gebieten haben. Deshalb braucht es schnelle Entscheidungen: zunächst über die Energiestrategie als Ganze, aus der dann eine kohärente Steuerung der notwendigen staatlichen Infrastrukturplanung folgen kann. Denn die Infrastruktur muss der Allgemeinheit gehören, also vom Staat kontrolliert werden.
Schwierige politische Entscheidungsfindung
Und wer entscheidet nun über die Gesamtstrategie, wer verantwortet sie und wie wird sichergestellt, dass vor entscheidenden Weichenstellungen wirklich alle Optionen auf dem Tisch liegen, damit wir nicht in eine ähnliche Sackgasse geraten wie mit der Atomenergie, deren Folgeprobleme erst sichtbar und untersucht wurden, als die Würfel gefallen waren?
Früher hat der Bundestag zu solchen großen Fragen wie der Entscheidung über technologische Infrastrukturen parteiübergreifende Enquetekommissionen eingerichtet. Mit zweifelhaftem Erfolg: Oft waren es sehr gründliche und lange Untersuchungen, etwa der Künstlichen Intelligenz, Bildungsveranstaltungen für engagierte Parlamentarier aus den hinteren Reihen; aber sehr oft wurden diese großen Themen dann kontrovers und ideologisch verhandelt zwischen den politischen Profilierungsfronten und brachten es deshalb nicht zu praktikablen und zugespitzten Ergebnissen, die riskante und folgenreiche Entscheidungen des Parlaments hätten legitimieren können. Stattdessen leider oft die Kakophonie von Meinungen und Minderheitenmeinungen.
Die Zeit ist knapp
Wie die Entscheidung über den deutschen Energiepfad zur Kohlenstofffreiheit organisiert werden wird, das ist noch unklar. Eine Enquetekommission brauchte viel Willen zur Kooperation, vor allem aber viel Zeit. Und angesichts der Pariser Ziele und der Zustandsberichte des IPCC ist die Zeit sehr knapp geworden.
Die Lektüre des Papiers, das am 9. Juni die Leopoldina und der Rat für nachhaltige Entwicklung Angela Merkel überreichten, die Lektüre dieser 45 Seiten mit seinen 14 Empfehlungen hat mir ein Wechselbad der Gefühle bereitet. Es ist ein großartiger strategischer Aufriss für den Übergang in ein neues Energiezeitalter gemäß den Zielen des Pariser Abkommens, und das in 30 Jahren, Roadmap und Kursbuch für die postfossile Welt. Das berührt so ziemlich alle Dimensionen des Lebens und der sozialen Praktiken in unserer Zivilisation: von einer internationalen globalen Rohstoff-Diplomatie über die Umwälzung ganzer Industriezweige, des Mobilitätssystems, des Städtebaus, die Umstellung der Landwirtschaft auf andere Produktionsweisen, die Forschungsstrategien von Hochschulen, die Lehrpläne an Schulen und die Digitalisierung des Alltags, bis hin zu Recycling-Industrien, Stoffkreisläufen, neuen Ausbildungsgängen im Handwerk und Essgewohnheiten, und nicht zuletzt die Entwicklung neuartiger Finanzierungsmethoden, eine Kreditrevolution von Zentralbanken, Regierungsfonds, Versicherungen.
"Um Emissionen aus der Landwirtschaft zu reduzieren", heißt es zum Beispiel da knapp in nur zwei Sätzen der 45 Seiten, "muss diese insgesamt nachhaltiger werden. Für Konsument*innen steht der Wandel von Ernährungssystemen hin zu klimafreundlichen bezahlbaren Alternativen im Fokus." Es sind nur zwei karge Sätze auf diesen 45 Seiten, um deren Umsetzung allein seit einiger Zeit Ministerien, Industrien, Ökologen, Investoren und Ideologen mit harten Bandagen kämpfen, ebenso wie um Baugenehmigungen für Windräder. Und das sind doch nur die kleinen Vorhutgefechte einer großen Transformation, die noch gar nicht richtig begonnen hat. Und die nicht gelingt, wenn sie nicht von einem ökologischen, technischen und sozialen Enthusiasmus getragen wird, nicht nur der Techniker und Investoren, sondern der Bürger und Bürgerinnen, die das mit tragen, mit ertragen und mitmachen sollen.
Es braucht den Enthusiasmus der Bürgerinnen und Bürger
Es ist ein großartiger Aufriss und er ist erschreckend und niederdrückend. Großartig, weil er einige Träume enthält: den unwahrscheinlichen Traum von einer Menschheit, die es unternimmt, gemeinsam die Gefahr einer globalen Katastrophe abzuwenden und den Übergang in eine neue Epoche der Menschheit mit einem Überfluss an nachhaltiger Energie und wachsendem Wohlstand zu gestalten – und das auch noch demokratisch; den Traum von der Indienstnahme zweier Großkräfte der Menschheitsgeschichte, des Kapitals und der hartnäckigen Gewohnheiten. Und erschreckend ist dieser Traum, weil er so groß ist – und niederdrückend, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass er in dieser Konsequenz die nächsten Koalitionsverhandlungen prägen wird.
"Wir haben noch die Chance, die Entwicklung umzudrehen", sagt Robert Schlögl, "aber ich fürchte, am Ende dieses Jahrzehnts werden wir keine Wahlmöglichkeiten mehr haben, und diese Dringlichkeit ist in die Politische Diskussion immer noch nicht eingepreist. Wir diskutieren seit 20 Jahren und sind immer noch im Urschleim, statt etwas zu tun. Wir wissen genug um zu handeln." Die Wissenschaft hat seinerzeit die Marktplätze erobert, so steht es in Bertolt Brechts Leben des Galilei über die wissenschaftliche Revolution im 16. Jahrhundert, und eines von Robert Schlögls Projekten für die Leopoldina ist es, noch einmal die Aufklärung auf die Marktplätze zu bringen, vier Jahre lang, mit einer Ausstellung über den Klimawandel, in einem Bus, der in 200 Städte fährt.
Vor 20 Jahren: Gesetz über Erneuerbare Energien durchgesetzt
Es gibt viel zu erkunden, zu erforschen, zu machen – auf vieles kann man zurückgreifen, vieles geschieht in unbekanntem Terrain. Und viele Widerstände sind zu überwinden. "Oh Jahrhundert! oh Wissenschaften: Es ist eine Lust zu leben", das schrieb zu Leonardos Zeiten der kleinadlige Dichter und Ritter Ulrich von Hutten im Dezember 1518 an den Nürnberger Humanisten Willibald Pirckheimer. Eine verblüffende Aussage. Die Epoche der Ritter neigte sich dem Ende zu, die Bauern rebellierten, der Himmel hing schief, die Städte kämpften um Unabhängigkeit, neue Welten wurden entdeckt, und Luther stellte den alten Glauben und die europäische Herrschaftsordnung in Frage. Eine Lust zu leben?
Das Auftragsbuch der Transformation, von dem der Nachhaltigkeitsrat und die Akademie der Kanzlerin nur die Kurzfassung vorgelegt hat, sieht eine ganze Reihe von kleineren und größeren politischen, wissenschaftlichen, administrativen und ökonomischen, technischen Großtaten vor. Was daraus wird, ist noch nicht abzusehen. Große Entscheidungen muss man am Ende oder am Anfang einer Regierungsperiode treffen, sagte einmal Hermann Scheer, der vor 20 Jahren das Gesetz über die erneuerbaren Energien in einem Überrumpelungsakt durchsetzte.
Erster US-Klimapräsident: Jimmy Carter
"Helden des Rückzugs" schrieb Hans Magnus Enzensberger über die Dekonstrukteure des Kommunismus. Das war 1989, die Ideologen der Neuen Weltordnung sprachen vom Ende der Geschichte und der fossile Kapitalismus beschleunigte sich zur letzten Runde. Helden gebraucht für den Rückzug aus der fossilen Welt? Na ja, sagen wir mal: Viele aktive und helle Nachwuchskräfte der solaren Aufklärung werden gesucht, denn die wird nicht länger von einigen Großgestalten angetrieben, sondern ist ein arbeitsteiliger Prozess von Millionen von Wissenschaftlerinnen. Von Bürokraten. Von Aktivistinnen und öffentlichen Intellektuellen. Und nicht zuletzt von Politikern, die jene Eigenschaft haben, die wir in Deutschland nur auf Englisch nennen: Leadership.
"Guten Abend, ich habe ein ernstes Wörtchen mit Ihnen zu reden." Am 18. April 1977, vor 44 Jahren also, begann US-Präsident Jimmy Carter mit diesen Worten seine Ansprache an die Nation. Carter saß im Sessel, der Kamin brannte, er trug eine Strickjacke – das Ganze sollte an die fireside chats erinnern, die informellen abendlichen Ansprachen des großen New Deal‑Präsidenten Roosevelt, der die Bürger der Vereinigten Staaten mit erklärenden und aufmunternden und sehr eingänglichen, nicht abgehobenen landesväterlichen Reden durch die Jahre der Depression, des New Deals und des Krieges begleitete.
Ronald Reagon demontierte Carters Solaranlage
Jimmy Carter erklärte seinen Landsleuten, dass die Öl- und Gasvorräte der USA demnächst zur Neige gingen. Er forderte sie sehr direkt auf, weniger Strom zu verbrauchen, die Häuser besser zu isolieren und nicht länger mit den großen Schlitten zu fahren. Vorm Kongress erläutert er kurz darauf einen Plan, der darauf hinauslief, bis zum Jahr 2050 die USA auf erneuerbare Energien umzustellen.
Carter besteuerte die Ölkonzerne, gab die Umweltstudie "Global 2000" in Auftrag, in der zum ersten Mal von einer Klimaveränderung die Rede war. Auf dem Dach des Weißen Hauses ließ Jimmy Carter Sonnenkollektoren installieren. Vier Jahre darauf gewann Ronald Reagan die Wahl, demontierte die Anlage, strich das Energiesparprogramm, entließ hunderte von Forschern, Windparks verrotteten. Und was ist die Moral von dieser Geschichte? Jede Stimme zählt.