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Inzenierungsmarathon "X- Schulen"

Für das Theater HAU ist die Hector-Petersen-Gesamtschule, kaum hundert Meter von den Bühnen entfernt, kein unbekanntes Land. Schon seit drei Jahren erarbeitet man gemeinsame Projekte.

Von Hartmut Krug |
    Doch die Zuschauer des "X-Schulen"-Projekts kommen in eine ihnen fremde Welt, die sie aus vielen Zeitungsbeiträgen zu kennen meinen. 600 Schüler gehen auf diese Schule, 95 Prozent von ihnen besitzen einen Migrationshintergrund und viele kommen aus Familien, die von Hartz-IV leben.

    21 Künstler vom Theaterregisseur über die Tänzerin bis zum Modedesigner haben mit den 120 Jugendlichen der zehnten Jahrgangsstufe zahlreiche Spielsituationen und Mini-Performances entwickelt, die für die jeweils nur fünfköpfigen Zuschauergruppen auf drei unterschiedliche Rundgänge mit jeweils acht Stationen aufgeteilt sind. Bespielt wird das gesamte riesige Gebäude vom Keller bis zum Dach einschließlich der Turnhalle.

    "Wir betrachten uns nicht dafür zuständig, Bildung zu vermitteln. Aber natürlich fragt man sich bei so einer Schule im Migrantenmilieu: Was ist da Erziehung, was ist da Bildung, was wird da überhaupt für eine Bildung vermittelt, welche Strategien haben überhaupt eine Chance? Und mein Hauptding war, wie die Schüler von der Hector-Petersen unsere freien Gruppen und unsere Regisseure erziehen".

    HAU-Intendant Matthias Lilienthal benennt das Hauptziel dieses Projektes: das Kennenlernen der Jugendlichen und ihrer Schulsituation, ihrer Wünsche und Hoffnungen. Weshalb nicht die Künstler mit fertigen Projekten, sondern die Jugendlichen mit ihrer Lebens- und Schulwirklichkeit das X-Schulen-Projekt bestimmen lassen? Die Jugendlichen erzählen uns in vielen Spielsituationen von sich.

    Jeder Zuschauerparcours durch die Schule beginnt mit zwei, drei Prüfungsfragen, wie nach der Zahl der Mitgliedsstaaten der EU, und auch die erste Station meines Parcours zeigt eine Prüfung: Vor wertenden Schülern wird eine rituelle Waschung erklärt und durchgeführt. Im nächsten Klassenraum konfrontiert uns eine Professorin, natürlich von einer Schülerin gespielt, mit dem Ghetto als angeblichem Lebensraum der Schüler und präsentiert uns zwei Bewohnerinnen mit Beschreibungen, die mit unseren Vorurteilen über Anderssein, Gewalt und Kriminalität ironisch spielen.

    Das aktuelle Zauberwort Respekt spielt für die Jugendlichen, die mit hinreißender Selbstverständlichkeit sich selbst spielen, eine große Rolle, und Coolness: weshalb sie uns mit Videos und leibhaftiger Demonstration erklären, wie man cool zu sein und sich zu bewegen hat. Wozu anschließend im Keller ein Schüler passt, der sich Hip-hoppend durch seinen Schul- und Hausarbeitstag tanzt.

    Die Räume der Schule spielen bei diesem Projekt keine entscheidende Rolle,
    jedenfalls bei meinem Rundgang. Es sind eben Klassenräume, wie man sie mit ihren Pulten und Tafeln kennt, und in ihrer Unwirtlichkeit aus der eigenen Schulzeit bekannte Gänge und Treppenhäuser. Doch wenn in einem Treppenhaus Schulranzen verteilt sind, aus denen Schulerinnerungen, -Wünsche und –Beschwerden klingen, bekommt das Haus etwas von seinem Alltagsleben, das bei dieser Theatersituation doch fehlt.

    Das inhaltliche Spektrum der oftmals sehr witzigen Performances ist weit: mal beschwert sich ein Vater, der als Einziger zum Elternabend gekommen ist, darüber, dass seine Tochter sitzen geblieben ist, und demonstriert dabei, wie wenig er von dieser weiß, mal lassen Jungs vor den hinter einer Glasscheibe stehenden Zuschauern im Ballspiel ihren Emotionen zwischen Wut, Aggression und Freude freien Lauf. Wunderbar eine Videoinstallation, bei der eine Klasse, viele der Mädchen mit Kopftüchern, nur auf Bildschirmen auf ihren Sitzen zu sehen ist und von ihren Lehren und den eigenen Wünschen und Träumen erzählt:

    "Wenn diese Kids aus ihrer Anonymität oder aus der Clique raustreten und sich irgendwie trauen, einen Schritt, ihre bisherigen Strukturen zu verlassen und eine Show zu machen oder sich in Worte zu flüchten, die sie eigentlich nicht kennen, dann sieht man eigentlich, zu was die in der Lage wären, - und das berührt mich jedes Mal. Wenn ich merke, dass sie mit ihren eigenen Qualitäten etwas wahnsinnig Tolles erzeugen können. Ich habe so eine Gruppe von Mädels, die machten eine Modenschau, und da habe ich gesagt, erzählt doch mal den Leuten zwei, drei Sätze, was ihr da macht. Und das ist gar nicht peinlich, sondern das hat einen Wert. Das ist ein hochkünstlerischer Vorgang. Ich habe gedacht, ich inszeniere den dritten Akt 'Lohengrin': Ich musste überzeugen, 'ne, ist Scheiße', 'das ist total langweilig'. Ich habe sie dann irgendwie überzeugt, und ich glaube, jetzt erzählen sie ganz schön viel und sind froh, dass sie das machen und merken, dass sie richtig professionell sind."

    Was Peter Kastenmüller, Kurator von "X-Schulen", beschreibt, empfindet auch der Zuschauer: Man sieht, wie viel Fähigkeiten, im Sportlermilieu würde man "Potenzial" sagen, in diesen jungen Menschen steckt. Zu erklären, mit Bildungs- oder Schulorganisationsvorschlägen, wie die Gesellschaft dieses Potenzial nutzen sollte, versucht dieser oft spannende Theaterparcours nicht, er dokumentiert und präsentiert. Und das ist nicht wenig.