Die Aufgabe für die 40 olympischen Sportverbände ist immens: In den kommenden Wochen müssen sie die Empfehlung des IOC zur Wiederzulassung von russischen und belarussischen Athletinnen und Athleten umsetzen. "Das wird ein Chaos. Ich weiß gar nicht, wie das funktionieren soll", sagte Lea Krüger von der Athletenvereinigung Athleten Deutschland, dazu im Deutschlandfunk.
Sie kritisiert auch, dass das IOC noch keine Entscheidung für die Sommerspiele 2024 in Paris getroffen hat, sondern die Verantwortung jetzt bei den einzelnen Verbänden liegt.
Sorge vor unterschiedlichen Regelungen in verschiedenen Verbänden
Die Fechterin rechnet mit einem Flickenteppich. Manche Welt-Verbände – wie in der Leichtathletik – wollen Russland und Belarus komplett ausschließen. Andere Verbände wollen sich am IOC orientieren.
„Ich kann mir gut vorstellen, dass im Ergebnis dieser Diskussion nicht alle Verbände zu der gleichen Entscheidung kommen werden“, meint auch Thomas Konietzko, der Präsident des Welt-Kanuverbandes. Sein Verband werde Ende April über die Russland-Frage abstimmen.
Die Auflage des IOC, dass Sportsoldaten aus Russland und Belarus ausgeschlossen werden sollen, hält er für richtig – genauso wie die Vorgabe der strikten Neutralität.
Führt die Russland-Frage zur Spaltung des Weltsports?
Es gebe in Europa und Nordamerika nämlich nur dann die Chance auf Verständnis für eine teilweise Wiederzulassung, wenn es keine Möglichkeit gibt, dass die Zulassung für Kriegspropaganda genutzt wird.
„Das ist die Trennlinie, die momentan durch den internationalen Sport geht. Einerseits wir mit unseren Wertevorstellungen, die wir auch gut begründen können. Und dann andererseits die zwei Drittel der anderen Länder, die sagen: ‚Warum nehmt ihr diesen Krieg so anders wahr als all die anderen Kriege, die es seit Jahrzehnten gibt? Und warum handelt ihr so anders?‘“
Separate Sport-Veranstaltungen drohen
Im Moment bestehe die Gefahr, dass durch diese Spaltung die olympische Bewegung beschädigt werden könnte, so Konietzko. Er fürchtet ein Szenario, dass einzelne politischen Blöcke separate Sport-Veranstaltungen durchführen.
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte zum Beispiel angekündigt, Events mit China, Indien und anderen asiatischen Ländern durchführen zu wollen.
„Dann wird diese weltumspannende Idee der gemeinsamen Olympischen Spiele nach gleichen Regeln, in Neutralität, so wie wir es jetzt kennen, nicht mehr stattfinden“, fürchtet Konietzko.
Dann müssen wir langfristig denken, ob wir das wollen und ob das mehr Vorteile bringt, als jetzt vielleicht gemeinsam nach einem Kompromiss zu suchen, der vielleicht nicht allen gerecht wird, aber der die olympische Bewegung auf Dauer schützt.“
Boykott-Aufruf der ukrainischen Regierung „nicht zielführend“
Auch Boykott-Aufrufe lehnt Konietzko ab. Die ukrainische Regierung hat zum Beispiel ihre Sportler angewiesen, an keinen Wettkämpfen mit Russen oder Belarussen teilzunehmen.
Konietzko hofft, dass diese Haltung keinen Bestand hat.
„Das ist ja nichts anderes als ein politisch geförderter Boykott. Und hier wird, glaube ich, im Laufe der Zeit sicherlich auch die Diskussion einsetzen, ob das zielführend ist.“
In seinem Verband sei die Mehrheit der Athletinnen und Athleten dagegen, dass Wettbewerbe boykottiert werden, weil die Politik sich einmische.
Neutralitäts-Bekundungen können für russische Sportler gefährlich sein
Einmischung von politischer Seite gibt es derzeit nicht nur in der Ukraine. Der polnische Sportminister hat verkündet, dass Athleten aus Russland und Belarus an den Europaspielen im Sommer in Krakau teilnehmen könnten – wenn sie ein Dokument unterschreiben würden, in dem sie den Krieg in der Ukraine ablehnen.
„Ich finde das, was die Polen fordern, absolut falsch“, meint der Kanu-Weltverbandpräsident.
Auch Lea Krüger sieht solche verpflichtenden Bekundungen kritisch. „Das bringt die russischen und belarussischen Athletinnen und Athleten in eine Situation, dass sie sich eigentlich gegen das Regime stellen müssten. Aber das können sie eigentlich nicht, das ist gefährlich.“
Gleichzeitig gebe es auch ukrainische Sportlerinnen und Sportler, die jetzt nicht teilnehmen könnten.
Durch Sport die Meinung in Russland ändern? Naiv, meint Krüger
Aus Sicht von Konietzko sind solche Boykotte kontraproduktiv. Die Rolle des Sports sei es, zu verbinden und Meinungen auszutauschen, sagt der Verbandspräsident – und auf diesem Weg den Russen klar zu zeigen, wie man zu diesem Krieg stehe.
„Das könnte auch zur Veränderung des Meinungsbilds im Russland beitragen. Ich will die Rolle des Sports nicht überbewerten, aber ich glaube, hier kann er schon eine wichtige Rolle spielen.“
„Also ich glaube, die Rolle des Sports in Russland wird weiterhin sehr gelenkt von dem Regime“ erwidert Krüger.
„Ich habe Kontakt zu einer russischen Athletin. Und sie hat mir geschrieben vor ein paar Wochen: ‚Lea, das ist einfach Wahnsinn, was hier passiert. Wir kriegen hier die reinste Gehirnwäsche.‘ Also ich glaube, dass das tatsächlich ein bisschen naiv ist.“
Enttäuschung über fehlende Debatte zu roten Linien im Sport
Die Athletenvertreterin ist auch enttäuscht darüber, dass der Weltsport keine Debatte über rote Linien geführt habe – also wie sehr ein Staat die Werte des Sports verletzen darf, bis er sanktioniert wird. Jetzt seien es wieder die Athletinnen und Athleten die Leidtragenden.
„Ich habe gerade das Gefühl als Athletin, dass mich hier die internationalen Verbände im Stich gelassen haben. Dass sie ihre Verantwortung mir gegenüber und uns allen Athleten gegenüber nicht wahrgenommen haben, uns jetzt hier zu schützen. Und jetzt sind wir in dieser Diskussion. Jetzt werden Boykotte verhängt.“
Dass der Weltsport im vergangenen Jahr keine Lösung dafür gefunden habe, sei ein Versäumnis, das sie traurig mache.
„Ich finde, dass sich der Sport jetzt Gedanken machen muss und das vielleicht als Chance nehmen kann, diese ganze Situation zu analysieren und sich zu überlegen: Wie wollen wir in Zukunft Olympische Spiele gestalten? Auch Deutschland könnte da einen großen Teil dazu beitragen“, hofft die Fechterin.