"Der Mann, der offenbar einen Sprengstoffgürtel trug, stieg aus einem Auto und ging in aller Ruhe auf das Geheimdienstgebäude zu. Sicherheitskräfte riefen, er solle stehenbleiben. Der Mann ignorierte sie. Als sie das Feuer eröffneten, sprengte er sich in die Luft."
Das berichteten Ende April Augenzeugen. Drei Sicherheitsleute wurden bei dem Attentat in der nordirakischen Stadt Kirkuk verletzt. Ein paar Tage später starben durch einen Angriff – ebenfalls im Nordirak – zehn Kämpfer einer schiitischen Miliz.
Iraks Regierungschef droht dem IS
Etwas mehr als ein Jahr nach der Zerschlagung des Kalifat-Staates und der Tötung von IS-Gründer Abu Bakr al-Baghdadi im vergangenen Oktober verüben selbsterklärte Gotteskrieger wieder verstärkt Anschläge. Der irakische Regierungschef Mustafa al-Kadhimi geht in die Offensive: "Wir nehmen den Kampf auf, und ich werde der erste an der Front sein. Ich sage dem IS: Erwartet uns, die Stunde des Kampfes ist nahe."
Vor allem mit Sprengfallen am Straßenrand und mit Überfällen auf kleinere Posten der Sicherheitskräfte macht der IS im Irak erneut von sich reden. Im April reklamierte der IS mehr als einhundert Anschläge für sich – doppelt so viele wie in den drei Monaten zuvor. Im Januar, Februar und März sollen durchschnittlich rund 50 Attentate auf das Konto des IS gegangen sein.
Politische Instabilität hilft der Terrororganisation
Seit einigen Tagen gehen jetzt die irakischen Sicherheitskräfte verstärkt gegen IS-Terroristen vor. Auch im Nord-Osten von Syrien breitet sich die Organisation wieder aus – sagt Kino Kabriel einem lokalen ARD-Mitarbeiter. Kabriel ist Sprecher der Syrischen Demokratischen Kräfte, kurz SDF, einer mehrheitlich kurdischen Miliz.
"Es ist bekannt, dass sich der IS in den zurückliegenden Jahren ständig erneuert und umorganisiert hat. Besonders nach seiner letzten großen Schlacht um Baghouz. In den vergangenen sechs Monaten hat das zugenommen. Der IS hat auch seine Kampagnen in der Region im Süden und Westen des Euphrat verstärkt. Dazu gehört, dass der IS in der irakischen Steppe, in den Grenzgebieten zwischen Syrien und dem Irak und im Norden und Nordosten Syriens wieder häufiger auftritt."
Wo staatliche Autorität schwach ist, wo Instabilität herrscht, ist Raum für den IS, so Ossman Ali, Politikwissenschaftler in der nordostsyrischen Stadt Qamishli. Und der Irak, so Ali zur ARD, sei instabil:
"Es gibt immer noch konfessionelle Konflikte, die der IS ausnutzt. Die Bildung der neuen Regierung in Bagdad hat sich hingezogen, das hat den IS gestärkt. Es gab ein Vakuum. Und auch die Schwäche der Sicherheitskräfte konnte dem IS den Weg ebnen."
Coronakrise verschärft die Lage
Syrien, besonders der Norden und Nordosten des Landes, sei ebenfalls instabil:
"Nach dem Abzug der US-Einheiten aus den kurdischen Autonomiegebieten im Nordosten Syriens vergangenen Oktober sind türkische Streitkräfte in die Region einmarschiert. Das hat dem IS in diesem Gebiet Aufschwung gegeben. Und dazu jetzt die Coronakrise. Die kurdische Autonomieverwaltung muss die Probleme, die mit ihr einhergehen, bewältigen."
Dazu gehört, dass die lokalen Sicherheitskräfte mehr Präsenz auf den Straßen zeigen; sie sollen Maßnahmen zur Eindämmung der Pandemie durchsetzen, zum Beispiel eine Ausgangssperre. Aber wer Präsenz zeigt, macht sich angreifbar, zum leichten Ziel für IS-Attentäter. Der IS forderte seine Anhänger bereits im März auf, die Covid-19-Krise zu nutzen. Die Feinde des IS seien mit anderen Problemen beschäftigt, das biete mehr Möglichkeiten – für Attentate in der Region, aber auch in Europa.
Tausende IS-Kämpfer in Gefängnissen
Außerdem sollten IS-Gefangene befreit werden. Rund elftausend IS-Kämpfer sollen allein in Lagern unter syrisch-kurdischer Kontrolle einsitzen; außerdem zehntausende ihrer Frauen und Kinder. Immer wieder rebellieren eingesperrte IS-Leute, manche schaffen es, auszubrechen und im syrisch-irakischen Grenzgebiet unterzutauchen, sich mit Gleichgesinnten zusammenzutun. Neue Zellen bilden sich. Erfolgreiche Ausbrüche stacheln wiederum Zurückgebliebene an.
Kino Kabriel, Sprecher der Syrischen Demokratischen Kräfte, sieht auch deshalb in den Gefangenenlagern Brutstätten des wiedererstarkenden IS: "Wir fordern endlich eine Einigung mit der internationalen Staatengemeinschaft darüber, was aus diesen Menschen werden soll, und sie vor Gericht zu stellen. Zu den Aufständen der IS-Leute kommt es auch, weil sie nicht wissen, was aus ihnen werden wird. Das Ziel der IS-Führung ist aber, die gegenwärtigen Umstände auszunutzen und die Terrorvereinigung wiederaufzubauen."
Von den gut elftausend gefangenen IS-Kämpfern sollen ungefähr dreitausend Ausländer sein, Europäer, Amerikaner, Asiaten. Viele Herkunftsländer weigern sich noch immer, "ihre" IS-Kämpfer zurückzuholen. Die syrischen Kurden warnen wiederholt, auch Politikwissenschaftler Ossman Ali:
"Sollte die internationale Gemeinschaft auch weiterhin keine Hilfe anbieten, und auch kein Internationales Tribunal einrichten, wird das die Sicherheit weltweit bedrohen. Denn die IS-Häftlinge gelten als tickende Zeitbomben, die jederzeit explodieren können."
Corona schwächt den Kampf gegen die Terrormiliz
Die syrischen Kurden fühlen sich in ihrem Kampf gegen den IS alleingelassen. Auch aus einem anderen Grund: Von der "Globalen Koalition gegen den IS" haben viele der 82 Mitglieder wegen der Pandemie ihr Engagement eingeschränkt, Soldaten in Kasernen zurückbeordert. Das gibt IS-Zellen mehr Möglichkeiten für neue Aktionen. Während also der lokale und der internationale Kampf gegen den IS in Zeiten von Corona geschwächt ist, wird der IS wieder mächtiger. Das hat Konsequenzen – nicht nur für die Region. Das meint Politikwissenschaftler Ahmed Kamel al-Beheiri vom ägyptischen Ahram-Zentrum für politische Studien:
"Selbstverständlich wirkt sich das Wiedererstarken der zentralen Terrororganisation auf ihre Ableger und Untergruppen aus. Egal, ob wir hier über Ägypten oder den Jemen reden, über West-Afrika oder Südostasien."