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Irakische Christen auf der Flucht

Unterstützt von lokalen Clans in den Grenzgebieten haben Schleuser und Schmugglerringe das "Geschäftsfeld" Türkei für sich entdeckt. Die Regierung in Ankara hat schon vor einiger Zeit angekündigt, ihre Kontrollen an der Grenze zum Irak auszuweiten, aber die weit verbreitete Korruption macht viele Bemühungen zunichte. Rund 2000 irakische Christen leben mittlerweile verstreut in den ärmsten Vierteln Istanbuls. Gunnar Köhne hat dort Flüchtlinge getroffen.

    Ein Nachbar hat ein paar Bauklötze vorbeigebracht. Aufgeregt stapeln die drei Kinder die abgegriffenen Holzblöcke. Die älteste Tochter ist schon sieben, aber ein Kind, das nichts hat, freut sich auch über Bauklötze. Suha Samirkamil sitzt auf der Bettkante und schaut ihren Kindern aus müden, schwarz geränderten Augen stumm zu. In einer Ecke stapeln sich Matratzen, an den feuchten Wänden bröckelt der Putz. Seit einem Jahr lebt die Irakerin mit ihren Kindern nun schon in dieser Istanbuler Kellerwohnung. Den Tag, an dem ihr Leiden begann, ständig vor Augen:

    "Am 21. Januar vergangenen Jahres um zehn Uhr abends kam eine Gruppe Männer zu unserem Haus in Bagdad. Wir hatten sie noch nie zuvor gesehen. Sie verlangten Geld und Schmuck von uns. Mein Mann stellte sich ihnen entgegen und wurde daraufhin erschossen. Sein Bruder, der dabei zusehen musste, ist seitdem psychisch krank ."

    Am nächsten Tag packt Suha Samirkamil ihre drei Kinder und flieht zunächst in den kurdischen Nord-Irak und von dort in die Türkei. In Istanbul trifft sie auf zahlreiche Landsleute - und jeden Tag werden es mehr. Für chaldäische Christen wie Suha Samirkamil ist die Stadt am Bosporus zur ersten Anlaufstation geworden. Die mit Rom unierte chaldäische Kirche ist eine der ältesten christlichen Gemeinschaften der Welt. Einst lebten 700000 Christen im Irak, nun sind es vermutlich nur noch halb so viele.
    "Wir hatten ein gutes Leben. Mein Mann besaß ein Taxi, wir hatten ein kleines Haus, wir gingen zur Kirche, mit den Nachbarn lebten wir in Frieden. Aber seit dem Tod meines Mannes bin ich verloren. Ich habe niemanden, der mir hilft. Ich weiß nicht wie es weiter gehen soll."

    Rund 2000 irakische Christen leben mittlerweile verstreut in den ärmsten Vierteln Istanbuls. Sie hausen in Hinterhofverschlägen und Abstellräumen. Türkisch sprechen die wenigsten von ihnen, ihre Kinder werden auf der Straße als "Araber" verspottet. Auf ihrer Flucht aus dem Irak konnten sie fast nichts mitnehmen und viele sind von schlimmen Erinnerungen an die letzten Tage in ihrer alten Heimat gezeichnet: ermordete Angehörige, Detonationen, Leichen auf den Strassen. Suha Samirkamil will nach Australien, dort leben bereits Verwandte von ihr. Doch drei Mal ist ihr Visumsanstrag bereits abgelehnt worden. So harrt sie weiter aus in ihrer Zweizimmerwohnung, und wenn die Kälte unerträglich wird, dann zersägt sie die Zimmertüren zu Brennholz. Von den türkischen Behörden ist die Familie Samirkamil bloß geduldet - ein Asylrecht gibt es in der Türkei nicht:

    "Weil wir illegal hier sind, können die Kinder keine Schule besuchen. Wenn sie krank werden, kann ich sie nicht zum Arzt bringen, weil ich es nicht bezahlen kann. Ab und zu bekommen wir einen Job. Aber wir werden schlechter bezahlt als die Türken und manchmal passiert es, dass wir überhaupt keinen Lohn bekommen."

    Gäbe es in Istanbul nicht eine katholische Kirche, in der die Iraker sonntags zusammen kommen könnten, Flüchtlinge wie Suha Samirkamil wären völlig verloren. Die Backsteinkirche St. Antoine im Istanbuler Stadtteil Beyoglu ist zum bersten voll, mindesten 500 Menschen drängen sich in den Gottesdienstraum. Im Irak zählten die Chaldäer zur Mittel- und Oberschicht des Landes - hier rangeln sie sich um die ausgelegten Reistüten und Kleiderspenden. Der einzige chaldäische Priester der Stadt, Francois Yakan, ist angesichts des dramatischen Schicksals seiner irakischen Gemeindemitglieder von den Europäern bitter enttäuscht:

    "Europa macht für diese Menschen nichts, aber auch gar nichts. Der einzige rettende Strohhalm an den sich diese Menschen klammern können, ist, dass sie irgendwelchen Verwandten nach Kanada oder Australien nachreisen dürfen. Die Europäer dagegen bleiben in ihrer Hilfsbereitschaft sogar hinter der Türkei zurück."