Die Menschen in Teheran feierten bis tief in die Nacht. Sie lagen sich in den Armen, schwenkten Fahnen, tanzten auf Tischen. Alt und Jung, Männer und Frauen. 1:0 hatte die iranische Nationalmannschaft ihren WM-Auftakt am Samstag gegen Marokko gewonnen. Der erste Sieg bei einer Weltmeisterschaft seit 20 Jahren setzte Emotionen frei, die der mächtige Klerus um Ajatollah Khamenei eigentlich verhindern möchte. Große Menschengruppen sind den religiösen Führern verdächtig, erst recht nach den Protesten gegen das Regime in den vergangenen Monaten, sagt Natalie Amiri, ARD-Korrespondentin in Teheran.
"Die Polizei und Sicherheitskräfte, die auf der Straße anwesend waren, haben nicht interveniert, sondern die Menschen feiern lassen. Man hatte im Vorfeld immer wieder davor gewarnt, dass die Menschen nicht zusammen kommen dürfen zu Public Viewing. Es waren aber auch einfach zu viele, die hätten die Sicherheitskräfte auch nicht im Zaum halten können."
"Die Menschen haben auf den Straßen getanzt"
Religion und Fußball sind in der Islamischen Republik untrennbar verbunden. Nach der Revolution 1979 war er wie andere Sportarten zunächst verboten. Zu frivol, lautete die Begründung der Geistlichen, zu weit entfernt von der islamischen Lehre. Eine Nationalmannschaft gab es dennoch. Sechs Jahre später, während des Ersten Golfkrieges zwischen dem Iran und dem Irak, untersagten die Religionsführer der Elf, Spiele auf neutralem Boden zu bestreiten. Der Weltfußballverband Fifa suspendierte daraufhin den Iran.
Der Durchbruch gelang Team Melli, wie die iranische Auswahl bezeichnet wird, erst mit der Qualifikation für die Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich. Weltweit jubelten Iraner mit Flaggen auf den Straßen, Hunderttausende waren es allein in Teheran, erzählt Ayat Najafi, iranischer Filmemacher mit Wohnsitz in Berlin.
"Die Menschen haben auf den Straßen im Iran getanzt bis zum nächsten Tag. Es war das erste Mal nach der Revolution, dass die iranische Gesellschaft ein total anderes Bild gezeigt hat, als es sich die iranische Regierung wünscht, die religiösen Menschen. Männer so, Frauen so - ne, Männer, Frauen, Jung und Alt, zusammen getanzt. Das war ein großer Schock für die iranische Regierung. Erstmal, dass Fußball so populär ist, wusste kein Mensch. Und dann auch, dass die Menschen sich ein anderes Leben wünschen."
Mit falschem Bart ins Stadion
Ayat Najafi hat 2006 die Dokumentation "Football Under Cover" gedreht. Darin wird die Reise von Berliner Fußballerinnen nach Teheran gezeigt. Frauen dürfen im Iran zwar mit Kopftüchern Fußball spielen, aber der Besuch von Männerpartien ist ihnen nicht gestattet. Sittenwächter glauben, dass sie vor dem "vulgären Verhalten" männlicher Fans geschützt werden müssen. Trotzdem versuchen Frauen immer wieder, sich in Stadien zu schmuggeln - manchmal mit weiter Kleidung und angeklebten Bärten. Und regelmäßig werden sie festgenommen, zuletzt 35 Frauen im März bei einem Teheraner Lokalderby Persepolis. Der Regisseur Ayat Najafi schildert eine Begegnung mit Nationalspielern, die im Iran als Vorbilder verehrt werden:
"Die iranischen Nationalspieler haben mit uns gesprochen. Sie meinten: 'Ja, wir unterstützen Frauenfußball. Und wir sind sehr froh, dass eine Berliner Mannschaft da ist.' Aber das Gespräch kam nicht an die Öffentlichkeit. Damals war Frauenfußball ganz, ganz jung. Aber trotzdem gab es kein Bild in den Medien, in den offiziellen Medien. Das iranische Fernsehen wollte nicht darüber berichten."
Erinnerungen an eine historische Schlacht
Die Fernsehsender im Iran sind eng mit den Religionsführern verbunden. International tätige Fußball-Nationalspieler werden dagegen oft den Reformern zugeordnet. Der langjährige Kapitän Masud Shojaei solidarisierte sich 2009 mit Demonstranten der Grünen Bewegung. Er sprach sich auch gegen das Stadionverbot von Frauen aus. Shojaei wurde 2017 vorübergehend aus dem Nationalteam verbannt. Er hatte mit seinem Verein Panionios Athen gegen Maccabi Tel Aviv gespielt - Iranern ist der sportliche Wettkampf gegen Israelis untersagt.
Christoph Becker, Redakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, beleuchtet seit Jahren die Verbindungen zwischen Sport und Religion im Iran: "Ansonsten ist das Stadion Raum von politischen Äußerungen, ja. Aber dann eigentlich eher politisch-religiösen Äußerungen, die sehr im Sinne des Systems sind."
Er erinnert an ein Länderspiel gegen Südkorea im Herbst 2016, am Vorabend von Aschura. An diesem Tag gedenken schiitische Muslime der Gefallenen der Schlacht von Kerbela. Der iranische Fußballverband hatte das Spiel verlegen wollen, doch die Fifa verbat sich religiös motivierte Einmischung. So wiesen die Kleriker die Stadionbesucher an, schwarze Kleidung zu tragen und auf das Klatschen zu verzichten. Während des Spiels erinnerten Transparente an die "Märtyrer", darunter ein Enkel des Propheten Mohammeds.
"Der iranische Verband wurde danach auch von der Fifa bestraft dafür, dass es diese politisch-religiösen Äußerungen gab. Aber so was wird dann einfach in Kauf genommen. Das wird bezahlt, da gibt es dann eine Geldbuße von ein paar zehntausend Euro. Dafür ist im iranischen Verband dann immer Geld da. Dann ist der Fußball Teil des politischen Systems", sagt Christoph Becker.
An diesem Mittwoch bestreiten die Iraner ihr zweites Turnierspiel gegen Spanien, einen der Favoriten auf den WM-Titel. Sollten sie gewinnen, würde der Fernsehkommentator wohl größere Töne anschlagen als beim Auftaktsieg gegen Marokko. Am Samstag sagte er: "Ya Ali!". Eine Ehrehrbietung für den aus schiitischer Sicht rechtmäßigen Nachfolger Mohammeds. Und eine Provokation für die Sunniten.