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Unruhen im Iran
Auftakt einer neuen Revolution?

Seit Wochen gehen Menschen im Iran auf die Straße und protestieren. Anlass war der Tod der 22-jährigen Mahsa Jina Amini. Doch der Protest richtet sich gegen das Regime an sich. Eine neue Generation könnte dauerhaft etwas verändern, hoffen viele.

Von Karin Senz und Thomas Seibert |
Eine Zeichnung der in iranischem Polizeigewahrsam verstorbenen Mahsa Amini
Mahsa Amini heißt bei Familie und Freuden nur Jina. Der Vorname Mahsa war rein für die iranischen Behörden, weil kurdische Namen in offiziellen Papieren nicht erlaubt sind. (picture alliance / NurPhoto / Beata Zawrzel)
„Nieder mit dem Diktator!“

Menschen fordern den Tod des Diktators, gemeint ist der Oberste Führer Ayatollah Ali Chamenei. Sie tun das öffentlich auf den Straßen im Iran. Das hätte wohl kaum einer vor ein paar Wochen für möglich gehalten.

Vor gut einem Jahr kommt der ultra-konservative Ebrahim Raisi an die Macht, durch eine Wahl, die keine ist. Der Wächterrat streicht sämtliche echte Oppositionelle von der Kandidatenliste. Nicht mal die Hälfte der Iraner macht bei der Wahl überhaupt noch mit. 13 Prozent geben eine ungültige Stimme ab. Nicht wählen kann negative Konsequenzen haben.

Mohsen scheint das egal zu sein. Der 50-jährige Teheraner Schneider war nicht an der Urne. Hat doch alles keinen Sinn, meint er:

„Die Menschen haben keine Kraft mehr, weil jeder Hunger leidet. Sie denken nur noch daran, wie sie Essen für ihre Frau und ihre Kinder besorgen können. Das wird so bleiben, die nächsten 50 Jahre, weil es so viele ignorante Leute in unserem Land gibt.“
Mohsens Gesicht ist fahl, die Mundwinkel hängen nach unten. Einen Monat zuvor war er mit seiner Schneiderwerkstatt in diesen winzigen Raum gezogen. Da passen gerade mal eine Nähmaschine und ein Bügeltisch rein. Die Miete für die große Schneiderwerkstatt zuvor konnte er nicht mehr bezahlen. Das gilt auch für seine Wohnung. Seine beiden Töchter, Dana und Neda, Zwillinge im Teenager-Alter, teilen sich ein Zimmer, in das nicht mal ein Schreibtisch passt. Die Matratze, auf der sie schlafen, klappen sie tagsüber hoch, um wenigstens ein bisschen Platz zu haben. Mohsen und seine Familie gehören zur früheren Mittelschicht, die abgerutscht ist. Mohsen frustriert allerdings etwas anderes noch viel mehr:

„Ich würde am liebsten auswandern, wenn ich das Geld und die Kraft dazu hätte. Ich würde dahin gehen, wo die Regierung die Menschen respektiert, egal welches Land das dann wäre, ob Korea, Japan, Deutschland oder die Vereinigten Staaten. Wenn sie sich wenigstens mal zum Schein entschuldigen würden.“

Der hagere Mann ist verbittert. Ohne die Hilfe aus der Familie kämen sie nicht mehr über die Runden. Mohsen und auch seine Frau und Kinder haben eigentlich andere Namen. Aber er will nicht, dass sie erkannt werden und ihnen etwas zustößt.

„Ich kann meinen beiden Mädchen nur eins mitgeben: dass sie frei entscheiden dürfen. Da geht es nicht nur ums Kopftuch, sondern auch um die Religion. Ich will ihnen nichts vorschreiben. So kommen sie vielleicht im Leben etwas besser zurecht.“

Die Entledigung des Kopftuchs

Als die Zwillinge allerdings zur Schule gehen, verschwinden ihre langen geflochtenen Zöpfe unter einem Kopftuch. Die Freiheit, die ihr Vater ihnen geben kann, reicht nur bis zur Wohnungstüre.

Heute reißen sich Mädchen wie Dana und Neda das Kopftuch herunter, rebellieren an Schulen und Universitäten gegen Lehrkräfte – oder die machen sogar noch mit bei den Protesten, wie von der renommierten Sharif Universität in Teheran berichtet wird. Die Universität sollen Sicherheitskräfte vor Kurzem regelrecht belagert haben.

„Sie haben Teheran in ein Gefängnis verwandelt, und das Gefängnis in eine Universität“, singen die Studentinnen und Studenten ...
 Eine Demonstrantin in Teheran am 28. September 2022. Wie viele andere Frauen hat sie ihr Kopftuch abgenommen.
Proteste in Teheran am 28. September 2022 (Imago/ZUMA Wire/Social Media)
Die Depression der vergangenen Monate und Jahre hat sich in eine unglaubliche Energie und Entschlossenheit verwandelt. Nur so schaffen es die Demonstrantinnen und Demonstranten weiterzumachen, trotz massiver Gewalt der Sicherheitskräfte und stark eingeschränktem Internet.

Der Staat versucht, die Internetnutzung zu beschränken  

Die iranischen Behörden wissen, dass zwei von drei Bürgern des Landes mit seinen 80 Millionen Menschen die sozialen Medien nutzen, besonders WhatsApp und Instagram. Damit können sie Bilder und Videos von Protesten veröffentlichen und Kundgebungen organisieren.

Ich finde, es gibt sehr viel, was wir technisch tun könnten, aber wir lassen uns von Starlink ein wenig ablenken, ohne zu wissen, ob es funktioniert oder nicht.

Internet-Expertin Mahsa Alimardani
Der Staat versucht, das zu verhindern, hat bisher aber nicht zu Total-Blockaden des Internets gegriffen wie bei der letzten Protestwelle 2019. Die Behörden hätten inzwischen bessere technische Mittel, um die Vernetzung der Demonstranten gezielt zu stören, ohne das gesamte Internet kappen zu müssen, sagt die Internet-Expertin Mahsa Alimardani von der Londoner Organisation ‚Artikel 19‘, die sich weltweit für Meinungsfreiheit einsetzt und von der EU-Kommission unterstützt wird.

So blockieren Polizei und Justiz (im Iran) jetzt Instagram und WhatsApp, wie Alimardani bei einer Online-Konferenz der Denkfabrik Atlantic Council sagt. Außerdem werden sogenannte VPNs attackiert - Virtuelle Private Netzwerke - mit denen Demonstranten die Internetbeschränkungen umgehen können.

„Was aus Sicht der Zensur-Strategie besonders viel gebracht hat, ist die Blockade des Google Play Store. Der Durchschnitts-Iraner mag keinen PC oder Laptop haben, aber alle haben Smartphones. Die meisten davon laufen mit dem Android-Betriebssystem, und deshalb war der Google Play Store eine wichtige Plattform, wo man sich sichere VPNs besorgen konnte. Das wird jetzt schwieriger.“

Doch die Demonstrantinnen und Demonstranten erhalten Unterstützung. Die amerikanische Regierung lockert wegen der Proteste ihre Sanktionen gegen Teheran für die Internet-Technologie. US-Firmen können iranischen Verbrauchern jetzt Software zur Umgehung von Internetsperren oder Instrumente für Video-Konferenzen anbieten.

Viel Aufmerksamkeit erregt Tesla-Gründer und Milliardär Elon Musk, der sein Satelliten-gestütztes Internet-System Starlink für den Iran aktiviert haben will. Omid Rezaee, ein iranischer Journalist in Deutschland, ist skeptisch, dass Starlink bei den Protesten im Iran viel verändern wird, schon weil es in dem Land keine Empfangsgeräte für das System gibt.

„Was die USA angekündigt haben bezüglich der Lockerung der Sanktionen, was das Internet angeht, das könnte vielleicht mittelfristig, langfristig der einfachen Bevölkerung im Iran einigermaßen helfen. Aber kurzfristig, also inmitten dieses Aufstands, kann es gar nicht helfen.“
Auch Internet-Expertin Alimardani sieht Starlink nicht als Allheilmittel für die iranischen Demonstrantinnen und Demonstranten. Sie fordert, Technologie-Firmen sollten sich bei ihrer Hilfe auf praktische Lösungen konzentrieren.

„Kümmern wir uns genug darum, den Iranern die richtigen VPNs zu bringen, die tatsächlich etwas nützen und auch auf Handys funktionieren? Achten wir genug darauf, dass Plattformen wie Instagram und Twitter den Iranern einen erleichterten Zugang bieten, zum Beispiel mit Proxy-Servern oder abgespeckten Versionen? Ich finde, es gibt sehr viel, was wir technisch tun könnten, aber wir lassen uns von Starlink ein wenig ablenken, ohne zu wissen, ob es funktioniert oder nicht.“

„Frau – Leben – Freiheit!“

Frau - Leben – Freiheit – die drei Worte sind zu der Parole dieser Proteste geworden. Es ist eine kurdische Parole, erklärt ein Mitglied der kleinen, sehr aktiven kurdischen Menschenrechtsorganisation "Hengaw" mit Sitz im Ausland:

"Zum einen ist das Schöne ja an dieser Parole, dass sie eine Vision in sich trägt. Und ich denke, dass das dafür gesorgt hat, dass die Menschen jetzt diese Parole als führende Parole für die Proteste ausgewählt haben."
Dabei spielt es am Anfang, als die Teheraner Sittenpolizei Mahsa Jina Amini Mitte September festnimmt, keine Rolle, dass sie Kurdin ist - glaubt Katajun Amirpur, Professorin für Islamwissenschaften an der Universität Köln:

"Sie wurde nicht herausgezogen, weil sie Kurdin war. Das hat im Zweifel kein Mensch gesehen, auch nicht gehört. Also man hört einer Kurdin auch nicht an, dass sie Kurdin ist im Iran. Sondern es ging da tatsächlich nur um das Kopftuch."

"Hengaw" ist sich da nicht sicher. Zumindest kannte die junge Amini die strengen Kontrollen der Sittenpolizei so nicht aus ihrer Heimatstadt Saghez in Kurdistan. In der Polizeistation wurde die 22-jährige als einzige von mehreren Frauen, die mit ihr festgenommen wurden, geschlagen. Das könnte mit ihrer Herkunft zu tun gehabt haben, sei aber nicht belegt, so die Menschenrechtsorganisation.

Der Beginn der Proteste

Am Freitag, den 16. September, stirbt Mahsa Jina Amini in Polizeigewahrsam. Am Tag darauf wird sie in ihrer Heimatstadt beerdigt, und die Kurden gehen dort auf die Straße. Sehr schnell breiten sich die Proteste aus:
„Weil Kurden traditioneller Weise im Iran besser organisiert sind. Also die kriegen ihre Leute einfach schneller auf die Straße, weil es diese Organisiertheit gibt, die es anderswo nicht gibt. Also, das ist der Faktor, wo ich dann sagen würde, dass es quasi für die Organisation der Proteste eine wichtige Rolle gespielt hat, dass sie dieser ethnischen Minderheit angehört hat. Die leidet nicht erst seit der islamischen Republik unter Diskriminierung und Unterdrückung.“
Mahsa Amini heißt bei Familie und Freuden nur Jina. Der Vorname Mahsa war rein für die iranischen Behörden, weil kurdische Namen in offiziellen Papieren nicht erlaubt sind.
Gut zehn Prozent der Bevölkerung im Iran sind kurdisch. Sie stehen immer wieder im Konflikt mit der islamischen Führung in Teheran. Die Islamwissenschaftlerin Amirpur erklärt:

„Es ist natürlich so, dass Kurden noch einmal eine stärkere Solidarität mit einer Kurdin verspüren und dass deswegen in der Gegend, aus der sie kommt, die Menschen zuallererst auf die Straßen gegangen sind. Und vermutlich hat dann auch die große Gewaltbereitschaft der Polizei - die ja ohnehin groß ist - die ist bei Kurden, wenn Kurden auf die Straße gehen, noch mal einen Ticken höher, weil man bei Kurden sofort immer den Separatismus befürchtet.“

Sehr schnell gibt es in vielen Städten im ganzen Land Proteste, die bis heute anhalten – trotz massiver Gewalt durch die Sicherheitskräfte. Sie alle haben das gemeinsame Ziel, das Regime zu stürzen, meint die Menschenrechtsorganisation "Hengaw":

„Um das zu erreichen, wissen Sie ja - das haben auch alle erkannt - muss man zusammenhalten, und es müssen sich halt auch viele, viele Menschen beteiligen. Also da reicht es nicht aus, wenn es irgendwie hier mal in Kurdistan zehn Proteste gegeben hat und dann in Teheran mal hier und da was. Das Interessante ist eben in diesem Fall auch, die Solidarität der ethnischen Minderheiten ist sehr stark.“

Den Angaben zufolge liegt der Schwerpunkt der Proteste in der iranischen Provinz Kurdistan im Nordwesten. Die Menschenrechtsorganisation "Hengaw" gibt es seit 2016. Die Organisation ist gut vernetzt. Ununterbrochen veröffentlicht sie aus Kurdistan Videos und Informationen, beispielweise über Todesopfer und Festnahmen:

"Wir erhalten ja die Informationen meistens direkt von den Betroffenen selbst. Daher ist das schon ziemlich verlässlich. Auch jetzt gerade, wo das Internet abgeschaltet ist. Das Internet ist nicht 24 Stunden abgeschaltet. Immer von zwölf Uhr nachts bis acht Uhr morgens gibt es meistens Internet. Und zudem haben auch viele Kurden Handy-Tarife mit Anbietern der benachbarten autonomen Region Kurdistan. Also die haben dann jederzeit Zugriff aufs Internet."

Menschenrechtsorganisationen berichten auch über einen Vorfall Ende September in der kurdischen Stadt Oschnaviyeh. Für "Hengaw" ist das ein Moment der Freiheit:

„Da haben die Menschen es geschafft, für wenige Stunden die Regime-Kräfte aus der Stadt zu vertreiben. Und die Menschen riefen da schon 'Freiheit, Freiheit!' Und das wurde im gesamten Land gefeiert. Ich glaube, dieses Mal ist es so: Die Menschen haben die Freiheit gerochen. Und zwar haben die Menschen erkannt, dass es nicht undenkbar ist, dass diesem Regime ein Ende gesetzt werden kann."


Die junge Mahsa Jina Amini steht für die Wut der Frauen, der jungen Menschen und der ethnischen Minderheiten im Iran.

Die Wirkung der Proteste auf die internationale Politik

Die Proteste, die von dieser Wut ausgelöst wurden, erschüttern nicht nur den Iran, sondern auch die internationale Politik. Seit anderthalb Jahren ringen der Iran und der Westen um ein neues Atomabkommen, das den Bau einer iranischen Atombombe verhindern soll. Im Gegenzug sollen die Wirtschaftssanktionen gegen den Iran gelockert werden. Nach monatelangem Ringen stehen die Verhandlungen kurz vor dem Abschluss – aber jetzt erschwert die Protestwelle im Iran eine Einigung. Westliche Politiker wollen sich nicht dem Vorwurf aussetzen, das iranische Regime mit Milliardensummen aus dem Sanktionsabbau zu unterstützen, während in Teheran auf Demonstrantinnen und Demonstranten geschossen wird.

Dabei sind beide Seiten grundsätzlich an einer neuen Vereinbarung interessiert. Der Iran braucht dringend mehr Zugang zu den Weltmärkten für sein Öl, um die heimische Wirtschaft aus der Dauerkrise zu holen. Trotzdem verhandelt Präsident Ebrahim Raisi bei den Atomgesprächen hart, sagt Joe Macaron, Nahost-Experte und früherer UN-Berater mit Sitz in Paris.

„Das iranische Regime will raus aus der wirtschaftlichen Isolation. Das ist ein Befehl von ganz oben, von Revolutionsführer Khamenei, aber die neue konservative Regierung verhandelt hart. Außerdem fühlt sie sich ermutigt, weil als Folge des Ukraine-Konflikts Länder wie Saudi-Arabien, Iran und Venezuela aufgerufen werden, mehr Öl zu produzieren, um den Rückgang des Angebots aus Russland wettzumachen.“

Auch die USA und Europa wollen einen neuen Atomdeal, weil sie befürchten, dass der Iran ohne die Fesseln eines neuen Atom-Abkommens bald in der Lage sein wird, eine Atombombe zu bauen. Das erste Atomabkommen von 2015 konnte das iranische Atomprogramm bremsen, aber seit dem Ausstieg der USA unter Präsident Donald Trump im Jahr 2018 lehnt der Iran immer mehr Kontrollen ab. Trumps Nachfolger Joe Biden will deshalb den neuen Vertrag.

Die iranischen Proteste könnten die Verhandlungen aber ins Stocken bringen. Westliche Politiker wollen nicht ausgerechnet jetzt öffentliche Zugeständnisse an Teheran machen. Die USA haben sogar neue Sanktionen gegen iranische Regimevertreter verhängt, die EU will am 17. Oktober nachziehen.

Trotzdem glaubt Nahost-Experte Macaron, dass es am Ende einen neuen Atomvertrag geben wird.

„Der Protest im Iran verändert das Spiel, aber ich glaube nicht, dass die Proteste auf lange Sicht negative oder positive Folgen für den Atomvertrag haben werden. Ich glaube, der Westen verfolgt dieses Abkommen weiter, und zwar aus geopolitischen Gründen. Die Proteste machen es westlichen Politikern schwer, denn sie wollen nicht den Eindruck vermitteln, dass sie sich mit einem repressiven Regime auf einen Deal einlassen. Aber das wird vorbeigehen.“

Auch Adnan Tabatabai von der Nahost-Denkfabrik Carpo in Bonn findet, dass es sich lohnt, weiter eine Einigung anzustreben – nicht zuletzt, um der verarmten iranischen Mittelschicht zu helfen:

„Für mich sprechen zwei Dinge dafür. Das eine ist, dass man verhindern will, dass Iran in den Besitz einer Nuklearwaffe kommt, und dafür ist das Atomabkommen mit all den Kontrollmechanismen, die darin verankert sind, das effektivste Tool. Das zweite ist, dass man in den Jahren vor allen Dingen nach dem Ausstieg der Amerikaner durch die Sanktionen die Mittelschicht Irans durch die Sanktionen – zusätzlich zu dem, was es in Iran selbst an Missmanagement und Korruption gibt – durch die Sanktionen sehr geschwächt hat, also, dass man wirklich breite Teile der Bevölkerung in wirtschaftliche Nöte bringt mit diesen Sanktionen, und eben nicht die politische Elite trifft. Von daher fände ich es weiterhin lohnenswert, am Atomabkommen und der Wiederbelebung zu arbeiten.“

Wie viele von diesen teils sehr kontrovers geführten Diskussionen im Ausland tatsächlich in den Iran zu den Demonstrantinnen und Demonstranten gelangen…?

Sie hoffen auf jeden Fall - aber wenige Beobachter glauben ernsthaft daran, dass das Regime diesmal fällt ... Auch der Iran-Experte Ali Fethollah Nejad ist skeptisch, spricht aber von einem Pulverfass und zitiert englischsprachige Statistiken:

„Wenn wir uns allein die Zahlen vor Augen führen, haben wir letztes Jahr 4.000 Proteste im Iran gehabt, das ist ein Rekordwert seit 2016 und im ersten Halbjahr dieses Jahres haben wir 2.200 Proteste schon gesehen. Das bedeutet, wir sehen einen großen Unmut unter verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen.“

Das zeichnet die aktuelle Protestwelle aus:

Ein Handy-Video auf Instagram zeigt eine Frau im Tschador, also in der dunklen, langen Kleidung, die nicht nur das Haar, sondern auch den ganzen Körper umhüllt. Sie will nicht gefilmt werden und versucht zu entkommen …

Aber die Kamera verfolgt sie. Man hört die Stimme einer offenbar jungen Frau, die filmt und immer wieder fragt, warum hast Du die Fotos von uns gemacht? Die Frau im Tschador hatte sie offenbar bei einem Protest fotografiert. Jetzt filmt die junge Demonstrantin sozusagen ‚zurück‘, will die Frau im Tschador entlarven.

Eine neue Generation von Demonstrantinnen und Demonstranten

Keines der unzähligen Videos auf Social Media lässt sich eindeutig verifizieren. Aber es ergibt sich daraus das Bild einer neuen Generation von Demonstrantinnen und Demonstranten, die sich den Sicherheitskräften und Vertretern des Regimes entgegenstellen.

Nur, ihre Gegner sind gefürchtet: die Revolutionsgarden mit ihrer Freiwilligen-Miliz Basij. Die Iran-Expertin Katajun Amirpur:

„Das ist eine Armee, die nur deswegen gegründet worden ist seiner Zeit von Ayatollah Khomeini, weil der nämlich selber dadurch an die Macht gekommen ist, dass die iranische Armee sich eben nicht gegen das Volk einsetzen ließ. Und als er dann an der Macht war, hat er zu diesem Zweck die Revolutionsgarden und die Basij gegründet, damit diese nicht das Land nach außen verteidigen in erster Linie, sondern wirklich das Regime gegen die Leute, die das Regime eventuell nicht mehr möchten.“
Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur
Die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur (picture alliance / dpa/ Hermann Josef Wöstmann)
Präsident Raisi kündigt sehr schnell an, Aminis Tod untersuchen zu lassen. Außerdem stellt er in Aussicht, mehr Kritik und Proteste tolerieren zu wollen. Dass damit die aktuellen Demonstrationen gemeint sind, ist unwahrscheinlich. Denn er bedient sich der bewährten Strategie, die Schuld auf das Ausland zu schieben:

„Unsere Feinde wollen Aufruhr und Unruhen auslösen. Sie denken, dass sie mit solchen Aktionen der Nation schaden können. Wir haben schon oft angekündigt, dass wir uns jeden fairen Kommentar anhören werden. Aber Anarchie? Störung der nationalen Sicherheit? Die Sicherheit der Menschen? Niemand wird sich das gefallen lassen.“

Bis heute gibt es keine Zahlen, wie viele Menschen tatsächlich auf den Straßen sind. Menschenrechtsorganisationen schreiben, in allen 31 Provinzen des Iran gebe es Proteste.

Und auch außerhalb des Landes demonstrieren Exil-Iranerinnen, wie Samira in Istanbul. Sie ist vor ein paar Jahren geflohen. Jetzt schaut sie sich voller Bewunderung in den sozialen Netzwerken die vielen Handy-Videos vor allem über junge Mädchen, die aufbegehren, an:

„Wir haben uns das nicht getraut. Aber diese Generation, das glaube ich wirklich, die kann es schaffen, etwas zu verändern.“