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Irina Scherbakowa (Hrsg.): Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten

Sibirien - das Land zwischen Großem Fels und Stillem Ozean - ist ein Sonnenland. Während Moskau gerade mal 1.585 Sonnenstunden im Jahr aufweist, scheint die Sonne in Nowosibirsk mehr als 2.000 Stunden. Und doch leben viele Sibirjaken heute auf der Schattenseite der Welt. Vor allem Angehörige der Urvölker - der Völker des Nordens. Die Menschen an den Rändern des Imperiums bekommen schmerzlich zu spüren, was es heißt, vergessen zu sein - vergessen vom Zaren, vom Präsidenten, vergessen von Moskau. Sie haben nicht die Macht, die Zustände zu ändern. Aber sie haben ein Gedächtnis und eine Stimme, um zu erzählen, wie es ihnen ergeht fern von Moskau, ganz am Ende der russischen Welt. RUSSLANDS GEDÄCHTNIS - Elena Beier über ein bemerkenswertes Buch, geschrieben von Schülern in Russland.

Elena Beier |
    Geschichte des Landes im Gedächtnis der Generationen. So könnte man dieses Experiment der russischen Menschenrechtsorganisation MEMORIAL bezeichnen, ausgewählte Beiträge eines Schülerwettbewerbs zu veröffentlichen. Was dabei herauskam, ist faszinierend und erschreckend zugleich. Unrecht, Verfolgung, Enteignung, Zwangsumsiedlung, Verbrechen im Namen der Ideologie, Brutalität und massenhafte Verletzung menschlicher Würde, all das, was zahlreiche Völker der Sowjetunion im 20. Jahrhundert erlebt hatten, wirkt immer noch, zum Teil in der dritten Generation nach.

    Faszinierend ist vor allem die ungewöhnliche Erzählperspektive, die Russlands Geschichte in kleine persönliche Geschichten zerbröckeln lässt, um so die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit zu ermöglichen. Denn gerade die hat in Russland bis jetzt noch nicht wirklich stattgefunden, so Arsenij Roginskij, Vorsitzender und einer der Mitbegründer der russischen Menschenrechtsorganisation MEMORIAL:

    Viele haben heute das Gefühl, Russland hätte seine Vergangenheit nicht verarbeitet: Man spielt wieder die sowjetische Hymne, rote Fahnen wehen wieder, man errichtet wieder Denkmäler für die sowjetischen Führer, oder man diskutiert darüber, sie zu errichten. Es entsteht der Eindruck einer Restauration. Doch es wächst eine neue Generation heran, die aufrichtig und aufmerksam auf die Vergangenheit blickt und sie zu begreifen versucht. Und das ist unsere Hoffnung.

    Zu dieser neuen Generation gehören auch alle 15 Autoren des Sammelbandes: russische Teenager aus verschiedenen Regionen des Landes, die zusammen mit 8.000 Altersgenossen an einem Schülerwettbewerb - veranstaltet von MEMORIAL - teilgenommen haben, erzählt Historikerin und Publizistin Irina Scherbakowa, Herausgeberin des Bandes:

    Der Mensch in der Geschichte. Russland im 20. Jahrhundert", ist der Titel des Wettbewerbs. Dabei haben wir den Schülern sehr viel Freiheit bei der Themenauswahl gelassen. Denn Russland ist ein kompliziertes, sehr widersprüchliches Land und wir wollten die Teilnehmer keinesfalls einengen.

    Die große Bandbreite der Themen wurde zum Erfolgsrezept des Projektes: Die im Sammelband veröffentlichten Beiträge bestechen durch die Eindringlichkeit der beschriebenen Einzelschicksale. Diese Schicksale fügen sich wie kleine Mosaiksteinchen in ein großes komplexes Bild, das dem Leser einen direkten, sehr persönlichen Zugang zur russischen Geschichte ermöglicht.

    So schreibt Filip Abrjutin aus der Autonomen Republik Tschukotka ein fiktives Tagebuch seiner Großmutter, einer tschuktschischen Rentierzüchterin, die selbst nie Lesen und Schreiben lernte. Er bringt ihre mündlich überlieferten Erinnerungen zu Papier und lässt auf diese Weise eine längst untergegangene Welt aufleben:

    Es geschah, als ich sehr klein war. An jenem Morgen schlief ich noch. Es weckten mich Schreie auf der Straße; ständig lief irgendwer durch unser Zelt. Im Halbschlaf begriff ich, dass ein Fremder zu uns gekommen war, um meinen älteren Bruder zu heilen. Er sagte, dass wir einen kranken Hund töten, ihm das Fell abziehen und damit den kranken Bruder abreiben müssen. Bald darauf weckten mich Schläge auf dem Jarar. Ich öffnete die Augen und sah einen Alten mit einer Maske neben dem Lagerfeuer. Er trommelte mit einem zottigen Schlegel auf dem riesigen Jarar und sprang um den Bruder herum, der unter dem Hundefell lag. Zuerst trommelte der Alte selbst auf dem Jarar, dann aber stellte er sich in die Mitte des Zeltes, drückte den Jarar samt den Schlegel an seine Brust und schrie mir unbekannte Worte. Danach geschah Unglaubliches: Er ließ die Hände sinken, der Jarar blieb weiter an der Brust des Schamanen kleben und der Schlegel trommelte von alleine. Das dauerte an, solange der Schamane sein Lied sang. Kaum hörte er zu singen auf, fiel alles zu Boden.

    In ihrer naiven, fast kindlichen Art erzählt Großmutter Wyntene (was auf Tschuktschisch "Morgenrot" heißt) von der Tragödie ihres Volkes: Von der Zwangskollektivierung der Rentierzüchter, von der Russifizierung und den Versuchen der Sowjetmacht, die Nomaden Sibiriens zur Sesshaftigkeit umzuerziehen. Davon, wie die traditionellen Werte der sibirischen Ureinwohner sich in fremder Lebensweise auflösten.
    Schließlich kommt mit dem Zerfall der Sowjetunion auch der wirtschaftliche Untergang für die so mühsam aufgebauten Sowchosen. Doch die in russischen Internaten aufgewachsenen Nachkommen der einst so geschickten Rentierzüchter und Jäger können nicht mehr zur traditionellen Lebensweise ihrer Vorfahren zurückkehren. Am Ende eines langen Lebens bleibt die Sehnsucht:

    Es wäre wahrscheinlich besser, wenn ich in der Tundra geblieben wäre. Dort ist mein Leben. Dort ist mir alles vertraut. Da ist das Flüsschen, in dem man Fische fangen und den Teekessel füllen kann. Da sind die trockenen Zweige, mit denen man das Feuer macht - alles ist einfach und fröhlich. Man ist von niemandem abhängig. Man muss nicht nachdenken: Werden die Pensionen ausgezahlt oder nicht? Werden sie heute Lebensmittel bringen? Man muss nicht mit ausgestreckter Hand herumgehen und auf Almosen warten.

    Neben grausamen Schicksalsbeschreibungen von Menschen, die in den sibirischen Lagern verschwanden, um erst Jahre später rehabilitiert zu werden, finden sich in dem Sammelband auch Geschichten der entkulakisierten Bauern oder auch eindringlich geschilderte Schicksale russlanddeutscher Familien, die nach Ausbruch des Krieges nach Sibirien umgesiedelt wurden. Einer der bewegendsten Beiträge ist die Geschichte eines Fotos.
    Auf dem Foto sind eine Frau und ein Mädchen zu sehen: Mutter und Tochter. Wie es in den Besitz der russischen Familie gelangte, ist nicht klar: Ist es bei einem toten deutschen Soldaten gefunden worden? Wurde es von einem russischen Soldaten mit anderen Trophäen aus dem besiegten Deutschland mitgebracht? Das Foto hing viele Jahre lang in ärmlichen Baracken und anderen Behausungen der russischen Familie Galka und hat ihr Leben auf eine sonderbare Weise geprägt. Die festlich und sauber gekleideten Deutschen auf dem Bild waren keine Feinde, sondern ein Symbol für besseres Leben, für Schönheit und Harmonie, die angesichts von Hunger und Entbehrungen der Nachkriegszeit den drei Generationen dieser russischen Familie - vor Augen geführt durch dieses Foto - um so erstrebenswerter erschienen. Am Ende ihrer Geschichte schreibt die junge Autorin Anastasja Galka:

    Vielleicht hat diese Fotografie das Schicksal meiner Verwandten in eine bestimmte Richtung gelenkt. Jetzt bin ich die Erbin dieser Familienreliquie. Meinen Verwandten ist es nie in den Sinn gekommen, die Frau und das Mädchen - diese realen Menschen, diese Deutschen - zu suchen. Und ich? Ich würde sie gerne finden und ihnen von uns erzählen ... Und ihnen ihre Fotografie zurückgeben.

    Doch Auseinandersetzung mit der Geschichte bedeutet nicht, dass man nur auf die nun weit entfernte Vergangenheit zurückblickt, so die Herausgeberin des Sammelbandes Irina Scherbakowa:

    Ein Aufsatz ist deshalb der jüngsten Geschichte Russlands gewidmet. Er behandelt die Auswirkungen des Tschetschenienkrieges und beschreibt das Schicksal eines jungen Soldaten, der schwer verwundet aus Tschetschenien zu seiner Familie zurückkehrt und zu Hause an seinen Kriegswunden stirbt.

    Die Autorin des Beitrages Olga Popowa aus der Stadt Jarega in der Republik Komi schreibt nicht nur über das tragische Schicksal eines Soldaten. Sie schildert auch die Schwierigkeiten bei der Recherche des Themas. Es erweist sich, dass die Verdrängung der Geschichte in Russland kein Phänomen der sowjetischen Vergangenheit ist: Die offiziellen Behörden - sowohl Armee-Dienststellen als auch Geheimdienst FSB - verweigern dem Mädchen jede Art von Informationen zum Tschetschenienkrieg. Sie erhält weder Statistiken, noch Zugang zu Archiven. Und erst in der Familie des verstorbenen Soldaten begreift die Autorin, woraus die Geschichte wirklich besteht: der persönlichen Tragödie eines einzelnen Menschen.
    Dem aufmerksamen Leser des Sammelbandes Russlands Gedächtnis eröffnet sich nicht nur ein neuer Blick auf die Geschichte, sondern auch ein völlig neuer Zugang zur Gegenwart Russlands. Einer Gegenwart, die von der noch unverarbeiteten, aber im Gedächtnis der Generationen schlummernden Geschichte geprägt ist.

    Elena Beier über den von Irina Scherbakowa herausgegebenen Sammelband Russlands Gedächtnis. Jugendliche entdecken vergessene Lebensgeschichten, edition Körber-Stiftung, Hamburg 2003.