Iris Hanika und Wilhelm Genazino haben eines gemein. Sie widmen sich der Frage nach dem Sinn oder Unsinn des Lebens, indem sie über eher unauffällige Personen und deren eher unspektakulären Alltag schreiben. In Iris Hanikas Roman "Treffen sich zwei" stand die Beziehung eines Paares in mittleren Jahren im Zentrum, in "Das Eigentliche" die Frage, wie es sich im Bewusstsein der deutschen Vergangenheit heute lebt. In ihrem neuen Roman geht es ihr um die Sinnfrage schlechthin. Dazu hat sie zwei grundverschiedene kurze Romane miteinander verklammert.
Antonius, alias Adrian, der Protagonist im ersten, sortiert morgens in aller Frühe, bevor die Müllmänner kommen, den Müll in den Müllkästen auf dem Hinterhof seines Hauses, sondert sogenannte Störfälle aus und wirft sie in die richtigen, dafür vorgesehenen Tonnen. Dabei ärgert er sich nicht nur über die Ignoranz der Mieter, die den Müll nicht trennen, sondern wundert sich auch über den Eifer, den er selbst diesbezüglich entwickelt. Wie auch die Autorin, die auf diese triviale Betätigung bei der Suche nach einer Versinnbildlichung "allumfassender Sinnlosigkeit" stieß.
"Mich wundert vor allem, wie beflissen alle Leute den Müll trennen und wie viele Mülltonnen herumstehen. Teile von Adrian und Antonius in mir, ich reg mich dann auch auf, wenn die Mülltonne falsch gefüllt ist und frag mich, was soll das eigentlich? Blödsinn, man kann doch einfach seinen Müll wegbringen und fertig. Haben wir eigentlich nichts Besseres zu tun? Ich wollte was Sinnloses schreiben. Sinnloses Schreiben geht eigentlich nicht, und dann hab ich gedacht, soll einer sinnlose Dinge tun. Müll aufräumen ist eine Art von sinnloser Tätigkeit. Vor vielen Jahren hat mir ein Freund erzählt, er sei nachts nach Hause gekommen und seine Nachbarin habe an den Mülltonnen gestanden und hätte sie aufgeräumt. Und seither hatte ich immer diese Vorstellung, dass jemand den Müll aufräumt, und fand das eine sehr gute sinnlose Tätigkeit."
Eine "Müdigkeitsbeschäftigung" könnte man mit Wilhelm Genazino Antonius' Beschäftigung nennen, der seit dem Tod seiner Frau Magelone an der "Krankheit des Innehaltens" leidet.
Tagsüber geht er in Einkaufszentren umher, um, wie es heißt, seinen "Menschenhass zu stärken", oder er legt Listen an über die hässlichsten Gebäude in der Stadt, durch die er nicht lustvoll flaniert, sondern ziel- und lustlos schlendert.
Als er im Müll ein orangefarbenes Notizbuch findet, bricht er seine Müllexerzitien ab und beginnt zu lesen: Er fühlt sich magisch angezogen von den flüchtig hingeschriebenen Aufzeichnungen einer Frau namens Renate, die ebenso gelangweilt und des Lebens überdrüssig zu sein scheint wie er und am liebsten verschwinden möchte. Hier endet der erste Roman, der "Durcheinander" überschrieben ist und in der Gegenwart spielt.
Zweiter Roman "Anmerkung"
Der zweite, "Anmerkung" betitelt, führt 20 Jahre zurück, ins Berlin der beginnenden 90er, in eine Zeit des Umbruchs und Aufbruchs.
Protagonist ist hier Kurt Marschner, Inhaber eines Möbelimperiums Stammsitz in Berlin-Wedding. Das Geschäft floriert. Er lebt mit seiner Frau und vier Kindern in gut situierten Verhältnissen in einer Villa am Wannsee. Nur Adrian, sein ältester Sohn, schlägt aus der Art. Er ist vom Vater in die Rolle des Juniorchefs gezwungen worden, obwohl er sich dem "Mahlstrom" des Geschäftsalltags konsequent verweigert. Ganze Nachmittage verbringt er nicht in den Bäumen, wie Marguerite Duras' ebenfalls lebensverweigernde Lol V. Stein, sondern in der Bibliothek seines Vaters mit einer respektablen Sammlung bibliophiler Sachbücher und alchimistischer Schriften, wo er, auf dem dicken, schalldämpfenden Teppiche liegend, vor sich hin döst, ein Oblomov unserer Tage.
"Oblomov ist die totale Sinnlosigkeit. Es gibt die Gegenfigur, der deutsche Vorfahren und einen deutschen Namen hat, und der kommt dann und sagt, Du musst doch aufstehen und was tun usw., also die stehen so gegeneinander und man kann es nicht entscheiden, wer recht hat, was besser ist, im Bett bleiben oder irgendwas tun. Man kanns nicht entscheiden."
Adrian, der sich lieber seiner Untätigkeit und seinen Träumen hingibt als den Geschäften des väterlichen Unternehmens, verachtet die Entourage des Vaters, die erfolgreichen Manager ebenso wie die braven Angestellten. Bei der obligaten Geburtstagsfeier des Chefs kommt es in der Bibliothek zu einem blutigen Zwischenfall. Als Dorothea, eine aus Amerika nach Berlin zurückgekehrte Germanistin und Barockspezialistin, entzückt auf das vermisst geglaubte Werk eines vergessenen Dichters stößt und es aus dem Regal nimmt, um darin zu lesen, rastet Adrian aus und geht mit einem Messer auf sie los. Während sich die Verletzte ärztlich behandeln lässt, begibt er sich noch am selben Abend in die Psychiatrie. Und der Leser könnte mit einer gewissen Erleichterung über den gewonnenen Einblick in die zunächst verworrene Konstruktion des Romans, zum ersten Teil zurückkehren, um diesen mit Gewinn ein zweites Mal zu lesen.
Zustände und Befindlichkeiten
Iris Hanika geht es nicht um eine stringent erzählte Handlung oder die Entwicklung einer Person. Sie beschreibt Zustände und Befindlichkeiten in lebendiger Bildhaftigkeit, wechselt von teilnehmenden Beobachtungen zu allgemeinen, oft soziologisch grundierten Reflexionen, ohne endgültige Erklärungen abzugeben, und enthält sich jeder Bewertung oder Schwarz-Weiß-Malerei; auch ihre ironischen, versteckten Anspielungen sind von angenehmer Dezenz.
So wie dem Buch die innige Beziehung Iris Hanikas zur Sprache anzumerken ist, verwundert nicht ihr Bekenntnis, dass der Prozess des Schreibens für sie eine elementare, höchste Befriedigung bereitende Tätigkeit darstelle, wie sie es mit einem Zitat von Robert Walser als Leitmotiv auf ihrer Homepage belegt.
"Ich würde sagen, der Motor ist dieses Robert Walser-Zitat, es macht mir Freude, die Zeilen mit zierlichen Buchstaben vollzuschreiben, also dieses schreiben, schreiben wollen, skripturieren, wie Rolland Barthes herausgefunden hat, dass es dann auf lateinisch heißt. Und das Problem ist eben, dass man nicht über nichts schreiben kann und auch abstrakte Texte schreiben kann. Natürlich könnte man Dadaismus machen, aber das wäre ja auch nicht geschrieben. Ich kann es nicht genau sagen, was einen antreibt, schreiben zu wollen. Ich taug' auch nicht für Journalismus, weil ich eben alles nur einmal schreiben kann. Deswegen muss ich irgendwie eine Form fiktiver Literatur schreiben. Was ich möchte, kann ich nicht sagen, ich möchte gern einen guten Text schreiben, das kann ich sagen und was ich sonst möchte, kann ich nicht sagen."
Zwei Roman, die sich ergänzen
Die beiden Romane unterscheiden und ergänzen sich auf sinnfällige Weise zu einem Ganzen. Die spielerisch herbeigeschriebene, fragmentarische Unordnung im ersten, ein Pele-Mele aus verschiedenen Textsorten, die "draußen in der Welt", "dichterische Verarbeitung", "Hintergrundinformationen" oder "Hommage an Daniil Charms" überschrieben sind, kontrastiert mit der linearen realistischen Erzählweise des zweiten, einem vor 20 Jahren entstandenen unvollendeten Roman. Wobei die Diskontinuität zwischen beiden Teilen nicht nur der Veränderung des Zeitgeistes, sondern auch der literarischen Entwicklung der Autorin geschuldet ist, die nach eigenem Bekunden stets auf der Suche nach einem "leichten" und gleichzeitig "anspruchsvollen Unterhaltungsroman" ist.
Dem entspricht ihr legerer, nonchalanter Erzählduktus, in dem heitere und schmerzhafte Töne gleichermaßen zum Klingen kommen.
Manche Passagen erinnern in ihrem lockeren, spontanen Duktus an den Nouveau roman einer Marguerite Duras. Der Appell an das Unbewusste und die Bereitschaft, sich keinen von außen oktroyierten formalen Vorgaben unterzuordnen, sondern dem intuitiven Fluss der Gedanken zu folgen, macht den Reiz der Romane von Iris Hanika aus. So wie auch die Lust der Autorin am Spiel mit der Sprache und ihrem Gespür für das in ihr enthaltene poetische Potenzial - wie es der allerletzte Satz bezeugt:
"Am Abend zieht sich der Himmel aus. Er schläft heute nackt, wie so oft, und die ganze Erde und alle Menschenkinder liegen unbeschützt im Weltenall, wie sie das immer tun."
Iris Hanika: "Wie der Müll geordnet wird", Roman, Literaturverlag Droschl, Graz - Wien 2015, 298 Seiten, 20 Euro.