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Irland: Mein Dorf starb schon vor der Krise

Wie verändert der Alltag in der Wirtschaftskrise Menschen und Orte? Irland-Korrespondent Martin Alioth lebt seit beinahe dreißig Jahren im irischen Dorf Julianstown etwa 40 Kilometer nördlich der Hauptstadt Dublin, an der Ostküste. Irland ist tief abgestürzt, nachdem es vorher so himmelhoch emporgestiegen. Doch die Leblosigkeit des Dorfes ist schon älter als die Krise, meint Martin Alioth.

Von Martin Alioth |
    Julianstown ist eigentlich kein Dorf, lediglich eine Verdichtung von Häusern entlang der alten Hauptstraße zwischen Dublin und Belfast. Offiziell ist es größer als man denkt, aber die zahllosen, neuen Wohnsiedlungen für Dubliner Pendler bleiben unsichtbar. Julianstown hat nichts mehr, was zu einem Dorf gehört: Das ehemalige Hotel ist heute eine ausgebrannte Ruine, die zweite Gaststätte ist seit Langem geschlossen. Die Postmeisterin, Mary, ging in Rente und niemand wollte die Poststelle übernehmen. Da Irland keine Gemeindebehörden hat, fehlt selbst eine Amtsstube. Das ist Julianstown.

    Paddy Dunne, mein Taxifahrer, hört viel von seinen Fahrgästen.

    "Wohin geht's heute Abend? Nirgendwohin - kein Geld. Weißt du einen Job oder müssen wir auswandern? Das würde der Mutter das Herz brechen."

    Darüber also wird in Paddys Taxi gejammert. Alle Familien im Dorf klagen über die Auswanderung. Die jungen Leute sind weg. Sarah McAllister, die Tochter meiner Freunde, hat's auch versucht und kam wieder zurück. Empfand sie die Emigration als Ausdruck des Scheiterns, habe ich sie gefragt:

    In Irland gelte die Auswanderung nie als Zeichen des persönlichen Scheiterns; höchstens des kollektiven. Die Krise als zyklisches Ereignis, die junge Generation ist gewissermaßen geeicht. - Inzwischen hat mich Paddy bei Kate Calvey abgesetzt, einer Krankenschwester, die einst im Amerika als Enkelin irischer Auswanderer geboren wurde. In ihrem Schuppen trainiert der Windhund ihres Mannes auf einer Tretmühle.

    Ist das Sinnbild für Irlands Lage? Eine Gesellschaft im Hamsterrad? Nein. Kate lobt die Krisenfestigkeit der Iren:

    "Die Iren machten stets das Beste draus, das hätten sie aus ihrer Geschichte gelernt. Immer das Positive sehen, denn es könnte ja schlimmer sein."

    Der Ort allerdings, wo die Dorfbevölkerung ihren Kropf leert oder auch mal auf andere Gedanken kommt, die klassische irische Kneipe, ist vom Aussterben bedroht. Julianstown hat keinen derartigen Treffpunkt mehr: das Rauchverbot, strengere Verkehrskontrollen der Polizei, billiger Fusel in den Supermärkten, behaglichere Eigenheime und schließlich auch die Krise: das alles hat landesweit zu einem Pubsterben geführt. Jim Gilna ist Wirt im benachbarten Laytown:

    Der Niedergang des irischen Pubs stimmt ihn wehmütig. Es ging ja nicht um Alkohol, sondern um Geselligkeit.

    Die Kneipe war der Kitt für die Gemeinde. Gilna meint sogar, dass die junge Generation nicht mehr in den Kneipen sozialisiert werde, und darum die klassischen irischen Tugenden der Umgänglichkeit, der Konversation, der Neugier verloren habe. Das wäre in der Tat schlimm. In meinem Julianstown ist dieser Prozess in vollem Gange, aber er wurde durch die Krise nur beschleunigt. Seine Wurzeln reichen weiter zurück und haben mehr mit Raumplanung und Zentralismus zu tun als mit Konjunktur und Krise.


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    Nahaufnahme - Reporteralltag in der Eurokrise
    Fünfteilige Serie über Leben und Arbeit in der "zweiten Heimat"