Archiv

ZdK-Präsidentin Irme Stetter-Karp
"Reformverweigerung ist kein Weg in die Zukunft"

Frauenrechte, Partizipation von Laien, Aufarbeitung sexualisierter Gewalt: In der katholischen Kirche sieht die Präsidentin des Zentralkomitees deutscher Katholiken, Irme Stetter-Karp, erheblichen Reformbedarf. Sie hoffe auf den Synodalen Weg, sagte sie im Dlf. Denn es gebe durchaus reformwillige Bischöfe.

Irme Stetter-Karp im Gespräch mit Christiane Florin |
Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK)
Irme Stetter-Karp, Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), will eine weltoffene Kirche (pa/dpa/Bernd von Jutrczenka)
Die Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken (ZdK), Irme Stetter-Karp, hält Reformen für eine Existenzfrage der römisch-katholischen Kirche. „Bei über 200.000 Kirchenaustritten pro Jahr ist es doch offensichtlich, dass die Reformverweigerung und die Kommunikationsverweigerung kein Weg in die Zukunft ist“, sagte Stetter-Karp im Interview der Woche im Deutschlandfunk. Vor allem der Ausschluss der Frauen vom Weiheamt könne kein Weg in die Zukunft sein.

Synodaler Weg als Reformprozess

Irme Stetter-Karp setzt ihre Hoffnung in den Synodalen Weg. Bei der ersten Lesung der Grundlagentexte in der Synodalversammlung Ende September, Anfang Oktober 2021 habe es durchschnittlich 80 Prozent Ja-Stimmen gegeben. „Vielleicht hat die Bevölkerung noch das Bild, dass da ein Monolith ist und die deutschen Bischöfe sich immer einig wären“, so die ZdK-Präsidentin. Doch das seien sie nicht, sondern es gebe Bischöfe, „die mit uns im Zentralkomitee Schritte gehen wollen und ich kann nur auf diese Mehrheit setzen im Moment und alles dafür tun, dass sie die Beschlüsse fasst“. Als „Geburtsfehler“ bezeichnete Stetter-Karp die Tatsache, dass jeder Beschluss auch mit Zwei-Drittel-Mehrheit der Bischöfe gefasst werden muss und nicht das Votum des Plenums ausreicht.

Mehr zum Thema


"Rote Linien markieren"

Beim Thema Aufarbeitung sexualisierte Gewalt plädiert die ZdK-Präsidentin für ein von der Kirche unabhängiges Verfahren. „Ich glaube nicht, dass es ausreicht, wie derzeit die Aufarbeitung organisiert ist.“ Sie sehe auch einen eigenen Schuldanteil des Zentralkomitees. Als dessen Präsidentin werde sie dafür sorgen, dass zukünftig rote Linien markiert würden.

„Enorm gewachsene Distanz und Misstrauen“

Ihr eigenes Verhältnis zur Institution beschreibt Stetter-Karp, die vierzig Jahre lang durchgängig für die katholische Kirche gearbeitet hat, als spannungsvoll. „Ich habe als junge Frau schon eine relativ scharfe, starke Spannung erlebt zu der Art und Weise, wie die katholische Kirche Menschen bevormundet“, sagte sie. In jüngerer Zeit gingen auch einstmals Engagierte auf Distanz. „In den Gemeinden, unter den aktiven Christen sind es sehr viele und nicht etwa nur die Jungen, sondern eben auch in meiner Generation und auch in der mittleren Generation, die ihrer Kirche nicht mehr ausreichend trauen.“ Sie sehe Erschütterung, Zerrüttung, eine „enorm gewachsene Distanz, auch ein Misstrauen“. Sie habe leitende Mitarbeiter in der Erwachsenenbildung erlebt, die in den vergangenen Jahren aus der Kirche ausgetreten seien. Irme Stetter-Karp war bis 2020 Leiterin der Hauptabteilung Caritas im Bistum Rottenburg-Stuttgart.

Das Interview im Wortlaut
Christiane Florin: Frau Stetter-Karp, wahrscheinlich weiß nicht jeder und jede in unserem Publikum, was das Zentralkomitee der deutschen Katholiken ist. Was ist es?
Irme Stetter-Karp: Es ist - ganz nackt - der Zusammenschluss aller Laien in der katholischen Kirche, also aller Organisationen, aller Verbände, auch von Einzelpersönlichkeiten, auch der Räte in den 27 Diözesen. Es ist ein Zusammenschluss der Laien in Deutschland der katholischen Kirche.
Florin: Fällt Ihnen eigentlich ein besseres Wort ein als Laien?
Stetter-Karp: (lacht) Christen.

Nicht erwarten, dass Parteien unsere Werte in Politik ummünzen

Florin: Als das Zentralkomitee der deutschen Katholiken nach dem Zweiten Weltkrieg wiedergegründet wurde - die Geschichte ist ja sehr viel länger -, aber als es wiedergegründet wurde in Bonn, in Westdeutschland, da gehörten über 90 Prozent der Westdeutschen einer der beiden großen Kirchen an. Jetzt nähert man sich der 50-Prozent-Marke. Was verändert das?
Stetter-Karp: Ja, es verändert die Selbstverständlichkeit, mit der in der Bonner Republik zwischen Christen und der christlichen Partei oder den beiden Parteien CDU und CSU eine ganz gewohnte, vielleicht auch zu selbstverständliche Zusammenarbeit war. Ich halte das gar nicht nur für schlecht - den Mitgliederschwund natürlich schon, da kommen wir später wahrscheinlich auch auf aktuelle Gründe. Aber zu wissen, dass wir nicht quasi selbstgefällig als Christen erwarten können, dass Parteien unsere Werte in Politik ummünzen, das schadet uns, glaube ich, nicht, weil ich meine, dass uns Demut an der Stelle auch durchaus guttut.

"Stehe für ein Kirchenbild, das selbst Hand anlegt"

Florin: Das Wort Demut fällt häufig in dem Zusammenhang. In der praktischen Politik, im Verhältnis zwischen Kirche und Staat ist nicht so viel Demut zu erkennen. Die Kirchen haben viele Privilegien oder Rechte, um es neutral auszudrücken, auf die sie nicht von sich aus verzichten. Wo ist da die Demut?
Stetter-Karp: Ich will zunächst mal von meiner Erfahrung sprechen: Ich war in den vergangenen Jahren jetzt über 20 Jahren ja in der Deutschen Caritas mit in Verantwortung als Vizepräsidentin und auch eben auf der Landesebene unmittelbar in der Verantwortung als Direktorin über Jahre und dann als Ordinariatsrätin. Da ist für mich schon immer wichtig gewesen, nicht nur Forderungen an die Politik zu stellen, sondern eben auch selbst ins Handeln zu kommen, einfach selber auch in den Spiegel schauen, um zu fragen: Wo sind wir gefordert? Sei es jetzt tatsächlich im Umgang mit Bedürftigen, aber ich könnte jetzt genauso auch sagen in der Erwachsenenbildung oder in anderen Feldern, wo katholische Kirche auch handelt und bis heute sehr anerkannt ist. Insofern stehe ich für ein Kirchenbild, das selbst Hand anlegt und Zeugnis gibt von der Hoffnung quasi, für die Christen stehen.

Hadern mit Gott nach dem Tod der Mutter

Florin: Sie sind in einer Großfamilie aufgewachsen. Ihre Eltern hatten zwölf Kinder. Zwei starben schon bei der Geburt, eines im Krieg. Sie sind also die Jüngste von neun, die überlebt haben. Und dann starb Ihre Mutter, als Sie 16 waren. Wie haben Sie damals die Frage, wie Gott das zulassen kann, beantwortet?
Stetter-Karp: Ja, zunächst mal mit Hadern, mit, ja, auch einer dunklen Zeit, bis hin auch zur Kleidung. Ich hatte bei der Beerdigung nicht wirklich Schwarz getragen, aber danach sehr wohl. Also, Boots und wie die 70er-Jahre waren. Es war schon eine dunkle Zeit. Aber was mir geholfen hat, waren Gleichaltrige. Ich bin weggezogen, weil ich keine zweite Fremdsprache hatte und das Abitur machen wollte. Musste also weg von zu Hause. Die Familie hat sich eh aufgelöst, weil eine ganze Reihe meiner großen Geschwister zu dieser Zeit geheiratet haben. Ich war in einer Wohngemeinschaft mit Gleichaltrigen. Das hat mir, glaube ich, unglaublich geholfen, einfach rauszufinden aus einem gewissen Loch.

Kritische Töne zur Kirche im Elternhaus

Florin:  Sie haben mit Gott gehadert, aber sind gläubig geblieben.
Stetter-Karp:  Ja. Das kann durchaus sein, dass es auch an meinen Wurzeln liegt und gar nicht nur an mir. Also, ich komme schon aus einem Elternhaus, beide, mein Vater und meine Mutter hatten einen starken Glauben, aber in keinster Weise frömmelnd. Ich staune oft, was andere mir erzählen. Es gab bei uns wirklich eine kritische Auseinandersetzung: sei es jetzt zum Pfarrer vor Ort, wenn der nicht so gepredigt hat, wie etwa die Eltern das dachten, es hätte sein sollen, dann gab es da sehr offenen Ton dazu. Ich glaube, das hat mich schon geprägt, also eben nicht - durchaus standzuhalten, nicht zu flüchten, nicht wegzugehen, aber auch nicht kleinbeizugeben, also nicht stromlinienförmig zu werden quasi.

Starke Spannung zur Bevormundung in der Kirche

Florin: Gibt es für Sie eine Spannung zwischen dem Glauben und der Kirche, der Institution Kirche?
Stetter-Karp:  Ja, natürlich, eine scharfe zu manchen Zeiten. Und ich meine jetzt überhaupt nicht nur erst seit der Zeit, als durch Dritte dann sexuelle Gewalt in einer Dimension aufgedeckt wurde, die vielleicht sich niemand vorher vorstellen konnte, sondern ich meine viel, viel früher und zu anderen Themen. Ich habe als junge Frau schon, ja, eine relativ scharfe, starke Spannung erlebt zu der Art und Weise, wie die katholische Kirche Menschen bevormundet. Also, ich nenne jetzt das Stichwort Katechismus. Das war mir immer schon eine Auseinandersetzung wert. Oder ich denke etwa auch an bestimmte Riten. Ich habe mit 16 das erste Patinnenamt übernommen für meine kleine Nichte und musste erleben, dass meine Schwester, also die Mutter des Kindes, in der Dorfkirche auf die Seite genommen wurde in dem Ritual bei der Taufe, um ihre Erbsünde zu bekennen. Ich war so hauchnah dran, die Kirche zu verlassen. Ich habe innerlich getobt!

Bischof Dybas Versuch der Einschüchterung

Florin:   Aber Sie sind dabeigeblieben. Sie sind nicht nur Mitglied geblieben, Sie haben Ihr gesamtes Berufsleben in der Kirche verbracht. Denn die Caritas gehört ja zur Kirche. Warum?
Stetter-Karp: Ich glaube, ich könnte jetzt irgendwie stottern und Ihnen etwas sagen, aber ich kann nur sagen, ich glaube, dass bestimmte Stationen und bestimmte Menschen, also ganz im Sinne der Würzburger Synode und dem Schlüsselwort personales Angebot, dass einfach Menschen dafür auch verantwortlich waren. Meine erste Berufsphase war im Bund der Deutschen Katholischen Jugend, in den Jugendverbänden, durchaus auch in Konflikten mit den deutschen Bischöfen. Ich denke etwa an Bischof Dyba in Fulda, den wir mit 50 Bussen erfreut haben und den Dom umrundet haben. Er hat mir daraufhin über meinen damaligen Bischof ein Redeverbot in unserer Diözese erteilen wollen. Das ist aber nicht geglückt.
Der Fuldaer Erzbischof Johannes Dyba †
Der frühere Fuldaer Erzbischof Johannes Dyba hatte mit provokanten Aussagen zu Homosexualität und Abtreibung in den 1990er-Jahren scharfe Kritik auf sich gezogen (AP Archiv)
Also, warum bin ich dabeigeblieben? Ich kann nur so antworten, dass mir die Frage nach Jesus Christus immer wert war, um eine Zukunft, auch für diese Kirche zu kämpfen, obwohl ich manchmal schon Tage habe, wo ich denke: So what? Also, gibt es das noch? Oder müssen sie noch weiter runter? Müssen wir noch weiter runter quasi, bis wir es verstehen?

50 Jahre ohne Antwort der Kirche auf Reformfragen

Florin:  Und jetzt sind Sie Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Das große Vorhaben ist der Synodale Weg, also dieses Gesprächsformat, an dessen Ende vielleicht irgendeine Art von Reform stehen könnte. Sie haben vorhin die Würzburger Synode erwähnt. Die ist 50 Jahre her, hatte dieselben Themen wie der Synodale Weg. Grob gesagt: Partizipation von Laien und Gleichberechtigung von Frauen. Substanziell verändert hat sich aber in den letzten 50 Jahren nichts, also außer, dass Frauen jetzt lesen dürfen und Messdienerinnen sein dürfen. Warum glauben Sie, dass das jetzt anders ausgeht als in den 70er-Jahren?
Stetter-Karp: Ich habe keine Garantie dafür. Und es gibt Risiken für diesen Weg. Und dennoch ist doch offensichtlich, bei über 200.000 Kirchenaustritten pro Jahr, es ist doch offensichtlich, dass die Reformverweigerung und die Kommunikationsverweigerung - anders kann man ja die Tatsache, dass wir 50 Jahre keine Antwort bekommen haben auf die Eingabe der deutschen Bischöfe etwa zum Diakonat der Frau - also, dass diese Exklusion, etwa im Zugang zu den Weihämtern, eines Geschlechts per Geburt fixiert, dass das kein Weg in die Zukunft ist. Es ist so offensichtlich, dass ich mir einfach nicht vorstellen kann … nennen Sie es mal ein beschränktes Vorstellungsvermögen. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass die katholische Kirche so eine Zukunft hat.

"Es gibt Bischöfe, die mit uns im Zentralkomitee Schritte gehen wollen"

Florin: Sie können es sich nicht vorstellen, aber es gibt doch offenbar ziemlich einflussreiche Gruppen, vor allem geweihte Männer, die sich das sehr wohl vorstellen können, die sagen: Na ja, das ist eben das Identitätsmerkmal. Das ist der Markenkern der römisch-katholischen Kirche, dass man Frauen von Ämtern ausschließt und dass man eine Art Ständeordnung aufrechterhält, eine Monarchie. Also, es ist nicht für jeden so offensichtlich, dass es in Richtung Reform gehen muss.
Stetter-Karp: Stimmt. Und dennoch: Wir hatten jetzt bei der ersten Lesung der Grundlagentexte in der Synodalversammlung Ende September, Anfang Oktober 2021 im Durchschnitt 80 Prozent Ja-Stimmen. Vielleicht hat die Bevölkerung noch das Bild, dass da ein Monolith ist und die deutschen Bischöfe sich immer einig wären. Es ist ja inzwischen sichtbar: Das sind sie nicht. Sondern es gibt Bischöfe, die mit uns im Zentralkomitee Schritte gehen wollen und ich kann nur auf diese Mehrheit setzen im Moment und alles dafür tun, dass sie die Beschlüsse fasst.
Florin: Glauben Sie eigentlich, dass geweihte Männer in einem anderen Daseinszustand sind als nicht geweihte Menschen? Laut Kirchenrecht ist das ja so – ein ontologisch anderer Daseinszustand.
Stetter-Karp: Das glaube ich nicht.
Florin: Und warum haben dann die Bischöfe beim Synodalen Weg eine eigene Mehrheit? Warum ist die Stimme der Bischöfe doch mehr wert als die der anderen?
Stetter-Karp: Vielleicht ist das ein Geburtsfehler der Konstruktion des Synodalen Weges. Vielleicht müssen wir bei der Frage, welche Struktur wir nachhaltig brauchen, Stichwort Synodaler Rat, hier noch mal zu diskutieren beginnen an der Stelle.

Fragen zu nicht angenommenen Rücktritts-Gesuchen

Florin: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk mit Irme Stetter-Karp, der Präsidentin des Zentralkomitees der deutschen Katholiken. Frau Stetter-Karp, vor etwa einem Jahr hat der Hamburger Erzbischof Stefan Heße sein Amt als geistlicher Begleiter des ZdK ruhen lassen, weil er im Erzbistum Köln Personalverantwortung hatte. Er wurde ja dann auch in dem veröffentlichten Missbrauchs-Gutachten belastet, hat seinen Rücktritt angeboten. Der Papst hat das Rücktrittsgesuch aber nicht angenommen. Wird er wieder geistlicher Begleiter des Zentralkomitees?
Stetter-Karp: Ich habe Zweifel daran. Aber es steht im Moment noch gar nicht zur Debatte. Wir sind nicht im Gespräch mit ihm darüber.
Papst Franziskus im Vatikan
Papst Franziskus erntet Kritik für mangelnde Konsequenzen aus dem Missbrauchs-Gutachten (dpa/picture alliance/Fabio Frustaci / Eidon)
Florin: Was halten Sie grundsätzlich davon, dass der Papst alle im Amt lässt? Diejenigen, die um ihren Rücktritt gebeten haben, weil sie in Gutachten belastet werden im Erzbistum Köln zum Beispiel. Oder Kardinal Marx in München. Finden Sie das richtig, dass er sie alle im Amt lässt?
Stetter-Karp: Ich habe natürlich Fragen dazu, wie wahrscheinlich manche, viele von uns. Ich würde ihn gern fragen, was ihn dazu veranlasst. Ich kann nur sagen: Seine Antwort ist nicht zufriedenstellend.

Diskussion mit den Bischöfen über rote Linien

Florin: Wenn man das Thema sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche betrachtet, dann ist das Erschütternde, dass die Opfer, dass die Betroffenen schlicht egal waren. Das System scheint auf Täterschutz ausgerichtet zu sein. Warum sind Sie trotzdem auf dem Synodalen Weg so nett zu den Bischöfen?
Stetter-Karp:  Woran machen Sie fest, dass wir nett sind oder dass ich nett bin?
Florin:  Daran, dass es nicht so viel Konfrontation gibt. Es gibt Konfrontation mit den Bischöfen, die jede Reform verweigern. Das ist offenkundig. Aber Bischöfe, die sich auch Betroffenen gegenüber nicht empathisch verhalten haben, die selber ganz vage Fehler zugegeben haben, die aber sagen, sie seien für Reformen, die werden netter behandelt. Dass das Zentralkomitee Bischöfe konfrontativ zur Rede gestellt hätte, Marx oder Ackermann etwa, das kann ich nicht erkennen.
Stetter-Karp: Ja. Ich zögere mit einer Antwort deshalb, weil ich nicht die Verantwortung übernehmen will für die vergangenen Jahre. Ich kann nur die Verantwortung übernehmen ab dem Moment, ab dem ich gewählt bin. Und dann muss ich natürlich auch dafür werben, dass ich eine Anfangschance habe, wie andere, die in ein Amt gehen, auch. Wir werden diskutieren müssen, wo rote Linien sind. Und wir werden sicher auch diskutieren müssen: Welche Szenarien sehen wir als ZdK vor uns? Und wo sehen wir Grenzen, die wir markieren müssen? Das steht für uns im neu gewählten Präsidium an. Ich kann dem nicht vorgreifen. Ich kann nur sagen, es wird nicht möglich sein, zu jeder Situation zu sagen, ja, wunderbar, bleiben wir doch zusammen, egal, wie die Inhalte ausgehen. Das kann es sicher nicht sein.

Es reicht nicht, wie derzeit die Aufarbeitung organisiert ist

Florin: Wir haben vorhin über das Verhältnis zwischen Kirche und Staat kurz gesprochen. Die Aufarbeitung der sexualisierten Gewalt in der römisch-katholischen Kirche ist im Moment der Kirche selber überlassen. Wünschen Sie sich, dass das anders ist, dass es da so etwas Ähnliches gibt wie in Frankreich oder in Irland oder in Australien, also, dass es eine wirklich unabhängige Aufarbeitung gibt?
Stetter-Karp: Ja, weil ich glaube, dass sie wirkkräftiger wäre. Es ist einfach immer schwierig, wenn quasi man aus einer Befangen- oder Betroffenheit heraus etwas aufarbeiten soll. Ich war selber etwa zehn Jahre befasst mit der Aufarbeitung Heimerziehung der 50er-,60er-Jahre, also in meinem Hauptberuf in den letzten Jahren und war da auch in einem Beratungsgremium der Landesregierung Baden-Württemberg. Und in der Zusammenarbeit mit den Betroffenen habe ich einfach für mich gelernt: Je mehr unabhängige Instanzen auf die Situation schauen können, umso mehr haben die Betroffenen, glaube ich, eine Chance. Ich sehe also mit allem Ernst, dass ich nicht glaube, dass es ausreicht, wie derzeit die Aufarbeitung organisiert ist.

Zum Missbrauch: "Das ist ein eigener Schuldanteil des Zentralkomitees"

Florin: Sie sagten vorhin, Sie möchten natürlich die Chance haben des Neubeginns und nicht für das in Haftung genommen werden, was Ihre Vorgänger gemacht haben oder eben nicht gemacht haben. Ich habe mir mal die Tagesordnung der Vollversammlungen des ZdK seit 2010 angeschaut. Also, seit dem Jahr, als Missbrauch zu einem großen, öffentlichen Thema wurde. Kein Missbrauchsbetroffener hat auf den Vollversammlungen des Zentralkomitees gesprochen. Auf dem Synodalen Weg gab es erst Anfang dieses Jahres Statements von Betroffenen, zum ersten Mal. Warum ist das so?
Stetter-Karp: Ja. Ich kann das überhaupt irgendwie mit keinem Satz heilen oder schönreden. Das will ich auch gar nicht. Ich kann nur sagen, dass leider im Zentralkomitee, in der Vollversammlung, sehr spät erst ein Blick dafür entstand, dass wir das nicht einfach den Bischöfen überlassen können im Sinne von „das ist doch deren Verantwortung“. Das ist natürlich die genehme Lage, zuerst mal zu sagen, ja, das müssen die verantworten, das müssen die aufarbeiten und so weiter. Das war sicher einige Jahre die Haltung. Bis eben der Moment kam - und da haben die Betroffenen den Anteil, nicht das ZdK -, zu sagen: Ihr könnte euch da nicht die Weste weißwaschen. Es gibt eben auch Täter und Täterinnen auf eurer Seite oder mindestens gibt es die Situation, dass quasi zugeschaut wurde oder halb zugeschaut wurde oder nicht aufmerksam genug nachgefragt wurde. Also, insofern, ich finde, das ist kein Kapital mit irgendeinem Ruhmesblatt, sondern im Gegenteil. Das ist ein eigener Schuldanteil des Zentralkomitees. So würde ich das schon nennen.

Zum Misstrauen: "Die Frage, wer sich da distanziert, rückt immer, immer näher"

Florin: Das Thema ist jetzt in der Öffentlichkeit seit fast zwölf Jahren. Es war im Januar 2010. Es gab viele, viele Veröffentlichungen. Erst kürzlich noch eine Titelgeschichte im Spiegel. Und immer ist von Erschütterung die Rede. Aber die Dome stehen alle noch ziemlich fest. Also, so richtig erschüttert ist da nichts. Oder täuscht da meine Wahrnehmung?
Stetter-Karp: Ich glaube, sie täuscht. In den Gemeinden, unter den aktiven Christen sind es doch sehr, sehr viele und nicht etwa nur die Jungen, sondern eben auch in meiner Generation und auch in der mittleren Generation, die ihrer Kirche nicht mehr ausreichend trauen. Insofern ist das schon eine Erschütterung oder eine Zerrüttung oder eine enorm gewachsene Distanz, auch ein Misstrauen. Ich habe zum Beispiel leitende Mitarbeiter, die in den vergangenen Jahren aus der Kirche ausgetreten sind, erlebt - jetzt nicht in der Caritas, sondern in dem Feld davor, in der Erwachsenenbildung. Ich denke, das gibt es nicht nur im Südwesten. Auf jeden Fall höre ich von vielen, die engagiert sind, dass die Frage, wer sich da distanziert, immer, immer näher rückt. Also, insofern, ich sehe schon eine sehr kritische Situation und die Dome stehen, ja, die Steine stehen.
Florin: Sehr distanziert, das bedeutet, dass Menschen über Kirchenaustritt nachdenken, die sich das vor einigen Jahren noch nicht hätten vorstellen können? Das meinen Sie?
Stetter-Karp:  Ja, das meine ich.
Florin: Dass es den Kern der Engagierten trifft?
Stetter-Karp: Genau. Also, Menschen, die wie ich … Sie fragen mich ja unablässig und auch verständlich, sie fragen mich: Wie kann man so verrückt sein, noch dazu zu stehen? Also, es ist ja eine Frage, die bin ich eigentlich gewohnt. Ich kenne die Frage sehr als quälende Frage. Inzwischen gibt es eben Kolleginnen und Kollegen, die sagen: Jetzt ist es gut. Es reicht. Ich kann und will das nicht mehr.

Frage der Mithaftung "wird einfach in ein Glied gestellt mit anderen Kriterien"

Florin: Sie haben jetzt aber ein Amt übernommen, und zwar ein hohes Amt. Sie sind, salopp ausgedrückt, die oberste Laiin. Die Aufgabe des Zentralkomitees ist es unter anderem, in die Gesellschaft zu wirken. Sie stehen im Dialog mit der Gesellschaft, mit der Politik, mit der Kultur. Wie geht das, im Namen einer Kirche zu sprechen, die moralisch nicht nur beschädigt, sondern diskreditiert ist? Oder werden Sie als ZdK nicht so in Haftung genommen wie die Bischöfe?
Stetter-Karp: Wie sehr wir in Mithaftung genommen werden, würde ich gern beobachten, auch jetzt unter der neuen Regierung. Aber ich kann sagen: In der Frage des gesellschaftspolitischen Engagements sehe ich gute Möglichkeiten und Voraussetzungen für uns, weil doch viele Organisationen innerhalb der katholischen Kirche ihre Arbeit leisten. Ich denke da jetzt nicht nur an die Caritas. Aber an sie denke ich auch, weil wir einfach in allen Feldern der sozialen Arbeit selbst in Verantwortung sind und von daher eben auch Partner sind, die - wie andere Wohlfahrtsverbände auch - von der Regierung ernst genommen werden, weil sie sehen, was wir da tun und wie wir es tun.
Insofern ist die Frage der Mithaftung nicht weg. Aber sie wird einfach in ein Glied gestellt mit anderen Kriterien oder anderen Kategorien, anderen Fragen. Ich glaube, es gibt eine Reihe von Aufgaben, in denen die katholische Kirche eine gute Arbeit leistet. Mit der Erfahrung, die ich einbringe im Sinne der Tätigkeiten, die ich in den vergangenen 30, 40 Jahren hatte, sehe ich da eine gute Basis, wiewohl ich weiß, dass es erschwert ist durch das, was wir vorher diskutiert haben. Es ist erschwert.

Christliches Engagement für Flüchtlinge und gegen Rechts

Florin: Gleicht das Gute das Schreckliche aus?
Stetter-Karp: Nein, das kann es nicht. Ich will nur sagen, da gibt es eben auch noch etwas anderes. Es gibt noch ein anderes Gesicht. Wenn ich etwa die Arbeit mit Geflüchteten sehe - und jetzt meine ich nicht nur die ganz praktische Arbeit, ich meine auch das politische Tun dabei - dann sagte Angela Merkel nicht zufällig zu uns Christen: „Ohne Euch hätte ich das so nicht geschafft.“ Also, das ist, glaube ich, schon eine Aussage, die markiert auf Seiten der Politik uns gegenüber, da wart und da seid ihr tatkräftig im Sinne des „Wir schaffen das“. Da ist ein gemeinsames 'Wir' an der Stelle. Eben auch gegenüber einem rechten Rand, der derzeit erstarkt, der eine ganz andere Linie fährt und Abschottung betreiben will und eben auch die Demokratie derzeit gefährdet.

Notwendige Erinnerung, "dass wir eben alle auch von der Mitsorge leben"

Florin: Sie sind Sozialwissenschaftlerin. Sie haben nicht nur bei der Caritas gearbeitet, Sie sind auch eine wissenschaftliche Beobachterin dieser Gesellschaft. Was meinen Sie, wenn die Pandemie mal vorbei sein sollte, wie sie diese Gesellschaft zurücklässt?
Stetter-Karp: Ich glaube, mit einigen Rissen. Ich finde es nicht leicht, die Risse zu messen. Ich bin nicht sehr ruhig in der Frage, ob der Zusammenhalt ausreichen wird, um dann die Herausforderungen gemeinsam zu bewältigen, die anstehen. Es zeigt sich ja jetzt, dadurch, dass die Pandemie schon das zweite Jahr geht und wir noch keinen wirksamen Weg heraus haben, dass es etwa in der Frage der allgemeinen Impfpflicht doch sehr viele Menschen gibt, die ihre Selbstbestimmung, sie nennen es Freiheit, so hoch ansetzen, dass sie darüber die Frage der Solidarität und der Mitverantwortung oder der Mitsorge für das das Leben anderer, ja, möglicherweise vergessen. Auf jeden Fall ignorieren sie es.
Florin: Sie haben sich für eine Impfpflicht ausgesprochen. Würden Sie sagen, eine solche Forderung trägt zum Zusammenhalt in der Gesellschaft bei?
Stetter-Karp: Ich würde zuerst mal sagen, dass es notwendig ist zu erinnern, dass wir eben alle auch von der Mitsorge leben. Ihnen und mir würden wahrscheinlich Hunderte Situationen einfallen – mir zumindest – wo wir andere brauchen. Warum jetzt nicht?

Pflicht der Christen, auf Verantwortung aufmerksam zu machen

Florin: Ich frage, weil es auch Stimmen aus der katholischen Kirche gibt, aber auch aus der evangelischen Kirche, so nach dem Motto: Die Ungeimpften, die werden jetzt ausgegrenzt, gegen die findet Hass und Hetze statt. Und mal jetzt ganz platt: Jesus ist doch auch auf die Ausgegrenzten zugegangen. Deshalb könne man doch jetzt nicht sagen, lasst euch impfen und gut ist. Sondern man müsse doch respektieren, dass sich Menschen nicht impfen lassen.
Stetter-Karp: Ich teile das insofern nicht, als ich glaube, dass es gerade in unserer Haben-Gesellschaft notwendig ist, eben auch aufmerksam zu machen, dass die Selbstbestimmung allein nicht ausreicht, dass da ein Gegenüber von Verantwortung steht und ich habe nicht den Eindruck, dass das in unserer Gesellschaft in einem Lot ist. Ich kann es niemandem verbieten. Ich kann es niemandem gebieten. Aber darauf aufmerksam zu machen, öffentlich, das halte ich schon für eine Pflicht, auch von Christen.

"Es gibt zu viele mit mir, die nicht bereit sind, sich in einen Turm zurückzuziehen"

Florin: Und Sie möchten natürlich gehört werden immer noch. Wenn der Synodale Weg nicht zu der Reform führt, die Sie vorhin skizziert haben, nicht zu der Kirche, die Sie sich vorstellen können, für die Sie auch seit Jahrzehnten schon kämpfen, was bedeutet das dann für die gesellschaftliche Rolle der Kirche? Ich meine, man kann ja auch sagen, bisher ist sie ja auch mehr oder weniger unverändert geblieben und hat noch immer einen wichtigen gesellschaftlichen Einfluss.
Stetter-Karp: Es gibt Kardinäle, die eine katholische Kirche im Turm - im Bild - sich denken können und es auch gar nicht schwierig finden. Ich weiß aber: Es gibt Hundertausende von Christen, möglicherweise könnte ich Millionen sagen, wenn ich jetzt einfach die europäischen Länder um uns herum mitdenke, es gibt eben unendlich viele Christen, die sagen: Das ist nicht unser Glaube. Und seit wann können wir uns eine Nachfolge von Jesus im Kämmerchen vorstellen? Also, mögen andere glauben, dass es so geht, es gibt zu viele mit mir, die nicht bereit sind, sich in einen Turm zurückzuziehen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.