Ein Ritual hat sich eingespielt in Zeiten von Social Media und bezahltem journalistischen Content. Sein Ablauf funktioniert so: Ein Journalist schreibt einen Artikel zu einem gerade relevanten Thema oder führt ein Interview mit einer interessanten Person. Die Redaktion beschließt, dass dieser Inhalt so gut ist, dass Menschen dafür bezahlen würden – und packt ihn hinter eine Bezahlschranke. Also muss ich die Zeitung abonnieren, um den Artikel zu lesen. Das ist ja auch fein. Journalismus kostet Geld und sollte vergütet werden, um unabhängig zu sein. Dass ich das Abo-Modell ungünstig finde, ist ein anderes Thema.
Die Aufregung ist gewollt
Um aber das Abo ausreichend interessant zu machen, versieht die Redaktion den Artikel mit einer möglichst krassen, schrillen Überschrift, einem möglichst interessanten Foto und einem Teaser, der genug Gemüter erregen wird, um breit geteilt zu werden. Das Ganze wird dann als Tweet, auf Facebook oder Instagram geteilt in der Hoffnung, dass möglichst viele Menschen erfahren wollen, was sich hinter dem Teaser verbirgt.
Völlig erwartbar regen sich Menschen über die Überschrift oder den Teaser auf – sollen sie ja – und kritisieren die Zeitung. Die fragt hingegen immer diese Frage zurück: "Haben Sie den Artikel überhaupt gelesen?"
Gewagter Teaser, dahinter die Paywall
Das heilige Ritual durfte ich in den letzten Wochen diverse Male erleben. Als zum Beispiel die "FAZ" teaste: "Wo nötig, muss der Rechtsstaat sich wieder Respekt verschaffen. Auch Migranten haben sich an Recht und Gesetz zu halten." Hat der Rechtsstaat an Respekt verloren? Denkt irgendjemand, dass Migranten sich nicht an Recht und Gesetz zu halten haben? Ziemlich gewagte Thesen, die da einfach unterstellt werden.
Auf Kritik kam die eine Frage: Hast du den Text gelesen? Nein. Der ist hinter einer Paywall. Ich kann nicht 200 Euro im Jahr für jede einzelne Zeitung ausgeben, aus der ich hin und wieder einen Online-Artikel lese. Aber habe ich deswegen kein Recht, mich über den Teaser zu beschweren, weil der Artikel angeblich viel differenzierter und weniger rassistisch ist?
Natürlich habe ich das Recht. Denn der Tweet mit Bild, Überschrift und Teaser ist ein eigenständiger Text. Er wird von den meisten Lesern nämlich ohne den dazugehörigen Artikel gesehen und er erzeugt eine Wirkung. Er trägt zur Debatte bei. Und weil er ohne den Artikel funktioniert, kann man ihn auch ohne den Artikel bewerten.
Die adäquate Antwort auf "Das hier ist rassistisch" ist nicht "Haben Sie den Artikel überhaupt gelesen?". Ebenso wie die Antwort auf "Diese Werbung ist sexistisch" ja auch nicht sein kann: "Haben Sie das Waschpulver überhaupt gekauft und ausprobiert?"
Auch Teaser brauchen Sorgfalt
Social Media und klassische Massenmedien leben schon lange in einer engen Symbiose miteinander. In dieser Symbiose hat sich der Artikelteaser zu einem eigenen Genre mit eigenen Regeln entwickelt. Und weil beide – Social Media und Journalismus – viele Klicks brauchen, ist dieses Genre mehr darauf ausgerichtet, Aufmerksamkeit zu erregen, als ausgewogen oder akkurat zu sein. Dieses Anteasern ist aber absolut Bestandteil der journalistischen Arbeit und muss mit der gleichen Sorgfalt erfolgen, weil sonst das Vertrauen in den Journalismus selbst zunehmend Schaden nimmt.
Angesichts dieser Gefahr ist es mindestens zu kurz gedacht, den Leser zu beschuldigen, dass er der irreführenden Werbung nicht gefolgt ist, um ihre Irreführung zu durchschauen.