Der exotische Name, der Anblick der Autorin Marie NDiaye täuschen. In der dunklen Haut steckt eine urfranzösische Autorin. Marie NDiayes Vater stammt aus dem Senegal, verließ die Familie aber, als die Tochter ein Jahr alt war. Geboren ist sie in der zentralfranzösischen Kleinstadt Pithiviers, ihre Mutter eine französische Lehrerin, die Großeltern sind Bauern aus der Beauce. Sie selbst ist aufgewachsen mit und getränkt von französischer Kultur. Nach Afrika ist sie als Erwachsene gereist, zweimal, und fühlte sich dort so fremd, wie es jedem von uns Weißen auch erginge.
Auch Marie NDiayes Bücher spielen in Frankreich und handeln von französischen Dingen. Mit Ausnahme desjenigen, das sie auch in Deutschland auf einen Schlag bekannt gemacht hat: "Drei starke Frauen", für das sie 2009 den Prix Goncourt erhielt. Sesshaft nach Art französischer Bauern ist die Autorin allerdings nicht; nach wechselnden Wohnsitzen in England, Spanien, Italien und auf Guadeloupe ist sie mit ihrer Familie nach Berlin gegangen, wo sie heute lebt. Sie ist eine kämpferische Natur, mit ihren deutlichen Worten gegen den damaligen Staatspräsidenten Sarkozy hat sie die französische Politszene aufgemischt; sie scheut aber auch die öffentliche Auseinandersetzung mit Kollegen nicht.
Literarisch hat sie eine fulminante Karriere gemacht; ihren ersten Roman schrieb sie als Siebzehnjährige, schickte ihn an Jérôme Lindon, den Verleger der berühmten Editions de Minuit, Hausverlag des Nouveau Roman; und Lindon nahm ihn an. Seither sind etliche Romane und Theaterstücke erschienen, auch auf Deutsch, in verschiedenen Verlagen. Nun hat sie offenbar bei Suhrkamp eine Heimat gefunden, denn nach den "Drei starken Frauen" bringt der Verlag auch ältere Titel der Autorin auf Deutsch heraus. So ist "Ein Tag zu lang" im französischen Original bereits 1994 erschienen, unter dem Titel "Un temps de saison", der das Ungreifbare der Romanatmosphäre ungleich besser wiedergibt als der urteilsstarke deutsche Titel.
Es ist eigentlich eine Novelle, eine unerhörte Begebenheit ganz in klassischer Tradition: Der Mathematiklehrer Herman, der jedes Jahr mit seiner Frau Rose und dem gemeinsamen Kind lange Sommerferien auf dem Land verbringt, wie das so viele Pariser tun, will dieses Jahr nicht am 31. August zurück in die Hauptstadt, sondern einen Tag später. An diesem Tag später ist aber alles anders: Das Wetter hat umgeschlagen, statt blauem Himmel gibt es Regen, die Temperaturen sinken schlagartig und verwandeln die Landschaft in eine Matschwüste.
Vor allem aber sind Frau und Kind verschwunden. Sie wollten Eier beim benachbarten Bauern holen, sind auf dem Hof aber offenbar nie eingetroffen. Herman tut nun das, was man in solchen Fällen tut: Er läuft herum, fragt im Dorf, sucht die Polizeistation auf. Dort wimmelt ihn ein aus seinem Büroschlaf aufgestörter Polizist ab. Herman versucht es auf dem Rathaus; vor dem Bürgermeister, den er sprechen will, türmen sich aber raffinierte bürokratische Hürden auf. Der Leser glaubt sich in Kafkas "Schloss" versetzt; wie dort gerät Herman das eigentliche Ziel, Frau und Kind wiederzufinden, schnell aus den Augen, und wird ersetzt durch ein neues: die Dorfbewohner für sich einzunehmen, mit dem Dorf, das sich unter derart veränderten Auspizien präsentiert, vertraut zu werden; dann würde sich die Wiederkehr der Verschwundenen, so kündigt es der Leiter des Fremdenverkehrsamtes an, ganz von selbst vollziehen. Erzwingen ließe sich das nicht.
So bezieht Herman ein Zimmer im Relais, lässt sich einlullen von der trägen Faszination der Hotelierstochter Charlotte, versucht die eigenen Riten und Gesetze der dörflichen Gesellschaft zu begreifen. Bald verändert er sich selbst, übernimmt sogar jenes "verführerische und kalte Lächeln", das sämtliche Dorfbewohner ständig aufsetzen. Der Gedanke, seine Familie wiederzufinden, streift ihn zwar hin und wieder noch, aber er wird zunehmend abstrakt; eigentlich kann er sich schon an die Gesichtszüge seiner Lieben nicht mehr erinnern. Der unentwegt fallende Regen durchdringt nicht nur Kleider und Haare, sondern löst auch seinen Willen auf, verwandelt ihn in ein antriebsloses, dumpf-zufriedenes Wesen. Selbst sein Gehirn, heißt es gegen Ende, "war mit Wasser vollgezogen und tropfte, so schien ihm, gegen die Wände seines Schädels, ja das ganze Innere seines Körpers triefte, ohne sich ergießen zu können."
Marie NDiaye arbeitet auf dem Boden eines im französischen Kontext fast folkloristischen Sujets - Sommerferien von Parisern auf dem Lande - mit Genre-Elementen, die uns aus der Literatur- und Filmgeschichte vertraut sind, von der Gothic Novel über Kafka bis zum Horrorfilm. Was sie in ihrem Roman aber daraus macht, hat nichts Vertrautes mehr, sondern irritiert den Leser bald mehr als den sich verflüssigenden Helden, der selbst dann seine neue Indolenz nicht mehr ablegt, als ihm Frau und Kind als Geister erscheinen.
Die Irritation schöpft die Autorin vor allem aus Ambivalenz und Unangemessenheit. Niemand verhält sich so, wie es der Situation entsprechen würde.
Und auch die Gefühle spielen verrückt: Die Dorfbewohner sind von erlesener Höflichkeit und einer Hilfsbereitschaft, die durch keinerlei Handeln eingelöst wird und deshalb umso bösartiger wirkt. Umgekehrt begegnet Herman etwa dem Tourismuschef mit einer Mischung aus "Hass, Reue und Verlegenheit". Affekte, die nirgendwo zusammenpassen, nur in dieser Romanwelt. Schmeichlerisches Buhlen um Zuneigung wechselt ab mit heftigen Zornausbrüchen. Mit einer perversen Lust lässt er sich gehen. Und alles findet statt in sprachlich traumwandlerisch souveränen, keinen Zweifel zulassenden Sätzen. Klassisches Französisch. Hier ist sich eine Autorin absolut sicher - darin, dass nichts sicher ist. Nicht einmal, dass das Dorf für Herman zum Gefängnis wird, zum Huis clos - das wäre schon wieder eine literarhistorische Haltestange.
Nein, ein Ausflug in die nächste Stadt L. ist möglich. Dort trifft Herman plötzlich seine Schwiegereltern, will mit diesen unbedingt sofort ins Dorf zurück, wird durch einen Sturm daran gehindert, findet doch einen Taxifahrer, der die Tour wagen will, "das schlimmste Taxi von L.", wie es heißt - der Fahrer ist betrunken und hat keine Nase. Was wird das werden - hat sich eine Gogol-Figur in den Roman verirrt? Oder ist es Charon, fahren wir über den Styx ins Totenreich? Nein, wir fahren nirgendwohin. Der Motor streikt, das Auto bleibt stehen. "Da haben wir's, es lässt uns im Stich", ruft der Taxifahrer. Schluss, Aus, Ende. Hat uns auch die Autorin im Stich gelassen, uns mit dem nasenlosen Fahrer eine Nase gedreht? Nein. Die Fahrt geht erst richtig los: Aber ans Steuer müssen jetzt wir, die Leser. Und was wir so im Fantasiespeicher haben, in den Abteilungen Horror, Krimi, Surrealismus oder magische Wirklichkeit, hilft hier nicht weiter.
Ein höchst irritierendes, ein tolles Stück Prosa von einer Autorin, die damals erst 27 Jahre alt war und heute zu den besten ihrer Generation zählt.
Marie NDiaye: Ein Tag zu lang
Roman
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp, Berlin 2012. 160 S., 15,95 Euro
Auch Marie NDiayes Bücher spielen in Frankreich und handeln von französischen Dingen. Mit Ausnahme desjenigen, das sie auch in Deutschland auf einen Schlag bekannt gemacht hat: "Drei starke Frauen", für das sie 2009 den Prix Goncourt erhielt. Sesshaft nach Art französischer Bauern ist die Autorin allerdings nicht; nach wechselnden Wohnsitzen in England, Spanien, Italien und auf Guadeloupe ist sie mit ihrer Familie nach Berlin gegangen, wo sie heute lebt. Sie ist eine kämpferische Natur, mit ihren deutlichen Worten gegen den damaligen Staatspräsidenten Sarkozy hat sie die französische Politszene aufgemischt; sie scheut aber auch die öffentliche Auseinandersetzung mit Kollegen nicht.
Literarisch hat sie eine fulminante Karriere gemacht; ihren ersten Roman schrieb sie als Siebzehnjährige, schickte ihn an Jérôme Lindon, den Verleger der berühmten Editions de Minuit, Hausverlag des Nouveau Roman; und Lindon nahm ihn an. Seither sind etliche Romane und Theaterstücke erschienen, auch auf Deutsch, in verschiedenen Verlagen. Nun hat sie offenbar bei Suhrkamp eine Heimat gefunden, denn nach den "Drei starken Frauen" bringt der Verlag auch ältere Titel der Autorin auf Deutsch heraus. So ist "Ein Tag zu lang" im französischen Original bereits 1994 erschienen, unter dem Titel "Un temps de saison", der das Ungreifbare der Romanatmosphäre ungleich besser wiedergibt als der urteilsstarke deutsche Titel.
Es ist eigentlich eine Novelle, eine unerhörte Begebenheit ganz in klassischer Tradition: Der Mathematiklehrer Herman, der jedes Jahr mit seiner Frau Rose und dem gemeinsamen Kind lange Sommerferien auf dem Land verbringt, wie das so viele Pariser tun, will dieses Jahr nicht am 31. August zurück in die Hauptstadt, sondern einen Tag später. An diesem Tag später ist aber alles anders: Das Wetter hat umgeschlagen, statt blauem Himmel gibt es Regen, die Temperaturen sinken schlagartig und verwandeln die Landschaft in eine Matschwüste.
Vor allem aber sind Frau und Kind verschwunden. Sie wollten Eier beim benachbarten Bauern holen, sind auf dem Hof aber offenbar nie eingetroffen. Herman tut nun das, was man in solchen Fällen tut: Er läuft herum, fragt im Dorf, sucht die Polizeistation auf. Dort wimmelt ihn ein aus seinem Büroschlaf aufgestörter Polizist ab. Herman versucht es auf dem Rathaus; vor dem Bürgermeister, den er sprechen will, türmen sich aber raffinierte bürokratische Hürden auf. Der Leser glaubt sich in Kafkas "Schloss" versetzt; wie dort gerät Herman das eigentliche Ziel, Frau und Kind wiederzufinden, schnell aus den Augen, und wird ersetzt durch ein neues: die Dorfbewohner für sich einzunehmen, mit dem Dorf, das sich unter derart veränderten Auspizien präsentiert, vertraut zu werden; dann würde sich die Wiederkehr der Verschwundenen, so kündigt es der Leiter des Fremdenverkehrsamtes an, ganz von selbst vollziehen. Erzwingen ließe sich das nicht.
So bezieht Herman ein Zimmer im Relais, lässt sich einlullen von der trägen Faszination der Hotelierstochter Charlotte, versucht die eigenen Riten und Gesetze der dörflichen Gesellschaft zu begreifen. Bald verändert er sich selbst, übernimmt sogar jenes "verführerische und kalte Lächeln", das sämtliche Dorfbewohner ständig aufsetzen. Der Gedanke, seine Familie wiederzufinden, streift ihn zwar hin und wieder noch, aber er wird zunehmend abstrakt; eigentlich kann er sich schon an die Gesichtszüge seiner Lieben nicht mehr erinnern. Der unentwegt fallende Regen durchdringt nicht nur Kleider und Haare, sondern löst auch seinen Willen auf, verwandelt ihn in ein antriebsloses, dumpf-zufriedenes Wesen. Selbst sein Gehirn, heißt es gegen Ende, "war mit Wasser vollgezogen und tropfte, so schien ihm, gegen die Wände seines Schädels, ja das ganze Innere seines Körpers triefte, ohne sich ergießen zu können."
Marie NDiaye arbeitet auf dem Boden eines im französischen Kontext fast folkloristischen Sujets - Sommerferien von Parisern auf dem Lande - mit Genre-Elementen, die uns aus der Literatur- und Filmgeschichte vertraut sind, von der Gothic Novel über Kafka bis zum Horrorfilm. Was sie in ihrem Roman aber daraus macht, hat nichts Vertrautes mehr, sondern irritiert den Leser bald mehr als den sich verflüssigenden Helden, der selbst dann seine neue Indolenz nicht mehr ablegt, als ihm Frau und Kind als Geister erscheinen.
Die Irritation schöpft die Autorin vor allem aus Ambivalenz und Unangemessenheit. Niemand verhält sich so, wie es der Situation entsprechen würde.
Und auch die Gefühle spielen verrückt: Die Dorfbewohner sind von erlesener Höflichkeit und einer Hilfsbereitschaft, die durch keinerlei Handeln eingelöst wird und deshalb umso bösartiger wirkt. Umgekehrt begegnet Herman etwa dem Tourismuschef mit einer Mischung aus "Hass, Reue und Verlegenheit". Affekte, die nirgendwo zusammenpassen, nur in dieser Romanwelt. Schmeichlerisches Buhlen um Zuneigung wechselt ab mit heftigen Zornausbrüchen. Mit einer perversen Lust lässt er sich gehen. Und alles findet statt in sprachlich traumwandlerisch souveränen, keinen Zweifel zulassenden Sätzen. Klassisches Französisch. Hier ist sich eine Autorin absolut sicher - darin, dass nichts sicher ist. Nicht einmal, dass das Dorf für Herman zum Gefängnis wird, zum Huis clos - das wäre schon wieder eine literarhistorische Haltestange.
Nein, ein Ausflug in die nächste Stadt L. ist möglich. Dort trifft Herman plötzlich seine Schwiegereltern, will mit diesen unbedingt sofort ins Dorf zurück, wird durch einen Sturm daran gehindert, findet doch einen Taxifahrer, der die Tour wagen will, "das schlimmste Taxi von L.", wie es heißt - der Fahrer ist betrunken und hat keine Nase. Was wird das werden - hat sich eine Gogol-Figur in den Roman verirrt? Oder ist es Charon, fahren wir über den Styx ins Totenreich? Nein, wir fahren nirgendwohin. Der Motor streikt, das Auto bleibt stehen. "Da haben wir's, es lässt uns im Stich", ruft der Taxifahrer. Schluss, Aus, Ende. Hat uns auch die Autorin im Stich gelassen, uns mit dem nasenlosen Fahrer eine Nase gedreht? Nein. Die Fahrt geht erst richtig los: Aber ans Steuer müssen jetzt wir, die Leser. Und was wir so im Fantasiespeicher haben, in den Abteilungen Horror, Krimi, Surrealismus oder magische Wirklichkeit, hilft hier nicht weiter.
Ein höchst irritierendes, ein tolles Stück Prosa von einer Autorin, die damals erst 27 Jahre alt war und heute zu den besten ihrer Generation zählt.
Marie NDiaye: Ein Tag zu lang
Roman
Aus dem Französischen von Claudia Kalscheuer. Suhrkamp, Berlin 2012. 160 S., 15,95 Euro