Irrtum Nr. 1:
Tantra-Kurse im Westen, in denen Sex-Massagen oder ritueller Paar-Sex angeboten wird, führen eine 2000 Jahre alte hinduistische Tradition fort.
Tantra-Kurse im Westen, in denen Sex-Massagen oder ritueller Paar-Sex angeboten wird, führen eine 2000 Jahre alte hinduistische Tradition fort.
Statt in Jahrtausenden muss man in Jahrzehnten rechnen. Prägend für das Tantra-Bild im Westen, war die Neo-Tantra-Bewegung des indischen Gurus Bhagwan Shree Rajneesh in den 1970er und 1980er Jahren.
"Ich glaube nicht, dass Bhagwan zu irgendeiner Zeit Schüler einer tantrischen Tradition war. Sondern das, was er anzubieten hat, das hat er sich in erster Linie angelesen in seiner Zeit als Student oder als Professor an philosophischen Fakultäten Indiens."
Sagt Jan-Ulrich Sobisch, einst Tibetisch-Professor in Kopenhagen, jetzt Forscher an der Ruhr-Universität Bochum.
"Er hat eigentlich eher Elemente aufgenommen aus dem Westen. Also zum Beispiel psychotherapeutische Ideen. Das was man heute bei den verbleibenden Bhagwan-Schülern und späteren Anhängern sehen kann, die Angebote, die gemacht werden, vor allem die sexuellen Workshops und so weiter - ich denke, das kommt dem westlichem Gedanken entgegen, dass wie bei der Achtsamkeit oder beim Yoga, die Leute das Religiöse aus diesen Übungen heraus haben wollen und eigentlich Achtsamkeit als Verbesserung ihres Alltags haben wollen. So ähnlich ist es vielleicht auch mit dem Klientel der Leute, die zu solchen sexuellen Workshops gehen. Die wollen eine ungehemmte, nicht neurotische Form von Sexualität erleben, aber das hat eigentlich mit der indischen tantristischen Tradition herzlich wenig zu tun."
Tabus brechen und Hemmungen überwinden
Die modernen Tantriker im Westen praktizierten in ihren Kursen offenbar eher eine Art von Sexualtherapie. Der religiöse Background spiele da keine Rolle mehr. Auch wenn man dort noch die alten Begriffe verwende wie "Tantra" oder "Shakti" für die weibliche Energie.
"Man würde sich eben wünschen, dass die nicht so tun, als ob sie eine religiöse Tradition da weiterführen. Aber, da gibt's eben auch kein Copyright drauf."
Irrtum Nr. 2:
Die sexuelle Vereinigung ist das Haupt-Element der alten tantrischen Religion aus Indien.
Die sexuelle Vereinigung ist das Haupt-Element der alten tantrischen Religion aus Indien.
Nein, sagt Jan-Ulrich Sobisch: Die Tantriker des alten Indiens brachen viele Tabus. Sie wollten eigene Hemmungen und Normen überwinden. Sie stahlen und logen, tranken Alkohol und aßen Fleisch.
"Das Asketische wird abgelehnt. Das, was sonst in der Religion geschieht, nämlich das Sinnliche zu tabuisieren, umgedreht, nämlich das Sinnliche wird eher als Chance und Möglichkeit genutzt. Das Sinnliche spiegelt die Kraft wieder, die man sich einverleiben will. Über die man zur Macht kommen möchte."
Die Tantriker wollten mit ihren Tabubrüchen zeigen, dass alle Dinge eigentlich essentiell gleich sind, die schmutzigen und die reinen Dinge. Ziel ist es, die Dualität zu überwinden.
Deshalb gingen die tantrischen Yogis auf Leichenverbrennungsplätze, die als besonders unrein galten.
"Die andere Sache ist eben das Sexuelle. Und dem liegt wahrscheinlich zu Grunde, dass die Macht, um die es da geht, diese Kraft, die man schöpfen möchte, dass die schon sehr früh weiblich gesehen worden ist. Das heißt, es ist eine interessante und einzigartige Hinwendung zum Weiblichen. Dann im Laufe der Zeit wird dieses Weibliche auch sexualisiert weil Sexualität in der asketischen Welt etwas ist, was überschritten werden kann, was übertreten werden kann."
Meditation, Mantras und Yoga
Also: Die tantrische Praxis auf Sexualität zu verengen, würde den Tantrikern nicht gerecht werden. Außerdem interpretierten sie die provozierenden Praktiken schon sehr früh als Sinnbilder für die Überwindung der Dualität. Die schockierende Aufforderung zum Elternmord verstanden Tantriker als Aufruf sich vom Althergebrachten abzuwenden.
Irrtum Nr. 3:
Im tibetischen Buddhismus kann eine Schülerin rasch spirituelle Fortschritte machen, wenn sie mit ihrem Guru, ihrem Lehrer, tantrischen Sex hat.
Im tibetischen Buddhismus kann eine Schülerin rasch spirituelle Fortschritte machen, wenn sie mit ihrem Guru, ihrem Lehrer, tantrischen Sex hat.
Es gibt zahllose Skulpturen, die die Götter in sexueller Vereinigung mit ihrer Partnerin zeigen.
Sobisch sagt: "Natürlich gibt es auch sexuelle Übungen. Aber auch die sind schon sehr früh visualisierbar. Das heißt, es ist nicht notwendig, dass man einen sexuellen Partner hat, um eine Visualisation durchzuführen. Das ist der Weg, den die meisten tibetisch-buddhistischen Schulen gegangen sind, dass sie diese Übungen verinnerlicht haben, in die Imagination, in die Vorstellung."
Im Tantrismus gibt es eine Fülle von Übungen: Man meditiert, singt Mantras, übt Yoga. Man identifiziert sich mit einer Gottheit auf einer höheren geistigen Ebene. Ganze dreidimensionale Götterpaläste visualisierte man in der Vollstellungswelt. Sexuelle tantrische Übungen außerhalb der Imagination wären die absolute Ausnahme, sagt Sobisch.
"Und wenn es tatsächlich noch vorkommt, geschieht das tatsächlich im Privaten. Und wenn jetzt ein buddhistischer Lehrer herkommen würde und einer Frau vorschlagen würde, die überhaupt völlig ungeübt ist und selbst keine hohe Verwirklichung hat, keine große meditative Erfahrung hat, die auffordert mit ihm in so eine tantrische Verbindung einzugehen, dann ist das eine Missbrauchssituation. Ganz einfach. Eine solche Form von tantrischer Sexualität kann nur stattfinden zwischen zwei hochentwickelten Persönlichkeiten. Das gilt für beide Seiten, da kann man nicht irgendwelche Schüler nehmen und sagen: Man macht jetzt hier irgendwie die höchste Tantra-Übung. Das geht einfach nicht."
Im Zweifel hilft eine Aussage des Dalai Lama weiter. Er hatte gesagt, dass er aktuell niemanden kenne, der befähigt sei, diese höchsten sexuellen tantrischen Rituale auszuüben.