Unter diesem Roman scheint ein Sprengsatz hochgegangen zu sein. Optisch ist er in mehr als 2000 Prosahappen zerborsten: von einer Zeile bis zu einer guten halben Seite Länge. Damit zwingt uns Marie Darrieussecq die Wahrnehmungshektik im Kopf ihrer pubertierenden Heldin Solange auf, ihr Seelenchaos, ihre Orientierungslosigkeit. Die Provinz-Welt im äußersten Südwesten Frankreichs zerfällt in irritierende, oft widersprüchliche Momentaufnahmen. Wir sehen sie durch die Augen einer Ahnungslosen. Denn niemand hat Solange aufgeklärt. Sie muss dem Geheimnis der Sexualität ganz allein auf die Spur kommen: durch Busenvergleich, Lexikonlektüre, durch die Beobachtung der anderen. Warum, fragt sie sich, läuft ihr Vater in der Kirmesnacht nackt und sturzbetrunken zur Kirche? Warum ziehen die Alten ständig über Schwuchteln her? Und hat es ihre Mitschülerin Delphine wirklich schon so oft mit Jungs getrieben? Was passiert dabei überhaupt?
"Wir befinden uns im Kopf von Solange. Selbst wenn sie nicht aus der Ich-Perspektive erzählt, sind wir ständig in ihrem Kopf. Das Sprachniveau ist also das der Jugend. Da gibt es Sätze, die von vornherein feststehen. Und ich arbeite gern mit Spachklischees, mit Stereotypen, Sätzen, die ständig benutzt werden, ohne dass man genau weiß, was sie noch bedeuten. Bei den Jugendlichen kreisen sie um ihre Ängste. Zum Beispiel um die Angst vor dem ersten Mal. Für diesen Übergang gibt es jede Menge Formulierungen, die sich nicht allzu sehr verändert haben. Oder für die erste Regel! Was für eine Riesenaffäre! Selbst wenn ein Mädchen von einer einfühlsamen Mutter gut aufgeklärt worden ist, werden immer Sachen tabu bleiben. Und genau die machen mich neugierig. Ich möchte wissen, warum das so ist. Es gibt also jede Menge vorgestanzte Sätze in diesem Roman, die, so hoffe ich, komische Effekte erzeugen. Denn es gibt einen Gegensatz zwischen dem, was sich all diese Mädchen erzählen, und der Wirklichkeit, die viel einfacher ist, viel roher auch – es gibt einen Kontrast zwischen den Einbildungen und der Realität, der hoffentlich hart wirkt, aber auch lustig."
Im Original trägt der Roman "Prinzessinnen" als Titel den Namen des Provinzkaffs, in dem er spielt: "Clèves". Dahinter steckt eine Anspielung auf den berühmten Roman "Die Prinzessin von Clèves". Sie war im 17. Jahrhundert eine Heldin des "nein", der sexuellen Verweigerung. Marie Darrieussecq gestaltet Solange nun als Gegenbild zur Prinzessin von Clèves. Sie macht aus ihr eine Heldin des "ja". Denn Solange macht alles mit. Sie gleicht einer Wissenschaftlerin, die ihren eigenen Körper erkundet: seine Reaktionen und Vorlieben. Und das Paradox: der hübsche, klugscheißernde Casanova Arnaud entpuppt sich horizontal als stümperhaft und egozentrisch. Anders der klobige, ein wenig tumbe Nachbar Bihotz. Bei ihm hat Solange seit früher Kindheit übernachtet, wenn ihre Eltern früh zur Arbeit mussten.
Bihotz, der als Mamasöhnchen gilt, liebt die Kleine über alles. Aber er will sie schützen: vor den Dorfburschen genauso wie vor sich selbst. Solange aber, die minderjährige Lolita, die ihre Reize systematisch erkundet, provoziert ihn so lange, bis er nicht mehr widerstehen kann. Ausgerechnet mit Bihotz erlebt Solange endlich Momente körperlicher Erfüllung. Er will ihr sogar ihren großen Traum erfüllen und mit ihr aus Clèves fliehen. Doch kommt es natürlich anders.
Das Anschauungsmaterial für ihren Roman "Prinzessinnen" fand Marie Darrieussecq, die mit sechs Jahren begann, Geschichten zu erfinden, übrigens in einer alten Kiste.
"Ich hatte ein Tagebuch auf Kassetten. Das ist ein bisschen speziell. Aber da ich immer gierig auf Fiktionen gewesen bin, hätte es mich gestört, auch mein Tagebuch mit der Hand zu schreiben. Das war für mich wirklich undenkbar. Aber da alle meine Freundinnen Tagebuch führten, brauchte ich auch eins. Also habe ich es auf diese großen Kassetten aufgenommen, die damals modern waren - und sie nie wieder angehört. Erst für den Roman. Das hat mich drei ganze Wochen meines Lebens gekostet, in denen ich nichts anderes getan habe! Ich habe einen alten Walkman gefunden, den ich Ihnen zeigen kann. Denn sonst kann man diese alten Kassetten ja nicht mehr abhören.
Das war ein sehr sonderbares Abtauchen in völlig vergessene, belanglose Dinge: Streitereien zwischen 15-Jährigen. Aber es gab auch viele sinnliche Entdeckungen - vor allem diesen Soundtrack der 1980er-Jahre, der mit ins Buch eingeflossen ist: Die Absätze der Hausschuhe meiner Mutter auf den Fliesen, die ich – eingeschlossen in meinem Zimmer – immer hörte; und einmal hat das Telefon geklingelt, dieses Dring der 80er-Jahre, das man heute wieder imitiert; und dann die Tiere: die Vögel im Käfig, die Schafe auf dem Feld unten; oder die Kirchenglocken aus dem Dorf. Das war sehr, sehr intensiv. Das war wirklich wie bei Proust - Sie kennen ja diese Geschichte mit der Madeleine. Über die Klänge hat sich die Provinz dieser Jahre wieder geöffnet. Danach musste ich nur noch alles aufschreiben. Der Roman bleibt aber eine Fiktion. Meine Jugend ist nicht so – sagen wir – heftig gewesen. Aber sie ähnelte dem doch ein wenig."
Heftig – dieses Wort trifft es. Denn für Romantik bleibt wenig Raum. Marie Darrieussecq beschreibt die Irrwege der Pubertät mit einer fast schon brutalen, tabulosen Illusionslosigkeit. Gleichzeitig provoziert die Unerfahrenheit der lüsternen Solange reihenweise urkomische Situationen: Sei es beim Beobachten eines Rudels Hunde, die einer nach dem anderen, der Hierarchie gemäß, eine hilflose Hündin besteigen, oder beim allerersten Kuss mit einem Feuerwehrmann. Wir folgen Solange also zugleich beklommen und amüsiert.
"Hunderte von Jahren ist einem die Jungfräulichkeit eingeimpft worden: dass man bis zur Hochzeit unberührt bleiben müsse. Das ging so bis in die 1950er-, 60er-Jahre. Dann kam in Frankreich die Empfängnisverhütung, das Recht auf Abtreibung. Und wieder 15 Jahre später war Aids angesagt. Es gibt also dieses Zeitfenster von 15 Jahren. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sollten die Mädchen nicht mehr als Jungfrau in die Ehe gehen. Vielmehr sollten sie ihre Jungfräulichkeit so schnell wie möglich verlieren. Sonst wären sie Mauerblümchen, dumme Gänse – es gibt viele Ausdrücke dafür. Trotzdem riskierte man weiterhin, als Schlampe zu gelten. Man sollte es also machen, aber mit einer gewissen Diskretion. Ich glaube, man hat diese Frauengeneration, wo alles durcheinanderging, historisch und soziologisch noch gar nicht richtig erfasst. Man wusste nicht wohin mit seinem Jungmädchenkörper. Und die Jungen wussten es auch nicht. Ich habe die 1980er Jahre wirklich in großer Verwirrung durchlebt. Niemand wusste, wie er sich sexuell verhalten sollte. Man sollte alles tun! Aber was hieß das? Davon handelt der Roman."
Marie Darrieussecq urteilt nicht über Solange. Sie lässt sie laufen: in unklare Sehnsüchte, in blinde Hoffnungen, in haarsträubenden Egoismus, in kühle Ernüchterungen, kurz: in sexuelle Abenteuer voller Widersprüche. "Prinzessinnen" besticht durch die kompositorische Zugkraft der Prosahappen, durch seinen sprachlichen Zugriff, durch seine wunderbare Lakonik, die mal das Brachiale, mal das Offene sucht. Aber Vorsicht: Dieser packende, aufregende, verstörende Roman ist kein Aufklärungsbuch. Dafür ist er zu provokant, zu genau. Dafür endet er zu tragisch.
Marie Darrieussecq: "Prinzessinnen", Roman, aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, Hanser Verlag, München 2013, 304 Seiten, 19,95 Euro
"Wir befinden uns im Kopf von Solange. Selbst wenn sie nicht aus der Ich-Perspektive erzählt, sind wir ständig in ihrem Kopf. Das Sprachniveau ist also das der Jugend. Da gibt es Sätze, die von vornherein feststehen. Und ich arbeite gern mit Spachklischees, mit Stereotypen, Sätzen, die ständig benutzt werden, ohne dass man genau weiß, was sie noch bedeuten. Bei den Jugendlichen kreisen sie um ihre Ängste. Zum Beispiel um die Angst vor dem ersten Mal. Für diesen Übergang gibt es jede Menge Formulierungen, die sich nicht allzu sehr verändert haben. Oder für die erste Regel! Was für eine Riesenaffäre! Selbst wenn ein Mädchen von einer einfühlsamen Mutter gut aufgeklärt worden ist, werden immer Sachen tabu bleiben. Und genau die machen mich neugierig. Ich möchte wissen, warum das so ist. Es gibt also jede Menge vorgestanzte Sätze in diesem Roman, die, so hoffe ich, komische Effekte erzeugen. Denn es gibt einen Gegensatz zwischen dem, was sich all diese Mädchen erzählen, und der Wirklichkeit, die viel einfacher ist, viel roher auch – es gibt einen Kontrast zwischen den Einbildungen und der Realität, der hoffentlich hart wirkt, aber auch lustig."
Im Original trägt der Roman "Prinzessinnen" als Titel den Namen des Provinzkaffs, in dem er spielt: "Clèves". Dahinter steckt eine Anspielung auf den berühmten Roman "Die Prinzessin von Clèves". Sie war im 17. Jahrhundert eine Heldin des "nein", der sexuellen Verweigerung. Marie Darrieussecq gestaltet Solange nun als Gegenbild zur Prinzessin von Clèves. Sie macht aus ihr eine Heldin des "ja". Denn Solange macht alles mit. Sie gleicht einer Wissenschaftlerin, die ihren eigenen Körper erkundet: seine Reaktionen und Vorlieben. Und das Paradox: der hübsche, klugscheißernde Casanova Arnaud entpuppt sich horizontal als stümperhaft und egozentrisch. Anders der klobige, ein wenig tumbe Nachbar Bihotz. Bei ihm hat Solange seit früher Kindheit übernachtet, wenn ihre Eltern früh zur Arbeit mussten.
Bihotz, der als Mamasöhnchen gilt, liebt die Kleine über alles. Aber er will sie schützen: vor den Dorfburschen genauso wie vor sich selbst. Solange aber, die minderjährige Lolita, die ihre Reize systematisch erkundet, provoziert ihn so lange, bis er nicht mehr widerstehen kann. Ausgerechnet mit Bihotz erlebt Solange endlich Momente körperlicher Erfüllung. Er will ihr sogar ihren großen Traum erfüllen und mit ihr aus Clèves fliehen. Doch kommt es natürlich anders.
Das Anschauungsmaterial für ihren Roman "Prinzessinnen" fand Marie Darrieussecq, die mit sechs Jahren begann, Geschichten zu erfinden, übrigens in einer alten Kiste.
"Ich hatte ein Tagebuch auf Kassetten. Das ist ein bisschen speziell. Aber da ich immer gierig auf Fiktionen gewesen bin, hätte es mich gestört, auch mein Tagebuch mit der Hand zu schreiben. Das war für mich wirklich undenkbar. Aber da alle meine Freundinnen Tagebuch führten, brauchte ich auch eins. Also habe ich es auf diese großen Kassetten aufgenommen, die damals modern waren - und sie nie wieder angehört. Erst für den Roman. Das hat mich drei ganze Wochen meines Lebens gekostet, in denen ich nichts anderes getan habe! Ich habe einen alten Walkman gefunden, den ich Ihnen zeigen kann. Denn sonst kann man diese alten Kassetten ja nicht mehr abhören.
Das war ein sehr sonderbares Abtauchen in völlig vergessene, belanglose Dinge: Streitereien zwischen 15-Jährigen. Aber es gab auch viele sinnliche Entdeckungen - vor allem diesen Soundtrack der 1980er-Jahre, der mit ins Buch eingeflossen ist: Die Absätze der Hausschuhe meiner Mutter auf den Fliesen, die ich – eingeschlossen in meinem Zimmer – immer hörte; und einmal hat das Telefon geklingelt, dieses Dring der 80er-Jahre, das man heute wieder imitiert; und dann die Tiere: die Vögel im Käfig, die Schafe auf dem Feld unten; oder die Kirchenglocken aus dem Dorf. Das war sehr, sehr intensiv. Das war wirklich wie bei Proust - Sie kennen ja diese Geschichte mit der Madeleine. Über die Klänge hat sich die Provinz dieser Jahre wieder geöffnet. Danach musste ich nur noch alles aufschreiben. Der Roman bleibt aber eine Fiktion. Meine Jugend ist nicht so – sagen wir – heftig gewesen. Aber sie ähnelte dem doch ein wenig."
Heftig – dieses Wort trifft es. Denn für Romantik bleibt wenig Raum. Marie Darrieussecq beschreibt die Irrwege der Pubertät mit einer fast schon brutalen, tabulosen Illusionslosigkeit. Gleichzeitig provoziert die Unerfahrenheit der lüsternen Solange reihenweise urkomische Situationen: Sei es beim Beobachten eines Rudels Hunde, die einer nach dem anderen, der Hierarchie gemäß, eine hilflose Hündin besteigen, oder beim allerersten Kuss mit einem Feuerwehrmann. Wir folgen Solange also zugleich beklommen und amüsiert.
"Hunderte von Jahren ist einem die Jungfräulichkeit eingeimpft worden: dass man bis zur Hochzeit unberührt bleiben müsse. Das ging so bis in die 1950er-, 60er-Jahre. Dann kam in Frankreich die Empfängnisverhütung, das Recht auf Abtreibung. Und wieder 15 Jahre später war Aids angesagt. Es gibt also dieses Zeitfenster von 15 Jahren. Zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sollten die Mädchen nicht mehr als Jungfrau in die Ehe gehen. Vielmehr sollten sie ihre Jungfräulichkeit so schnell wie möglich verlieren. Sonst wären sie Mauerblümchen, dumme Gänse – es gibt viele Ausdrücke dafür. Trotzdem riskierte man weiterhin, als Schlampe zu gelten. Man sollte es also machen, aber mit einer gewissen Diskretion. Ich glaube, man hat diese Frauengeneration, wo alles durcheinanderging, historisch und soziologisch noch gar nicht richtig erfasst. Man wusste nicht wohin mit seinem Jungmädchenkörper. Und die Jungen wussten es auch nicht. Ich habe die 1980er Jahre wirklich in großer Verwirrung durchlebt. Niemand wusste, wie er sich sexuell verhalten sollte. Man sollte alles tun! Aber was hieß das? Davon handelt der Roman."
Marie Darrieussecq urteilt nicht über Solange. Sie lässt sie laufen: in unklare Sehnsüchte, in blinde Hoffnungen, in haarsträubenden Egoismus, in kühle Ernüchterungen, kurz: in sexuelle Abenteuer voller Widersprüche. "Prinzessinnen" besticht durch die kompositorische Zugkraft der Prosahappen, durch seinen sprachlichen Zugriff, durch seine wunderbare Lakonik, die mal das Brachiale, mal das Offene sucht. Aber Vorsicht: Dieser packende, aufregende, verstörende Roman ist kein Aufklärungsbuch. Dafür ist er zu provokant, zu genau. Dafür endet er zu tragisch.
Marie Darrieussecq: "Prinzessinnen", Roman, aus dem Französischen von Patricia Klobusiczky, Hanser Verlag, München 2013, 304 Seiten, 19,95 Euro