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Irvine Welsh im Corso-Gespräch
Fast Food, Schlankheitswahn und Boulevardfernsehen

"Das Sexleben siamesischer Zwillinge" heißt der neunte Roman von Irvine Welsh. Darin treffen Lucy, ein Menschen hassender Fitnessfreak, und die depressive, adipöse Künstlerin Lena aufeinander. Im Corso-Gespräch verrät der Autor, wie er auf die beiden Frauen kam, was ihn an Miami fasziniert und welche die beste Droge fürs Leben ist.

Irvine Welsh im Gespräch mit Dirk Schneider |
    Der schottische Autor Irvine Welsh lehnt an einem Baumstamm.
    Der schottische Autor Irvine Welsh findet beim Schreiben nur selten ein Ende. (imago/El Mundo)
    Dirk Schneider: Mr. Welsh, Sie haben gerade zu Mittag gegessen, was gab es denn?
    Irvine Welsh. Es gab Lachs und Salat. Ich habe in letzter Zeit zu viel Fleisch gegessen.
    Schneider: Klingt nach einem Mittagessen, das Lucy aus Ihrem neuen Buch geschmeckt hätte.
    Welsh: Ja, das war ein echtes Lucy-Mittagessen. Was ich in der letzten Zeit gegessen habe, das war eher "Trainspotting"-Ernährung. Ich bin letzten Freitag aus den USA gekommen und habe meine Mutter besucht. Sie ist keine gute Köchin, sie macht schreckliches Essen. Aber sie hatte ein riesiges Osterei, das haben wir zusammen gegessen. Und jetzt muss ich mich wieder ein bisschen in Richtung Lucy orientieren. Es gibt hier im Hotel einen Fitnessraum.
    Schneider: Lucy ist eine Figur aus Ihrem neuen Buch, ein Menschen hassender Fitnessfreak. Die andere Figur, Lena, ist eine adipöse, depressive Künstlerin. Wie sind Sie bloß auf diese Figuren gekommen?
    Welsh: Ich war in einem Fitnessklub in Miami, und da habe ich diese beiden Frauen beim Training gesehen: Die eine hat die andere angeschrien, die geweint hat, während Sie auf dem Laufband rannte. Und ich dachte: Großartig, da habe ich meine beiden Protagonistinnen: Eine durchgeknallte, quasifaschistische Fitnesstrainerin, und dieses arme, bedröppelte Wesen, das nicht so recht weiß, wie ihm geschieht. Und das auch noch dafür bezahlt, dass es so gequält wird. Ich habe mich gefragt: Warum macht die das? Und angefangen, über die Beziehung der beiden nachzudenken.
    Schneider: Ich habe gelesen, dass Sie Ihre Abschlussarbeit an der Universität über Chancengleichheit für Frauen geschrieben haben. Als Frauenrechtler habe ich Sie mir gar nicht vorgestellt.
    "In Miami geht es total um Äußerlichkeiten"
    Welsh: Das bin ich auch nicht. Ich wollte über Amerika schreiben, und besonders über Miami, das ist eine völlig andere Kultur als in Schottland. Schottland hat eine sehr orale Kultur, Erzählungen spielen eine große Rolle. In Miami geht es sehr stark um das Visuelle, es dreht sich alles um Kunst, Fotografie, um Models, die Leute zeigen ihre Körper am Strand. Es ist sehr oberflächlich und glatt, es geht total um Äußerlichkeiten. Und auf der anderen Seite gibt es sehr viele arme Menschen dort, und viel schlechtes Essen, Fast Food ist sehr verbreitet. Dieser krasse Gegensatz fasziniert mich. Der Druck, gut auszusehen, ist sehr groß, für Männer und für Frauen. Aber natürlich kriegen die Frauen es viel stärker ab, auch durch die Bilder in der Werbung. Darum habe ich für meine Geschichte zwei Frauen ausgewählt.
    Schneider: Die Geschichte ist eine Satire.
    Welsh: Ja, es ist eine Satire über die Medienkultur der Breaking News. Wenn jemand auf der Straße erschossen wird, ist die Story nicht einfach: Jemand ist auf der Straße erschossen worden. Alle wollen den persönlichen Hintergrund wissen. Wenn jemand Kinder aus einem brennenden Haus rettet, wird er ein Held. Und sofort stürzt sich die Presse auf sein Privatleben. Aus den Nachrichten wird Reality-TV, die Leute werden zu Stars, die Geschichten werden immer weiter gesponnen, bis die Medien sich auf die nächste Geschichte stürzen. Und das hat mich auch interessiert, die Geschichte einer Person zu erzählen, die in so eine Mühle reingerät und am Ende völlig machtlos ist.
    Aber es ging mir bei der Geschichte auch um diesen Gegensatz von Sport und Kunst: Entweder ist man der sportliche, nicht so intelligente Typ, oder man ist der clevere Kunsttyp. Das hat mir schon immer zu schaffen gemacht. Ich war schon immer gut in Sport, aber ich habe mich auch immer für Kunst interessiert. Und die Kunstlehrer in der Schule waren misstrauisch, weil ich auch im Basketballteam war. Später habe ich geboxt, und auch da wurde ich misstrauisch beäugt, weil ich Bücher geschrieben habe. Ich glaube, Leute die gebildet sind und Sport machen, brauchen keine Selbsthilfeliteratur und keinen Therapeuten. Wenn man sich nur auf einen Bereich beschränkt, leugnet man einen essenziellen Teil seiner menschlichen Natur.
    Schneider: Was gefällt Ihnen an Amerika? Sie leben schon eine ganze Weile in Chicago.
    "In Europa gibt es so viel Kultur"
    Welsh: Ja, seit sechs Jahren. Vorher bin ich zwischen London, Dublin, Chicago und Miami gependelt und war nur ein paar Monate im Jahr in den USA. Meine Frau ist Amerikanerin, insofern war das keine ganz freiwillige Entscheidung. Immer, wenn ich zurück nach Europa komme, kommt mir Amerika ziemlich stumpf vor. In Europa gibt es so viel Kultur, es gibt einfach mehr Tiefsinn, mehr Ironie. Das findet man in den USA auch, aber man muss es schon suchen. Was mir gut gefällt, ist dass die Amerikaner sehr offen und ehrlich sind. Und das Interessante ist: Amerikaner scheinen oft einen ziemlich beschränkten Horizont zu haben. Aber sobald sie mal über den Tellerrand schauen, sind sie wahnsinnig enthusiastisch und neugierig.
    Schneider: "Das Sexleben siamesischer Zwillinge" ist Ihr erster Roman, in dem nur Amerikaner vorkommen. Sind Sie jetzt endgültig in den USA angekommen? Oder schreiben Sie jetzt sogar vor allem für ein amerikanisches Publikum?
    Welsh: Nein, das liegt nur am Thema. In Großbritannien erscheint gerade ein neuer Roman von mir, der wieder in Edinburgh spielt. Mich fasziniert Miami ganz besonders, mein Roman "Crime" spielte auch schon dort ...
    Schneider: ...in dem es aber um einen schottischen Privatdetektiv geht.
    Welsh: Ja, das war ein Schotte. Ich finde Miami so faszinierend, weil dort so viele Einwanderer ankommen, es ist quasi das neue Ellis Island, die Leute kommen aus der Karibik, aus Süd- und Mittelamerika. Das gibt der Stadt etwas Wildes, Verrücktes. Aber Miami ist auch ein tropisches Paradies. Eine faszinierende Stadt, und ein guter Ort zum Schreiben.
    Schneider: Sie haben das Buch dort geschrieben?
    Welsh: Ja, den größten Teil.
    Schneider: Sie sind berühmt geworden als Autor, der über Drogen schreibt. Ist "Das Sexleben siamesischer Zwillinge" auch ein Buch über Drogen? Es handelt jedenfalls von Abhängigen.
    Welsh: Es handelt von Zwängen. Ich bin ja inzwischen der Meinung: Wenn man schon von etwas abhängig ist, dann sollte es wenigstens etwas sein, das einem guttut. Lucy ist besessen von Fitnesstraining, und wenn sie einen Tag nicht im Studio ist, fühlt sie sich beschissen. Das bestimmt ihr ganzes Leben. Insofern hat sie etwas von einem Junkie: Sie muss auf ihre Trainingsmaschinen, sie braucht den Endorphinrausch, um durch den Tag zu kommen, durch die Woche. Wir leben in einer Kultur, die uns in unseren Obsessionen bestärkt. Denn die Obsessionen werden vom Kapitalismus hervorgebracht, mit ihnen verkauft man Produkte. So lange wir in einer Welt des Konsums leben, werden wir nach Dingen süchtig sein.
    Schneider: Ihre Obsession ist wahrscheinlich das Schreiben, Sie haben sich selbst mal als "Binge Writer" bezeichnet, abgeleitet vom "Binge Drinker", dem Komasäufer.
    "Wenn ich schreibe, finde ich kein Ende"
    Welsh: Ja, absolut. Wenn ich schreibe, finde ich kein Ende, bis meine Augen stechen und mein Kopf dröhnt. Oder bis meine Frau mir sagt, dass ich duschen und frische Klamotten anziehen muss, weil wir Besuch bekommen. Dass ich mich mit ihm unterhalten und mich mal kurz von meinen imaginären Freunden verabschieden soll. Aber eine Sache habe ich gelernt: Ich gehe morgens in den Fitnessraum, das hilft mir wirklich. Ich schreibe früh, mache dann ein paar Übungen, und setze mich am Nachmittag noch mal an den Schreibtisch.
    Schneider: Sie brauchen also inzwischen keine Drogen mehr für die Inspiration?
    Welsh: Ach, ich finde Drogen haben gar nicht so viel mit Kreativität zu tun, wie immer behauptet wird. Das Interessanteste daran sind die Leute, die man trifft, weil man beim Drogenkauf meistens mit einer Subkultur in Berührung kommt. Die Droge an sich hat viel mehr mit Spaß als mit Kreativität zu tun.
    Schneider: Trotzdem die Frage: Was ist die beste Droge der Welt? Sagen Sie jetzt bitte nicht Liebe.
    Welsh: Im Leben und bei den Drogen geht es doch vor allem um eine Balance aus verschiedenen Faktoren, um die richtige Mischung. Die beste Droge müsste also ein Cocktail aus verschiedenen Drogen sein – der natürlich auf verschiedene Lebensumstände abgestimmt sein müsste.
    Irvine Welsh: "Das Sexleben siamesicher Zwillinge." Aus dem Englischen von Stephan Glietsch.
    Heyne Hardcore, 2015, 448 Seiten, 21,99 Euro.