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IS im Irak
Tragödie der Jesiden geht weiter

Vor einem Jahr begann die Terrormiliz IS mit ihren Angriffen auf die Jesiden im Nordirak. Etwa 2.000 Jesiden wurden damals getötet und in Massengräber geworfen. Jetzt wurden sie an einem anderen Ort würdevoll erneut bestattet. Doch für die Jesiden ist der Kampf gegen den IS noch lange nicht vorbei.

Von Martin Zagatta |
    Eine jesidische Frau stützt in einem Flüchtlingscamp im Nordirak den Kopf auf die Hand
    Etwa 400.000 Jesiden sind im Nordirak vor der Terrorgruppe IS geflohen. (AFP / Ahmad Al-Rubaye)
    Eine schlicht gehaltene Trauerfeier, auch wenn es 68 Särge sind, alle in kurdische Fahnen gehüllt, die da nun in der kargen Berglandschaft nebeneinander stehen. Hier bei Mazar Sharaf al-Din im Nordirak nahe der syrischen Grenze werden Menschen beigesetzt, Jesiden, die schon vor einem Jahr getötet und in Massengräbern geworfen wurden. Ihnen soll nun ein würdevoller Abschied bereitet werden, begleitet von Angehörigen und Nachbarn, die das Morden damals miterlebt haben.
    "Die vom Islamischen Staat haben uns angegriffen als wir gerade in die Berge fliehen wollten. Ich wurde entführt, habe aber noch gesehen, wie sie die Menschen getötet haben, die Männer und die älteren Frauen", so erzählt die 17-jährige Sahire. Sie ist wie tausende jesidische Mädchen und Frauen von den Dschihadisten verschleppt und versklavt wurden, bevor ihr Monate später die Flucht gelungen ist.
    Hinterbliebene bekommen Orte für ihre Trauer
    Geschätzt 2.000 Jesiden wurden umgebracht als die Terrormiliz im August vergangenen Jahres ihren Angriff auf die religiöse Minderheit begann. Mit den Gräbern im Sindschar-Gebirge bekommen die Hinterbliebenen nun zumindest Orte für ihre Trauer. Und Tränen fließen auch weiter östlich, im Flüchtlingslager Kadia bei Dohuk. Doch hier sind es Freudentränen, als eine Mutter ihre jetzt 13-jährige Tochter wieder in die Arme schließen kann. Sie habe nicht mehr daran geglaubt, ihre Tochter je wiederzusehen.
    Die Frau gehört zu den 400.000 Jesiden, die vor dem IS geflohen sind, die meisten in das autonome Kurdengebiet. In Lagern wie bei Dohuk, hoffen sie darauf, dass mehr als 3000 Mädchen und Frauen doch noch zurückkehren, die noch immer in der Gewalt des Islamisten sein sollen.
    Vor einem Monat hat man ihr erlaubt, einen Brief an ihre Mutter zu schreiben, um mitzuteilen, dass sie nach Hause kommen könne, erzählt die gerade freigelassene 13-Jährige. Ein Mann, in dessen Gewalt sie die letzten beiden Monate war, habe sie gehen lassen. Sie sei so froh gewesen, als plötzlich ihr Onkel aufgetaucht ist.
    Onkel zahlt 16.000 Dollar für Nichte
    Ihr Onkel hat über Mittelsmänner der Islamisten Kontakt zu dem Mann aufnehmen können, an den seine Nichte weiterverkauft worden war. Von ihm hat er sie, ohne ihn je zu Gesicht zu bekommen, freigekauft. Für 16.000 Dollar, sagt er, die die von Hilfsleistungen und Gelegenheitsarbeiten lebende Familie irgendwie zusammenbekommen hat.
    "Diese 16 000 Dollar, um die Kleine freizukaufen, die habe ich ganz alleine aufgetrieben", so der Onkel. "Aber wenn die kurdischen Behörden mir jetzt nicht helfen, wenn ich keinen wohltätigen Menschen finde, der mich dabei unterstützt, dann werde ich dafür wohl bis an mein Lebensende arbeiten müssen und die Schulden vielleicht nie zurückzahlen können."
    IS-Handbuch zum Umgang mit Sklavinnen
    Kein Einzelfall - und die Mädchen und Frauen, denen es gelungen ist, ihren Peinigern zu entkommen oder die freigekauft wurden, erzählen Schreckliches. Die Führung des Islamischen Staates hat sogar Anweisungen herausgegeben zum Umgang mit den - wie sie sie nennen - Sklavinnen, ein Schriftstück, das es erlauben soll, die Frauen zu misshandeln und schon Kinder zu vergewaltigen. Horrorgeschichten, die erst recht dazu führen, dass die jungen Jesiden sich am Kampf gegen die Islamisten beteiligen wollen, dass sich viele von ihnen den Peschmerga anschließen, der Armee der irakischen Kurden.
    "Sie haben meinen Onkel entführt und meinen Cousin ermordet, vor meinen Augen. Ich will jetzt unsere Ehre wiederherstellen", sagt eine junge Jesidin dem kurdischen Sender Rudaw. "Ich weiß, dass ich getötet werden kann. Aber meine ganze Familie freut sich, dass ich jetzt bei den Peschmerga bin. Hätten wir im vergangen Jahr Waffen gehabt und sie bedienen können, dann wäre es nie zu dieser Tragödie gekommen."
    Mittlerweile kämpfen hunderte Frauen für Peschmerga
    Die kurdischen Truppen haben mittlerweile eine Einheit im Einsatz, die aus 400 jesidischen Frauen besteht. Und in den Reihen der Peschmerga kämpfen tausende Jesiden an vorderster Front. Ihnen ist es kürzlich im Grenzgebiet zu Syrien auch gelungen, eine strategisch ungemein wichtige Anhöhe einzunehmen, von der aus sie die Straße kontrollieren können, die von Mosul, dem Hauptquartier des IS im Irak, nach Raqqa führt, in die Hauptstadt der Islamisten in Syrien.
    "Den jesidischen Peschmerga ist es zu verdanken, dass wir bis hierher vorrücken konnten. Das ist jetzt unser wichtigster Stützpunkt in der ganzen Region", sagt ein Peschmerga-Kommandant. Die Jesiden seien besonders motiviert und hätten auch schon mehrere Gegenangriffe des IS zurückgeschlagen.
    Hoffnung auf Frieden bleibt
    Der Kurdenpräsident Barzani hat versprochen, die Sindschar-Region schnellstmöglich zurückzuerobern. Das ist den Jesiden aber ein schwacher Trost, die ihre Toten allenfalls in den nahegelegenen Bergen begraben können. "Ich will, dass alle Jesiden freikommen, dass Sindschar befreit wird und dass wir endlich wieder nach Hause können", sagt die 17-jährige Sahire.
    Und sie will die Hoffnung nicht aufgeben, dass sie vier ihrer Geschwister, die seit einem Jahr verschwunden sind, dass sie ihren Bruder und ihre drei Schwestern doch noch wiedersehen wird.