Nicht alle europäischen Dschihadisten, die auf Seiten der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) kämpfen, hätten eine gescheiterte Integrationsgeschichte in ihren Heimatländern aufzuweisen, sagte der Politologe Peter Neumann im Interview mit dem Deutschlandfunk. Viele der meist jungen Männer zwischen 16 und 25 Jahren seien auf der Suche nach ihrer Identität. "Dann treffen sie auf die falschen Menschen mit den falschen Antworten", sagte der Politologe.
Vor allem glaubten die jungen Männer der IS-Propaganda, sie würden mit dem Aufbau eines Kalifats an einem historischen Projekt mitwirken, das die Weltgeschichte nachhaltig beeinflussen könnte.
Alle Dschihadisten, die nach Europa zurückkommen, seien psychologisch geschädigt. "Doch Studien belegen, dass nur einer von neun Rückkehrern terroristisch aktiv wird", sagte Neumann. Dennoch dürfe man die Gefahr nicht unterschätzen: "Wenn nicht morgen, so muss Europa doch in ein paar Jahren mit islamistischen Terroranschlägen rechnen."
Das vollständige Interview zum Nachlesen:
Christine Heuer: In London begrüße ich am Telefon den Politologen Professor Peter Neumann. Der deutsche Terrorismusforscher lehrt am King's College in der britischen Hauptstadt. Er leitet dort das Internationale Zentrum zur Erforschung von Radikalisierung und politischer Gewalt. Homegrown Terrorism, islamistischer Terror aus dem und im eigenen Land, ist dabei einer seiner Schwerpunkte. Guten Morgen, Herr Neumann!
Peter Neumann: Guten Morgen!
Heuer: Etwa 2500 IS-Dschihadisten, so wird geschätzt, stammen aus Europa. Warum gehen die dahin, nach Syrien und in den Irak?
Neumann: Es gibt verschiedene Gründe. Zum einen gibt es den persönlichen Appeal, der besonders junge Männer anspricht. Da geht es um Abenteuer, Brüderschaft, ums Kämpfen, den sogenannten Fünf-Sterne-Dschihad, dass man dort hingeht und eine gute Zeit hat. Aber es gibt natürlich auch ernsthaftere Motivationen. Da geht es um einen vermeintlichen Genozid, der verübt wird an den Sunniten in Syrien vor allem, aber auch im Irak. Und die Tatsache, dass man die eigenen sunnitischen Brüder und Schwestern verteidigen müsste. So wird gesagt. Da geht es darum, dass man den Islamischen Staat aufbauen kann, ein historisches Projekt. Leute in 1000 Jahren werden davon sprechen, wie die jungen Leute aus dem Westen das Kalifat aufgebaut haben. Und da geht es natürlich jetzt seit Kurzem auch darum, den Westen zu bekämpfen. Es ist eine Mischung von Motivationen, die dazu führen, dass eben junge Leute aus dem Westen sich angesprochen fühlen.
Heuer: Wenn Sie einen typischen West-Dschihadisten beschreiben sollten, wie würden Sie das tun? Was sind das für Charaktere?
Neumann: Das ist sehr schwierig. Es ist eine ganze Mischung. Wir haben eine Data Base, die mittlerweile aus 450 Profilen besteht von Leuten, die in Syrien sind und im Irak und die nach wie vor in den sozialen Medien aktiv sind. Es gibt da keinen gemeinsamen Nenner. Es gibt durchaus Leute, die aus problematischen Verhältnissen kommen, sozioökonomisch gesehen. Aber es gibt auch Leute, die ganz gute Aussichten hatten in ihren Heimatländern. Natürlich sind die meisten Männer, natürlich sind die meisten, sage ich mal, in ihren 20ern. Aber im Vergleich jetzt zu Extremisten von vor zehn oder 15 Jahren sieht man durchaus eine größere Bandbreite. Man sieht zum Beispiel viele Frauen, viele im Vergleich zu vor zehn oder 15 Jahren. Das bedeutet vielleicht zehn Prozent. Man sieht sehr viele junge, ganz junge Dschihadisten, 16-, 17-jährige. Das ist auch neu. Man sieht eine größere Mischung, eine größere Bandbreite, auch viele Konvertiten. Es ist nicht mehr nur der eine Typ.
Heuer: Diese Männer und, wie wir jetzt lernen, auch Frauen, die sind hier im Westen in unseren westlichen Gesellschaften aufgewachsen. Warum hassen sie unsere Werte so?
Über Peter Neumann
Geboren 1974. Vor seiner wissenschaftlichen Karriere war Neumann Radiojournalist in Deutschland. Er schloss sein Studium der Politikwissenschaften an der freien Universität in Berlin ab und promovierte dann im Anschluss am Kings College in London, Großbritannien. Heute ist er dort Professor für Sicherheitsstudien am War Studies Department und Direktor des Internationalen Zentrums zur Erforschung von Radikalisierung und politischer Gewalt (ICSR), welches er 2008 gründete.
Geboren 1974. Vor seiner wissenschaftlichen Karriere war Neumann Radiojournalist in Deutschland. Er schloss sein Studium der Politikwissenschaften an der freien Universität in Berlin ab und promovierte dann im Anschluss am Kings College in London, Großbritannien. Heute ist er dort Professor für Sicherheitsstudien am War Studies Department und Direktor des Internationalen Zentrums zur Erforschung von Radikalisierung und politischer Gewalt (ICSR), welches er 2008 gründete.
Neumann: Das ist im Prinzip die gleiche Situation, die wir gesehen haben mit Homegrown-Extremisten vor zehn oder 15 Jahren. Die Frage ist nicht so sehr, warum hassen sie die westliche Gesellschaft, sondern warum fühlen sie sich nicht zuhause hier. Und natürlich haben all diese Leute irgendwann eine Krise gehabt, haben sich gefragt, wo gehöre ich hin. Und die Antwort kam dann eben nicht, nach Deutschland, nach Großbritannien oder nach Frankreich; die Antwort kam dann, ich weiß es nicht, ich fühle mich hier nicht zuhause. Ich fühle mich nicht unbedingt zuhause dort, wo meine Eltern oder meine Großeltern herkommen. Das ist nicht unbedingt immer ein westliches Land, wo gehöre ich hin. Und dann beginnt das Suchen und wenn sie dann im falschen Moment in die falschen Hände geraten, mit einem Menschen, der die falsche Antwort bereithält, dann sind sie eben ganz schnell Islamisten.
Heuer: Das sind gescheiterte Integrationsgeschichten. Andererseits gibt es ja auch die These, der Westen sei zu tolerant zum Beispiel gegenüber Hasspredigern, die ja keineswegs regelmäßig ausgewiesen werden. Stimmen Sie da zu, Herr Neumann?
Neumann: Zum Teil. Es stimmt schon, dass es zum Teil gescheiterte Integrationsgeschichten sind. Aber zum anderen geht es auch darum, dass man ganz normale Prozesse hat, Leute, die zum Beispiel 18, 19, 20 Jahre alt sind und sich einfach fragen, was ist los mit meinem Leben, wo gehöre ich hin, was ist meine Identität. Das ist auch für Leute, die gut integriert sind, im Prinzip eine ganz normale Frage. Und mit den Hasspredigern ist es so, dass die natürlich aktiv sind. Aber die sind ja nicht nur auf der Straße aktiv; die sind zum Beispiel auch im Internet aktiv. Und da bringt dann das Ausweisen nichts. Es ist schon wichtig, dass man deren Tätigkeit einschränkt, aber das ist im Zeitalter des Internets eben sehr viel schwieriger geworden.
Heuer: Jetzt gehen diese Menschen aus Westeuropa in den Irak, nach Syrien. Welche Rolle spielen diese West-Dschihadisten dann für den Islamischen Staat? Werden die geholt, um sie dann als Attentäter nach Europa zurückzuschicken?
Neumann: Nein. Die Rolle, die sie spielen, ist erst mal direkt im Islamischen Staat. Deswegen ist der Islamische Staat an ihnen interessiert. Die ganze Propaganda zielt darauf ab, die Leute in den Islamischen Staat zu bekommen. Sie spielen dort dreierlei Rolle. Zum einen, wenn sie eine bestimmte Qualifikation oder Fähigkeit haben. Sagen wir mal, wenn jetzt ein Dschihadist ein Mechaniker in Deutschland war, dann ist das etwas, was auch dem Islamischen Staat von Nutzen ist. Zum anderen werden sie natürlich benutzt, um diese Propaganda zu entwickeln und sich direkt an Westler zu wenden. Das heißt, die gesamte westliche Propaganda des Islamischen Staates ist natürlich von diesen Auslandskämpfern produziert. Und zum dritten, wenn sie weder für das erste, noch für das zweite von Nutzen sind, dann werden sie natürlich für besonders brutale Attacken verwendet, für Folter, für Selbstmordanschläge, für Enthauptungen. Und das ist meiner Meinung nach genau das Problematische an diesen Auslandskämpfern. Das heißt, sie machen diesen Konflikt schlimmer. Sie machen diesen Konflikt sektiererischer. Sie machen diesen Konflikt brutaler und deswegen haben sie einen sehr, sehr negativen Einfluss auf den Konflikt.
Heuer: Herr Neumann, aber wie kann das sein? Das sind ja Menschen, die sind in westlichen Demokratien groß geworden. Warum sind ausgerechnet die so brutal?
Neumann: Das hängt damit zusammen, dass natürlich diese Leute häufig die am ideologischsten, am ideologisch ´motiviertesten sind. Viele Syrer zum Beispiel verweigern die Beteiligung an diesen sehr brutalen Aktionen, weil sie sagen, das hat mit uns nichts zu tun, das hat mit unserem Islam, wie wir ihn praktiziert haben, nichts zu tun. Das wissen die Westler aber nicht. Denen wird gesagt, das ist hier so üblich. Zum anderen sind sie natürlich ganz auf diese Gruppen angewiesen. Die meisten Deutschen zum Beispiel sprechen ja kein Arabisch. Die wissen überhaupt nicht, wo sie sind. Die kommen dann also runter nach Syrien, sind total auf diese Gruppen angewiesen, sind sehr gefügig und auch sehr ideologisch motiviert. Das heißt, die sind eben bereit, und in vielen Fällen müssen sie einfach diese Aktionen ausüben, weil sie die Syrer verweigern.
Neumann: Und wenn diese Menschen dann zurückkommen nach Westeuropa, ist es nur eine Frage der Zeit, bis wir dann wieder hier schwere islamistische Anschläge erleben?
Neumann: Ja. Einige dieser Leute, die zurückkommen – es kommen nicht alle zurück, aber diejenigen, die zurückkommen, einige davon sind sicher psychologisch geschädigt, ganz unabhängig von der terroristischen Motivation. Und von denen, die terroristisch motiviert sind, ungefähr einer in neun laut Studien, die durchgeführt wurden, von Thomas Heckermann und anderen, werden terroristisch aktiv. Einer von neun Auslandskämpfern, die zurückkommen, werden terroristisch bekannt. Das ist eine relativ kleine Zahl, aber es ist doch eine bedeutende Zahl, wenn man sich vorstellt, wie viele Westler nach Syrien gegangen sind. Das ist so ungefähr die Dimension, mit der wir rechnen müssen, wenn die Historie ein Präzedenzfall ist.
Heuer: Herr Neumann, ich höre daraus, Sie rechnen tatsächlich bald mit neuen Anschlägen?
Neumann: Nein! Doch, ja! Natürlich! Es geht vor allem darum, sich bewusst zu sein, dass hier wirklich, genauso wie in Afghanistan in den 80er-Jahren, im Prinzip ein neues Netzwerk entsteht. Und genauso wie Afghanistan in den 80er-Jahren irgendwann dann 15 Jahre später zum 11. September 2001 geführt hat, so glaube ich, dass ganz bestimmt aus diesen Konflikten in Syrien und im Irak Terrorismus herauskommen wird. Vielleicht nicht morgen, aber in den nächsten Jahren.
Heuer: Peter Neumann, Terrorismusforscher am Londoner King's College. Danke für das Gespräch.
Neumann: Danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.